Ist Wladimir Putin wirklich ein Faschist, wie er im Lehrbuch steht?
Seite 4: Der US-Politologe Alexander Motyl
Nach eigenen Angaben hatte Inosemzew nach der Angliederung der Krim an Russland damit begonnen, in der "freien russischen Presse" über den vermeintlichen russischen Faschismus zu schreiben. Doch in Fachkreisen blitzte er damals offenbar noch ab, wie er schreibt; die Historikerin Marlène Laruelle (George Washington University) hatte ihn wohl damals dafür "verurteilt".
Inosemzew verweist nun in seinem Beitrag unter anderem auf den US-amerikanischen Politologen Alexander Motyl. Dieser habe ebenfalls "kurz nach der russischen Annexion der Krim" damit begonnen, Russland als faschistisch darzustellen, blieb aber in Fachkreise auch weitgehend isoliert. Dennoch folgte Inosemzew damals diesem Ansatz.
Tatsächlich erschien bereits im Jahr 2009 in der Zeitschrift "Osteuropa" ein Aufsatz von Motyl, in dem er behauptete: "Russland ist unter Vladimir Putin zu einem faschistoiden, wenn nicht faschistischen Staat geworden". Vor dem Regierungsantritt Putins sei Russland auf dem Weg zur Demokratie gewesen – mit ihm an der Spitze ging es dagegen Schritt für Schritt in Richtung Faschismus.
Dass Motyl damals noch in Fachkreisen isoliert blieb, hat seinen Grund: Ihm wurde, ebenfalls in der Zeitschrift "Osteuropa" vorgeworfen, "Mythenbildung ohne Ende" zu betreiben.
Doch Motyls Beitrag hat mit Wissenschaft wenig zu tun. Er weist zahlreiche Widersprüche und logische Lücken auf und legt die Vermutung nahe, dass der Autor sich eher einer politischen Meinung als der Wahrheitssuche verpflichtet sieht.
Aleksej Sindeev, Osteuropa 5/2009
Dieses harte Urteil machte Motyls wissenschaftlicher Reputation keinen Abbruch: Auf der Internetseite "Academic Influence" wurde Motyl zu einem der zehn einflussreichsten Politikwissenschaftler gekürt.
Motyl ist ein US-amerikanischer Historiker und lehrt an der Rutgers University. Er hat Wurzeln in der Ukraine, und darauf basiert wohl auch sein Interesse an den Entwicklungen in Russland und der Ukraine. Als Autor begleitete er die sogenannte Orangene Revolution und den Maidan-Umsturz. Auch zum Konflikt im Donbass äußerte er sich immer wieder.
In seinem Aufsatz aus dem Jahre 2009 beschränkt sich Motyl auch auf äußere Faktoren des Faschismus. Und er zeichnet ein schräges Bild, denn manches führt er an – aber es will nicht recht zu Russland passen.
Die Regierungspartei "Einiges Russland" sei keine Kaderpartei, wie die der faschistischen Bewegung, sondern sie bestehe aus "Trittbrettfahrern und Karrieristen". Man könnte sagen: Das entspricht dem Bild vieler Parteien – auch in Demokratien.
Der russische Staat stütze sich nicht auf eine "ähnlich kohärente Ideologie wie die Sowjetunion, das faschistische Italien oder das nationalsozialistische Deutschland". Aber die wichtigsten ideologischen Strömungen überhöhten den russischen Staat und das russische Volk.
Im Gegensatz zu Hitler oder Mussolini gebe sich Putin "vielmehr cool und gesammelt". Der Inhalt der Reden drehe sich aber auch "um die Größe des Staates". Der russische Staat gehe unter Putin auch nicht so weit wie das faschistische Italien oder Nazi-Deutschland: Zwar würden russische Überlegenheitsgefühle toleriert, Ethnozentrismus und Rassismus gehörten aber nicht zum Kernbestand der offiziellen Ideologie.
Eine Gemeinsamkeit zwischen Putin und Mussolini findet Motyl dann aber doch: Beide bevorzugten "elegante schwarze Kleidung, die den Eindruck von Strenge und Seriosität erweckt". Beide ließen sich gern mit Kriegsgerät ablichten. So hätte sich Putin mit freiem Oberkörper und Gewehr beim Durchqueren eines Flusses ablichten lassen – um die weibliche Wählerschaft anzusprechen.
Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Hitler, Mussolini und Putin sei: der enorme Rückhalt in der Bevölkerung. Putin habe – zumindest dem Anschein nach – Recht, Ordnung und Stabilität im Land wiederhergestellt. Noch wichtiger sei aber, dass Putin den Russen wieder den Stolz auf ihr Land und ihre Geschichte gegeben habe.
Nach diesen Merkmalen zu urteilen, so Motyl, habe Russland unter Putin zumindest ein faschistoides System, aus dem ein gefestigter Faschismus entstehen könne.
Viele Worte muss man dazu wohl nicht mehr verlieren. In der Kritik an Motyls Aufsatz heißt es denn auch, enttäuschend sei der Beitrag unter anderem deshalb, weil der Leser "nicht weiß, was der Autor frei erfunden hat, und was auf wissenschaftlicher Arbeit gründet".
Motyls Aufsatz sei mehr von Problemen und Ängsten des Westens bestimmt als von der Wirklichkeit in Russland, schrieb Sindeev. Sein Ansatz habe mit Wissenschaft wenig zu tun, er sei "vielmehr eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln".
Um Stimmung gegen Russland zu machen, taugt Motyls Werk aber allemal.