Ist Wladimir Putin wirklich ein Faschist, wie er im Lehrbuch steht?

Bild Wladimir Putin: kremlin.ru / CC-BY-4.0 / Grafik: TP

Der Vorwurf hat in deutschsprachigen Medien Konjunktur. Doch es wird kaum gefragt, was dran ist und wer die Leute sind, die ihn in die Welt setzen

Der Krieg in der Ukraine garantiert Russland die mediale Aufmerksamkeit und sein politisches System wird von vielen vermeintlichen und tatsächlichen Experten analysiert. Es scheint inzwischen en vogue zu sein, Russland des Faschismus zu bezichtigen und dessen Präsidenten Wladimir Putin als Wiedergänger von Adolf Hitler oder Benito Mussolini darzustellen.

Es gibt kaum ein Medium im deutschsprachigen Raum, das sich nicht an der Diskussion beteiligt hätte. Der Spiegel hatte es im Programm, die Frankfurter Allgemeine Zeitung diskutierte diese Thesen, die Neue Zürcher Zeitung brachte mehrere Artikel dazu und selbst im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wird dieses Narrativ verbreitet.

Kürzlich beteiligte sich auch das Handelsblatt an der Diskussion. Dort durfte Christian Rickens zum Besten geben, dass Russland unter seinem Präsidenten Wladimir Putin faschistisch sei, dass Putin aber keineswegs ein Nazi sei.

Die Diskussion hat einiges Bemerkenswertes. Sie scheint einer gewissen Konjunktur zu folgen. Mit einer Google-Suche lässt sich leicht nachprüfen, dass die Diskussion schon einmal im Jahre 2014 in den Zeitungsspalten aufflammte, als der Bürgerkrieg in der Ukraine begann und die Krim an Russland angeschlossen wurde.

Nach ein paar Jahren der relativen Ruhe begannen die Medien, das Narrativ vom faschistischen Russland erneut zu verbreiten, nachdem es den Krieg gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen hatte. Ein Großteil der aktuellen Wortmeldungen ist nicht älter als anderthalb Monate.

Als weiterer Punkt fällt auf, dass immer wieder die gleichen Namen auftauchen, auf die Bezug genommen wird oder die sich selbst zu Wort melden. Der Historiker David X. Noack hatte kürzlich über Timothy Snyder und Anne Applebaum geschrieben, die er als "organische Intellektuelle einer transatlantischen Szene" bezeichnete.

Die Diskussion beschränkt sich freilich nicht auf diese beiden Persönlichkeiten; vor allem in den USA sind noch weitere Intellektuelle beteiligt – und man kennt sich, nimmt an denselben Veranstaltungen teil, bezieht sich inhaltlich aufeinander und engagiert sich genauso wie die anderen gegen Russland und für eine westlich orientierte Ukraine.

Ihre Artikel und Aufsätze dienen vor allem dazu, diese politischen Ziele mit scheinbar historischen Fakten zu untermauern – wenn man sich überhaupt so viel Mühe gibt. Denn die verwendeten Begriffe sind vage und verschwommen gehalten, so dass sie zwar gut klingen, aber ohne greifbaren Inhalt sind.

Als Timothy Snyder zum Beispiel im Spiegel danach fragte, warum sich Deutschland so schwer damit tue, Russland faschistisch zu nennen, so sparte er es sich, zu bestimmen, was er überhaupt unter Faschismus versteht. Und wo die Merkmale des Faschismus nicht definiert werden, muss man auch nicht belegen, dass sie mit der aktuellen Situation übereinstimmen.

Faschismus und das bürgerliche Eigentum gehören zusammen

In der Vergangenheit stimmten der marxistische und liberale Diskurs darin überein, dass der Faschismus die bürgerliche Eigentumsordnung mit Gewalt schützen möchte. Dies war der zentrale Punkt des Faschismusbegriffs.

Ludwig von Mises bezeichnete es als Aufgabe des Staates, das "Sondereigentum an den Produktionsmitteln" zu schützen – wenn notwendig mit Gewalt. Vor diesem Hintergrund lobte er die italienischen Faschisten, die mit Gewalt die Sozialisierungsversuche der Arbeiterschaft abwehrten und das bürgerliche Eigentum retteten.

Es kann nicht geleugnet werden, daß der Faszismus und alle ähnlichen Diktaturbestrebungen voll von den besten Absichten sind und daß ihr Eingreifen für den Augenblick die europäische Gesittung gerettet hat. Das Verdienst, das sich der Faszismus damit erworben hat, wird in der Geschichte ewig fortleben. Doch die Politik, die im Augenblick Rettung gebracht hat, ist nicht von der Art, daß das dauernde Festhalten an ihr Erfolg versprechen könnte. Der Faszismus war ein Notbehelf des Augenblicks; ihn als mehr anzusehen, wäre ein verhängnisvoller Irrtum.

Ludwig von Mises (2000): Liberalismus, S. 45

Ähnlich argumentierte später der neoliberale Vordenker Friedrich August Hayek, der Faschismus als eine Art Übergangsdiktatur sah, um die bürgerliche Eigentumsordnung zu schützen. Und so wundert es nicht, dass führende westliche Ökonomen keine Berührungsängste mit der Pinochet-Diktatur in Chile hatten, obwohl dort willkürliche Verhaftungen, Exekutionen, systematischer Einsatz von Folter und das "Verschwindenlassen" politischer Häftlinge an der Tagesordnung waren. Schließlich wollte sich der Staat aus dem Wirtschaftsleben heraushalten.

Dieser kleine Exkurs sollte zeigen, dass auch im liberalen Denken das bürgerliche Eigentum der Kern des Ganzen ist. Das Verständnis von "Faschismus" bezog sich immer auf diese Eigentumsordnung und diese wurde immer mitgedacht.

Doch davon ist in der Diskussion über den vermeintlichen russischen Faschismus nichts mehr zu verzeichnen; sie beschränkt sich auf rein äußerliche Merkmale des Regierungsstils: Nationalismus, autoritäre Herrschaft, Drang zur militärischen Aggression oder "Geringschätzung von materieller Wohlstandsmehrung", wie es bei Rickens heißt.

Snyder markiert in der Neuen Zürcher Zeitung und in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung neun vermutliche Symptome des Faschismus‘, im Spiegel reduziert er den Faschismus auf: Sieges-, Führer- und Todeskult. Was das sein soll, wie sich diese Kulte in Russland zeigen und wie sie sich zum Beispiel von westlicher Gedenkpolitik unterscheiden, führt er nicht aus.