Jede Stunde ein Toter

Basra: Gefährliches Chaos

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Bis vor einigen Jahren kannte man die irakische Stadt Basra vor allem aus den Märchen von Tausend und eine Nacht. 1991 machte Basra als Hochburg des schiitischen Widerstands gegen Saddam Hussein weltweit Schlagzeilen. Im gegenwärtigen Krieg galt die zweitgrößte Stadt im Irak lange Zeit als relativ friedlich und wurde öfter als Musterbeispiel für die „bessere, softere“ britische Besatzungspolitik herausgestellt. Gegenwärtig sieht es ganz so aus, als ob Basra der Hauptstadt Bagdad den zweifelhaften Ruhm als gefährlichste Stadt im Irak streitig machen würde.

Was sich schon seit längerem andeutete, wird durch die Nachrichten der letzten Tage mit brutalen Fakten bestätigt: Die britische Besatzungsarmee hat jede Kontrolle über Basra, die wichtigste Stadt im Südirak, verloren. Und es ist unwahrscheinlich, dass die neue irakische Regierung, deren Nominierung zum x-ten Male für die nächsten Tage angekündigt wurde, es schaffen wird, den ausgebrochenen, chaotischen Krieg zwischen Polizeikräften, Milizen und Stämmen in den Griff zu bekommen.

Jede Stunde wird in Basra ein Mensch getötet, so zitiert Patrick Coburn von der englischen Zeitung Independent einen offiziellen Vertreter des irakischen Verteidigungsministeriums.

Laut der arabischen Zeitung az-Zaman, die anscheinend als einzige größere Publikation die desaströsen Zustände in der "failed city" Basra genauer im Auge behält, sollen jeden Tag Hunderte aus der Stadt in Richtung Bagdad fliehen, weil die Lage dort noch schlimmer ist als in der Hauptstadt, aus der beinahe täglich neue Anschläge immer größeren Ausmaßes gemeldet werden.

Aus Angst vor Entführungen oder Straßenschießereien (gestern wurde bei einem "Drive-By-Shooting" der Trainer der populären Fußballmannschaft Al-Mina getötet) sollen bereits Tausende von Basrawis nach Bagdad übergesiedelt sein.

Auf 700 bis 800 schätzt man die Zahl der Mordanschläge allein im vergangenen Monat. Als Hauptverantwortliche nennt der amerikanische Irakexperte Juan Cole die berüchtigten Todesschwadrone. Aber es ist fast unmöglich in dem Chaos, das derzeit in Basra herrscht, Verantwortliche und Hintermänner genau auszumachen, die Grenze zwischen machtpolitisch motivierten Kämpfen, Racheakten und rein kriminellen Aktionen ist schwer zu ziehen.

Die Polizei ist laut az-Zaman hilflos. Die Stadt werde dominiert von Milizen und Gangs; Autos mit dunklen Scheiben und bewaffneten Männern beherrschen das Straßenbild und machen Basra zu einer rechtlosen Zone.

Dass rivalisierende Gruppen in der zweitgrößten Stadt Iraks um die Vorherrschaft kämpfen und die britischen Truppen, die für Basra zuständig sind, diese Rivalitäten nicht unter Kontrolle bringen können, wurde schon im Herbst vergangenen Jahres durch die Umstände der gewaltsamen Befreiung von zwei britischen Undercover-Agenten deutlich (vgl. Showdown in Basra).

Ging man damals noch davon aus, dass es sich dabei vor allem um drei Gruppen handelte, die al-Mahdi-Armee von Muktada as-Sadr, die Badr-Brigaden des SCIRI und militante Anhänger der radikalen schiitischen Fadhila ("Tugend")-Partei unter Führung von Muhammad Yakubi (vgl. Undercover und schwer bewaffnet unterwegs in Basra), so haben sich mittlerweile noch andere Kräfte deutlich bemerkbar gemacht: Stämme, vorwiegend aus dem Umland von Basra, so genannte "Marsh-Arabs", die unter Saddam Husseins Diktatur die Stadt größtenteils nicht betreten durften.

Zwar sollen Feuergefechte zwischen Stämmen (mehr Informationen dazu hier) der "Marsh"-Araber und anderen schon seit längerer Zeit nichts Ungewöhnliches sein, aber dem gegenwärtigen Chaos von Basra fügen sie noch ein weiteres eskalierendes Moment hinzu, das weder von der Regierung noch durch Beschwichtigungsaktionen von mächtigen Hintermännern wie Ali Sistani unter Kontrolle gebracht werden kann.

Entzündet hatten sich die jüngsten Kämpfe zwischen Polizeikräften und Stammesmitgliedern durch die Ermordung eines Stammesoberhauptes, Scheich Hassan al-Karamischi, der am vergangenen Wochenende von Männern in Uniform umgebracht worden sein soll. Daraufhin haben bewaffnete Stammesmitglieder eine Polizeistation in Basra überfallen, elf Polizisten getötet und zwei Gebäude in Brand gesetzt.

In Basra wie anderswo im Irak ist der Verdacht dauernd präsent, dass sich hinter Uniformierten schiitische Todesschwadrone verbergen, mutmaßlich Mitglieder der Badr-Brigaden, die verdächtigt werden, vom iranischen Geheimdienst unterstützt zu werden. Die Badr-Brigaden sind in Basra ihrerseits in einen Machtkampf mit einer Gruppe von Sadristen verwickelt, die von Jakubi geführt werden und der Fadhila Partei nahe stehen, die wiederum in Rivalität steht zu den Sadristen unter Muktadas Führung, dessen al-Mahdi-Miliz ebenfalls undurchsichtige Machtmanöver in Basra durchführt.

Vor diesem Hintergrund hat die Entscheidung des Gouverneurs der Region Basra, Muhammad Musabah al-Waeli, den Polizeichef der Stadt zu feuern, Bedeutung. Al-Waeli gehört der Fadhila-Partei an, der bisherige Polizeichef soll der britischen Armee gegenüber positiv eingestellt gewesen sein. Für al-Waeili gibt es jedoch Anzeichen dafür, dass der bisherige Polizeichef, wie Kommandeure der irakischen Truppen, die mit den Engländern zusammenarbeiteten, "Verbindungen zu Terroristen" hätten.

Ein wenig plausibler Anklagepunkt, plausibler sind dagegen die Motive, die sich aus den Machtansprüchen der kleinen, aber wichtigen schiitischen Fadhila-Partei ergeben: Man will das Ölministerium oder wenigstens die Herrschaft über Basra, das von reichen Ölfeldern umgeben ist.