Israel-Krieg an deutschen Schulen: Der muslimische Schüler als Verdachtsfall

Seite 3: Flucht-, Vertreibungs- und Migrationsgeschichten nicht ignorieren

Das Ignorieren von Flucht-, Vertreibungs- und Migrationsgeschichten auf palästinensischer Seite zugunsten einer scheinbar erwünschten proisraelischen Unterrichtsgestaltung wirkt kontraproduktiv und verstärkt das oft vorpolitische Unrechtsbewusstsein der von diesem Schweigen betroffenen Schüler.

Ein solches Ignorieren migrantischer Perspektiven mag der deutschen Staatsräson folgen, sie dementiert allerdings die didaktische Selbstverpflichtung zu Multiperspektivität.

Im Grunde merken Schüler auch sehr genau, wenn der Unterrichtsstil des Lehrers beim Thema Holocaust plötzlich in eine anachronistische Betroffenheitspädagogik kippt, während Unterrichtsfelder wie der deutsche Kolonialismus oder gar der Israel-Palästina-Konflikt eher pflichtschuldig mit einer Statistik, zwei Quellen und etwas Kartenarbeit abgehandelt wurden.

In meiner eigenen Unterrichtspraxis bemühe ich mich, durch eine offene, empathische und interessierte Unterrichtsgestaltung Erkenntnisprozesse anzustoßen. Konfrontation, Irritation, klare Ansagen gehören immer dazu.

Während des letzten Gaza-Konflikts präsentierte ich Fotografien von linken Juden in Berlin, die sich auf Demonstrationen mit einschlägigen Plakaten gegen die Besatzungspraxis Israels positionierten. Sie lösten bei einigen Schülern, nicht in erster Linien migratischen, eine produktive Irritation aus: "Hä, Juden gegen Israel?"

Die Irritation war Anlass für eine breitere Diskussion, an deren Ende identitätsstiftende und damit auch antisemitische Inszenierungen von "Israel", "Juden", "Israelis", "Zionisten" zumindest ein Stück weit erodiert waren.

Auf einem anderen Bild, das eine Unterrichtsstunde eröffnete, zeigte ich eine Muslima mit einem Plakat, das der israelischen Armee Nazi-Methoden vorwarf.

Zunächst waren einige, vor allem türkische Schülerinnen und Schüler von der Aussage des Plakats überzeugt. Aber ich werde nie vergessen, wie am Ende der folgenden Unterrichtseinheit, in der es um die nationalsozialistischen Konzentrationslager und die nationalsozialistische Vernichtungspolitik ging, einer der Schüler zu mir sagte: "Stimmt, das kann man nicht vergleichen."

Wäre ich in einem Geschichtsseminar gewesen, hätte ich geantwortet: "Vergleichen kann man alles, nur gleichsetzen ist falsch."

Aber ich ließ es so stehen. Schließlich hatte der Schüler die Besonderheit der deutschen Vernichtungspolitik erkannt.

Sicherlich gibt es im Schulalltag auch frustrierende Erlebnisse, eine Schülerin aus einem rechtsextremen Graue-Wölfe-Elternhaus war in ihrer kategorischen Ablehnung der Kurden ebenso wie in ihrer antijüdischen Haltung kaum zu erreichen oder zu korrigieren.

Das zeigt, dass die Familie manchmal stärker ist als die Schule. Das kann bei einem Lehrer Trauer über die Ohnmacht auslösen, aber Wut wäre unangemessen und unprofessionell.

Vor diesem Hintergrund torpedieren schulpolitische Entscheidungen des Berliner Senats jede Form von Unterricht und Lehrer-Schüler-Begegnung, die den Anforderungen eines multikulturellen und migrantischen Schulalltags entspricht.

Am 13. Oktober erhielten alle Berliner Schulleitungen, Schulämter und Schulaufsichtsbehörden ein Schreiben der Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) mit dem Titel: "Umgang mit Störungen des Schulfriedens im Kontext des Terroranschlages in Israel".

Schulleitungen und Lehrkräfte sind nun aufgefordert, alle "Symbole, Gesten und Meinungsäußerungen" zu verbieten, die "noch nicht die Grenze zur Strafbarkeit erreicht haben".

Darunter fallen unter anderem das "sichtbare Tragen einschlägiger Kleidungsstücke" wie der Kufiya, der traditionellen arabischen Kopfbedeckung, oder auch Aufkleber mit der Aufschrift "Free Palestine".

Lehrer werden zudem aufgefordert, "im Verdachtsfall" ihre Schüler "unverzüglich" bei der Polizei anzuzeigen.

Auf kontroverse gesellschaftliche Fragen soll also nicht pädagogisch, sondern repressiv reagiert werden.

Eine ganze Schülerschaft wird unter Generalverdacht gestellt.

Bislang galt es als besonderer Witz, dass vor allem der kleine Kreis der sich aus der radikalen Linken entwickelnden "antideutschen Szene" Anfang der Nullerjahre das "Palästinensertuch" als Zeichen des Antisemitismus markierte und aus den Szenelokalen verbannte. Nun ist es Teil der höchsten Schulpolitik in Berlin geworden.

Ob es damit zusammenhängt, dass der derzeitige Berliner Antisemitismusbeauftragte Samuel Salzborn aus dieser antideutschen Szene stammt und in Publikationen gezeigt hat, dass er der muslimisch-arabischen Welt in toto Antisemitismus unterstellt sowie den Israel-Palästina-Konflikt recht einseitig behandelt?

Die ohnehin überforderte Lehrerschaft braucht von der Politik keine kontraproduktiven Vorgaben, die nur ein Kulturkampfszenario schüren und damit den "Schulfrieden", der einen produktiven, kritischen und kontroversen Unterricht ermöglichen soll, tatsächlich stören.

Meron Mendel von der Bildungsstätte Anne Frank ist Recht zu geben, wenn er in einem Interview mit der Zeit sagt: "Die meisten Lehrer sind mit all den anderen Aufgaben, die sie haben, mehr als ausgelastet. Sie warten darauf, dass sich die Konflikte legen, dass man wieder zur Tagesordnung übergehen kann."

Doch das soll nicht das letzte Wort sein. Gefragt sind interessierte, antisemitismus- und rassismussensible Lehrkräfte, die einen empathischen Unterrichtsstil pflegen können, in dem falsches Moralisieren, Einseitigkeiten und Vorverurteilungen einer ganzen Schülergruppe keinen Platz haben.

Eine zu Kritik fähige, also über Unterscheidungsvermögen verfügende Lehrerschaft müsste auch Judenhass und Antisemitismus von der Wut auf einen kriegsführenden Staat unterscheiden können. Für eine solche Differenzierung verdunkelt der Begriff des "israelgezogenen Antisemitismus" mehr als dass er aufklärerisch wirken würde.

Verheerend ist es, wenn uninformierte und vorurteilsbehaftete Lehrer deutschen Antisemitismus auf ihre migrantischen Schüler projizieren.

Menschenrechte sind unteilbar. Meinungsfreiheit, besonders von Minderjährigen, ein hohes Gut. Die aktuellen schulpolitischen Vorgaben des Berliner Senats weisen in eine andere, katastrophale Richtung.