John Mearsheimer über den Ukraine-Krieg: Die Zukunft sieht düster aus

Seite 5: Szenarien, falls ein tragfähiges Friedensabkommen ausbleibt

Das Fehlen eines tragfähigen Friedensabkommens wird eine Vielzahl von schrecklichen Folgen haben.

So dürften die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen auf absehbare Zeit zutiefst feindselig und gefährlich bleiben. Jede Seite wird weiterhin die andere dämonisieren und alle Anstrengungen machen, ihrem Rivalen Schmerzen und Ärger zu bereiten.

Dazu wird es sicherlich kommen, wenn die Kämpfe weitergehen. Doch selbst wenn der Krieg zu einem eingefrorenen Konflikt wird, dürfte sich das Ausmaß der Feindseligkeit zwischen den beiden Seiten kaum ändern.

Moskau wird versuchen, bestehende Risse zwischen den europäischen Ländern auszunutzen und gleichzeitig daran zu arbeiten, die transatlantischen Beziehungen sowie wichtige europäische Institutionen wie die EU und die Nato zu schwächen.

Angesichts des Schadens, den der Krieg der europäischen Wirtschaft zugefügt hat und weiterhin zufügt, angesichts der wachsenden Ernüchterung in Europa und der Aussicht auf einen nicht enden wollenden Krieg in der Ukraine und angesichts der Differenzen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten über den Handel mit China könnte die russische Führung einen fruchtbaren Boden finden, um im Westen Unruhe zu stiften.

Diese Einmischung wird natürlich die Russophobie in Europa und den Vereinigten Staaten verstärken und die derzeitige schlechte Situation verschlimmern.

Der Westen wird seinerseits die Sanktionen gegen Moskau aufrechterhalten und den wirtschaftlichen Verkehr zwischen beiden Seiten auf ein Minimum beschränken, um der russischen Wirtschaft zu schaden. Zudem wird er sicherlich mit der Ukraine zusammenarbeiten, um Aufstände in den Gebieten zu fördern, die Russland der Ukraine abgenommen hat.

Gleichzeitig werden die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten weiterhin eine hartnäckige Eindämmungspolitik gegenüber Russland verfolgen, von der viele glauben, dass diese aufgrund des Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens und die Stationierung bedeutender Nato-Truppen in Osteuropa noch verstärkt wird.

Natürlich wird sich der Westen weiterhin dafür einsetzen, Georgien und die Ukraine in die Nato aufzunehmen, auch wenn dies in naher Zukunft unwahrscheinlich ist. Schließlich werden die US-amerikanischen und europäischen Eliten ihren Bemühungen um einen Regimewechsel in Moskau und die Anklage Putins für Russlands Vorgehen in der Ukraine sicher beibehalten.

Die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen werden nicht nur vergiftet, sondern auch gefährlich bleiben, da die allgegenwärtige Möglichkeit einer nuklearen Eskalation oder eines Großmachtkriegs zwischen Russland und den Vereinigten Staaten bestehen bleiben wird.

Die Zerstörung der Ukraine

Die Ukraine befand sich schon vor Beginn des Krieges im vergangenen Jahr in schweren wirtschaftlichen und demografischen Schwierigkeiten. Die Verwüstungen, die der Ukraine seit der russischen Invasion zugefügt wurden, sind entsetzlich.

Die Weltbank untersucht die Ereignisse im ersten Kriegsjahr und erklärt, dass die Invasion "einen unvorstellbaren Tribut von den Menschen in der Ukraine und der Wirtschaft des Landes gefordert hat, wobei deren Aktivität im Jahr 2022 um erstaunliche 29,2 Prozent zurückgegangen ist".

Es überrascht nicht, dass Kiew massive Finanzspritzen ausländischer Hilfe braucht, um die Regierung am Laufen zu halten, ganz zu schweigen von der Kriegsführung. Ferner schätzt die Weltbank, dass die Schäden 135 Milliarden US-Dollar übersteigen und dass etwa 411 Milliarden US-Dollar für den Wiederaufbau der Ukraine benötigt werden.

Die Armutsquote, so heißt es, "stieg von 5,5 Prozent im Jahr 2021 auf 24,1 Prozent im Jahr 2022, was 7,1 Millionen weitere Menschen in die Armut trieb und 15 Jahre des Fortschritts zunichte machte".

62 Städte wurden zerstört, etwa acht Millionen Ukrainer sind aus dem Land geflohen und etwa sieben Millionen sind Binnenvertriebene. Die Vereinten Nationen haben 8.490 zivile Todesopfer bestätigt, wobei sie glauben, dass die tatsächliche Zahl "erheblich höher" ist. Und sicherlich hat die Ukraine weit über 100.000 Opfer auf dem Schlachtfeld erlitten.

Die Zukunft der Ukraine sieht extrem düster aus. Es gibt keine Anzeichen für ein baldiges Ende des Krieges, was weitere Zerstörungen von Infrastruktur und Wohnraum, mehr Zerstörung von Städten, mehr zivile und militärische Todesfälle und mehr Schaden für die Wirtschaft bedeutet.

Und nicht nur, dass die Ukraine wahrscheinlich noch mehr Territorium an Russland verlieren wird, sondern laut der Europäischen Kommission "hat der Krieg die Ukraine auf einen Weg des unumkehrbaren demografischen Niedergangs gebracht".

Erschwerend kommt hinzu, dass die Russen alle Anstrengungen machen werden, um die Rumpfukraine wirtschaftlich schwach und politisch instabil zu halten. Der anhaltende Konflikt dürfte auch die seit langem akute Korruption anheizen und extremistische Gruppen in der Ukraine weiter stärken.

Es ist schwer vorstellbar, dass Kiew jemals die Kriterien erfüllt, die für einen EU- oder Nato-Beitritt erforderlich sind.

US-Politik gegenüber China

Der Ukraine-Krieg behindert die Bemühungen der USA, China einzudämmen, was für die amerikanische Sicherheit von größter Bedeutung ist, da China ein wirtschaftlich ebenbürtiger Konkurrent ist, Russland jedoch nicht.

In der Tat besagt die Logik des Kräftegleichgewichts, dass die Vereinigten Staaten mit Russland gegen China verbündet sein müssten und ihre volle Kraft nach Ostasien verlagern sollten.

Stattdessen hat der Krieg in der Ukraine Peking und Moskau eng zusammengedrängt und China gleichzeitig einen starken Anreiz gegeben, dafür zu sorgen, dass Russland in der Ukraine nicht besiegt wird und die Vereinigten Staaten in Europa gebunden bleiben, was ihre Bemühungen, sich auf Ostasien zu konzentrieren, behindern würde.