Ist es Zuhause bei Mama am Besten?

Eine amerikanische Langzeitstudie bei Vorschulkindern ergab, dass Kinder, die nicht von Eltern betreut werden, aggressiver sind

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Eine der größten Langzeitstudien über die Auswirkungen von Kinderfürsorge könnte an eine der Grundstrukturen der modernen Gesellschaft rühren, in der oft beide Elternteile arbeiten müssen oder wollen und Kinderfürsorge zur Regel geworden ist. Kleinkinder, die wöchentlich mehr als 30 Stunden nicht bei den Eltern sind, zeigen nach der Studie im Kindergartenalter wesentlich häufiger Verhaltensauffälligkeiten als andere Kinder.

Für die Untersuchung, die vom National Institute on Child Health and Human Development in Auftrag gegeben wurde, wurden über 1000 Kinder in 10 amerikanischen Städten ausgewählt, die aus verschiedenen sozialen Schichten stammten und unterschiedlich betreut wurden (von Verwandten oder Kindermädchen über die Vorschule bis hin zu großen Kindertagesstätten). Das Verhalten der Kinder wurde nach den Angaben der Mütter, der Betreuungspersonen und des Kindergartenpersonals beurteilt. Als Kinderfürsorge galt jede Art der Betreuung, die regelmäßig und wöchentlich mindestens für 10 Stunden durch eine andere Person als die Mutter stattfand. Die Väter scheinen hier auch schon im Ansatz bei der Betreuung kleiner Kinder keine Rolle zu spielen.

Das Ergebnis der Studie ist, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen der Zeit gibt, in der Kinder von anderen Personen als der Mutter betreut werden, und Eigenschaften wie Aggression, Trotz und Ungehorsam, was womöglich auf mangelnde Aufmerksamkeit verweisen könnte. Dieser Zusammenhang besteht offenbar unabhängig davon, aus welcher Schicht die Kinder kommen, welches Geschlecht sie besitzen oder wo sie sich befanden. Ausschlaggebend war einzig die Dauer der nicht bei den Eltern verbrachten Zeit. 17 Prozent der Kinder, die länger als 30 Stunden wöchentlich nicht von der Mutter betreut wurden, hatten Lehrer, Eltern oder Betreuer als aggressiv gegenüber anderen Kindern charakterisiert. Bei denjenigen, die nur 10 Stunden wöchentlich woanders betreut wurden, waren das nur 6 Prozent. Auch bei anderen Eigenschaften wie "nimmt oft an Raufereien teil", "Grausamkeit", "explosives Verhalten", "spricht zuviel" oder "verlangt eine Menge Aufmerksamkeit" rangierte die erste Gruppe höher.

Durchschnittlich verbrachten die untersuchten Kinder im Alter von 3 Monaten bis 4,5 Jahren in der Woche 26 Stunden bei anderen Betreuern als den Eltern. Die Wissenschaftler konnten allerdings nur diesen statistischen Zusammenhang belegen, über dei Gründe lässt sich wie so oft nur spekulieren. Nicht belegt ist überdies, ob die Verhaltenseigenschaften auch im höheren Alter anhalten, offenbar nahm der Unterschied zwischen den Gruppen im Zug der Zeit jedoch ein wenig ab.

Allerdings gibt es nicht nur Negatives, denn die Kinder, die länger nicht von den Eltern betreut werden, sind gleichzeitig auch sprachlich geschickter. Überdies ist ihr Kurzzeitgedächtnis besser ausgeprägt. Unklar ist, ob es sich um dieselben Kinder handelt, die auch problematische Verhaltensweisen zeigen, so dass man beispielsweise nicht sagen kann, dass diejenigen, die schlauer sind, sich auch aggressiver geben, oder dass sie aggressiven weniger schlau sind. In Kleinfamilien ist möglicherweise die Kommunikation nicht gerade besonders ausgeprägt, die Kinder müssen sich nicht so mit anderen auseinandersetzen, sitzen vielleicht überdies mehr vor dem Fernseher oder anderen Medien. Und, zum Trost, scheint es auch so zu sein, dass Kinder, die länger nicht von der Mutter betreut werden und anfangs als ängstlicher und trauriger charakterisiert wurden, das nicht über die Zeit hinweg geblieben sind.

Wie so oft bei wissenschaftlichen Ergebnissen ist auch bei dieser Studie Platz für viele Interpretationen. Offenbar ist auch bei der Vorstellung der Ergebnisse Uneinigkeit bei den Wissenschaftlern selbst deutlich geworden. Einig allerdings waren sich alle, dass die festgestellten Verhaltensauffälligkeiten noch ganz im Rahmen des Normalen gewesen seien, schließlich geht es in den USA bei solchen Angelegenheiten auch gleich um die Gründe, warum Kinder oder Jugendliche zu Massenmördern werden. Es seien Kinder, die zwar stärker andere ärgern, aber das läge durchaus noch im normalen Bereich, sagte etwa Jay Belsky, der die Untersuchung mit geleitet hat. "Wir sprechen nicht von Psychopathen und von Kids, die sich Gewehre nehmen und andere Kids totschießen." Behandelt werden müsste aufgrund der festgestellten Verhaltensauffälligkeiten niemand.

Natürlich liegt es nahe, aufgrund der Ergebnisse zu fordern, dass sich Eltern mehr um ihre Kinder kümmern sollen, also etwa auch, dass ein Elternteil nicht oder zumindest nur teilweise arbeiten sollte. Klar ist auch, dass dies dann vor allem von den Frauen gefördert würde - und dass dann viele Kinder womöglich in Armut aufwachsen würden. Möglicherweise hängen aber die Verhaltensauffälligkeiten nicht nur von der Länge der Betreuung ab, sondern auch von deren Qualität. Allerdings sollte man denken, dass es für manche Kinder auch gar nicht so schlecht ist, nicht dauernd Zuhause und den Eltern ausgesetzt sein zu müssen. Die Aufmerksamkeit der Eltern ist schließlich auch nicht notwendigerweise größer als die anderer Personen, zumal die Kinder, die nicht so viel Zeit mit den Eltern verbringen, offenbar auch kognitiv in einigen Hinsichten wendiger sind. Das große Manko der Studie ist mithin, dass sie keine differenzierten Schlüsse erlaubt.

In den USA werden, wie die New York Times berichtet, 13 Millionen Vorschulkinder, darunter sechs Millionen Kleinkinder, nicht dauernd von den Eltern betreut. Fast 30 Prozent der Kinder sind in Kindertagesstätten, 15 Prozent werden von Familienbetreuern und 5 Prozent von Kindermädchen im Haus versorgt. Für 25 Prozent werden Verwandte herangezogen. Nur ein Viertel werden von ihren Eltern bis zum Kindergartenalter betreut.