John Mearsheimer über den Ukraine-Krieg: Die Zukunft sieht düster aus

Seite 7: Kommentar

Das Wort "darkness" (deutsch: Dunkelheit) in der Überschrift seines Artikels vom 23.06.2023 benutzt John J. Mearsheimer in einem doppelten Wortsinn: Einmal, dass man die Zukunft nie sicher vorhersagen kann, und zum anderen im Sinne einer düsteren Prognose.

Der Autor kommt zu der Einschätzung, dass der Ukraine-Krieg eine schreckliche Katastrophe ist und die Ukraine einer dunklen Zukunft entgegengeht, wenn der Krieg weitergeführt wird.

Trotz dieser Aussichten sagt er und begründet das auch ausführlich, sei ein praktikables Friedensabkommen fast unmöglich zu erreichen, sondern bestenfalls komme es zu einem eingefrorenen Konflikt, d. h. einem Waffenstillstand, der jederzeit wieder in einen heißen Krieg umschlagen könne.

Aber auch ein Waffenstillstand, in dem nicht mehr geschossen wird, wäre aus meiner Sicht schon ein Fortschritt im Vergleich zu der jetzigen Situation und darf nicht kleingeredet werden.

Weiterhin begründet er, warum letztendlich Russland wahrscheinlich den Krieg gewinnen wird.

Den Argumenten von Mearsheimer, wonach ein vernünftiges Friedensabkommen zwischen den Kontrahenten (Russland, Ukraine und die USA bzw. der Westen) in absehbarer Zeit von ihm für unwahrscheinlich gehalten wird, liegt folgende Einschätzung zugrunde:

Alle Kriegsparteien sehen sich in diesem Krieg einer existentiellen Bedrohung ausgesetzt und werden deshalb versuchen, den Krieg unbedingt zu gewinnen. Dass das für Russland und auch die Ukraine zutrifft, ist für mich aufgrund der Ausführungen von Mearsheimer gut nachzuvollziehen.

Für die USA, die auf westlicher Seite die entscheidenden Weichen im Ukraine-Krieg stellen und aus sicherer Entfernung eines dazwischen liegenden Ozeans diesen Krieg hauptsächlich befeuern, trifft die Einschätzung von Mearsheimer aus meiner Sicht aber nicht in gleicher Weise zu, solange die USA eine direkte Beteiligung an diesem Krieg, der ja auch als Stellvertreter-Krieg eingeschätzt wird, vermeiden können, was wohl die offizielle Linie der US-Politik zu sein scheint.

Der Grund dafür ist banal: Unabhängig vom Ausgang des Krieges in der Ukraine werden die USA auch nach dessen Beendigung aufgrund ihrer wirtschaftlichen und militärischen Stärke noch lange Zeit eine der führenden Großmächte bleiben.

Dagegen geht es für Russland in diesem Krieg um seine wirtschaftliche und staatliche Existenz, so dass die Russische Föderation sich eine Niederlage nicht leisten kann. Das bedeutet andererseits, dass seine zentralen Sicherheitsinteressen in einem Friedensabkommen, wenn es zustande kommen soll, berücksichtigt werden müssen, d. h. die USA und der Westen müssten sich etwa vertraglich verpflichten, die Ukraine nicht in die Nato aufzunehmen, was sie aber bisher immer strikt abgelehnt haben.

Voraussetzung für ein derartiges Friedensabkommen mit Russland wäre jedoch, dass die USA ihre weltweiten Hegemonialbestrebungen aufgeben und ihren Unilateralismus, der seit 1945 die US-Außenpolitik beherrscht, überwinden.5 Unter Unilateralismus versteht man "Einseitigkeit" im Handeln eines Staates im eigenen Interesse ohne Rücksicht auf die Interessen anderer.

Deshalb habe ich mit Hoffnung zur Kenntnis genommen, dass in einer kürzlich erfolgten ganzseitigen Anzeige von US-Sicherheitsexperten in der New York Times der Unilateralismus, der die US-Außenpolitik prägt, im Zusammenhang mit der Nato-Erweiterung kritisch in Frage gestellt wird. Dort heißt es, "die USA sollten eine Kraft des Friedens sein".6

Dieser Unilateralismus auf Seiten der Politik der USA müsste zugunsten der Anerkennung eines Multilateralismus bzw. einer Multipolarität in den internationalen Beziehungen überwunden werden, wenn die Welt eine Zukunft haben soll.

In einer multipolaren Welt, wie sie in den letzten zwei Jahrzehnten de facto entstanden ist, könnten die Großmächte, die zugleich Atommächte sind, auf der Basis der Charta der Vereinten Nationen, der Prinzipien der Friedlichen Koexistenz und der Anerkennung einer Gemeinsamen Sicherheit zusammenleben und zusammenarbeiten und die großen Probleme der Menschheit gemeinsam lösen.

Das wichtigste gemeinsame Problem ist die Gefahr eines Atomkriegs, die heute so groß ist wie zu keiner Zeit seit der Kuba-Krise 1962.7 Dazu zählen aber auch die Bedrohungen durch den Klimawandel und den Hunger in der Welt.

Ein wesentlicher Schritt in Richtung der Anerkennung einer derartigen neuen multipolaren Weltordnung wäre die Beendigung des laufenden Ukraine-Krieges durch das Zustandekommen eines sinnvollen Friedenvertrages, der diesen Überlegungen Rechnung trägt.

Und ich hoffe darauf, dass das passiert, bevor der Krieg in der Ukraine sich ausweitet und zu einem 3. Weltkrieg und eventuell zu einem Atomkrieg eskaliert.

Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane.

Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de