John le Carré und das Vermächtnis der Spione

Seite 2: Liebevolles Gift

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Das Vermächtnis der Spione, das sich mit erfrischender Nonchalance über die von der Erzählpolizei erlassenen Regeln der chronologischen Berichterstattung hinwegsetzt, ist zugleich das Prequel und die Coda zu Der Spion, der aus der Kälte kam - und eine Reaktion auf Martin Ritts Verfilmung von 1965 (mit Rupert Davies, dem Hauptdarsteller der BBC-Serie Kommissar Maigret, als erstem Smiley in Kino und TV). Richard Burton spielt da Alec Leamas, der am Anfang mitansehen muss, wie Karl Riemeck - kurz nach dem Bau der Mauer - an einem Grenzübergang zwischen West- und Ost-Berlin erschossen wird. Den Auftrag dazu hat der Stasi-Offizier Hans-Dieter Mundt gegeben.

Der Spion, der aus der Kälte kam

Riemeck ist der letzte Agent eines von Leamas aufgebauten Spionagenetzwerks in der DDR. Alle anderen wurden bereits liquidiert. Wie brutal und skrupellos Mundt ist weiß man schon aus le Carrés Debütroman. In Call for the Dead (1961) ist er in London aktiv. Er tötet zwei Menschen und versucht, auch Smiley umzubringen, ehe er - überraschend problemlos - aus England fliehen kann, zurück in die DDR. Hier ist jetzt ein geeigneter Moment für eine Spoiler-Warnung. Ich werde Details und Plotelemente nennen, was manchen Usern den Spaß an der eigenen Lektüre der Romane verderben könnte.

The Spy Who Came in from the Cold

Ich persönlich finde es nicht schlimm, die Identität des Mörders zu verraten, weil le Carré keine Whodunits à la Agatha Christie schreibt. Meiner eigenen Erfahrung nach steigert ein Vorwissen sogar den Reiz der Lektüre, weil man dann das Verwirrspiel und die kunstvoll angelegten Handlungsstränge besser genießen und leichter erkennen kann, wie geschickt gewisse Wendungen vorbereitet werden. Das macht ein bewussteres, die Komplexität der Zusammenhänge im Blick behaltendes Lesen möglich, was nicht schaden kann, weil le Carré kein Autor von simplen Schwarz-Weiß-Geschichten ist.

The Spy Who Came in from the Cold

Leamas also hat seine Agenten verloren und wird zurück nach London beordert, wo er einen Termin bei Control hat, dem Chef des Circus. Beim MI6 hieß er Chief, schrieb mit grüner Tinte und hatte einen alten grünen Tresor im Büro, in dem - wie sich le Carrés The Pigeon Tunnel entnehmen lässt - jahrzehntelang die graue Hose verwahrt wurde, die Hitlers Stellvertreter Rudolph Hess trug, als er nach Schottland flog, um Friedensverhandlungen aufzunehmen. Der Geheimdienstchef, dem Leamas gegenübersitzt, hat aber gar nichts Komisches.

Control ist ein Zyniker und als Stratege so skrupellos wie Mundt beim Töten von Leuten, die ihm im Wege stehen. Cyril Cusacks Darstellung dieses Mannes in Ritts Film ist ein Bravourstück und macht deutlich, wie abgründig die geheime Welt des John le Carré ist. Le Carré selbst war nicht wirklich glücklich über die Besetzung der Leamas-Rolle mit Richard Burton (als Zugeständnis an die Geldgeber war ursprünglich sogar Burt Lancaster im Gespräch), doch von Cusack war er hellauf begeistert. Man könne da die Maschine sehen, die einen Schauspieler zu großen Leistungen antreibt, sagt er in einem Interview (enthalten im Bonusmaterial der Criterion-DVD).

The Spy Who Came in from the Cold

Die britischen Nachrichtendienste, der MI5 und der MI6, stehen in der Tradition der Special Irish Branch, einer mit Angelegenheiten der nationalen Sicherheit befassten Polizeieinheit, die 1883 als Reaktion auf Terroranschläge der Irish Republican Brotherhood gegründet wurde und dabei wenig zimperlich zu Werke ging (das "Irish" ließ man weg, als sich der Aufgabenbereich erweiterte). Die unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten wenig ruhmreiche Geschichte setzte sich fort, als nach dem Ersten Weltkrieg die Black and Tans, eine paramilitärische Kampftruppe, mit geheimdienstlicher Unterstützung Aktionen gegen die Sinn Féin und die IRA durchführten, die nichts anderes waren als Staatsterrorismus.

Cusack, geboren als Sohn eines irischen Polizisten im von den Briten kolonisierten Südafrika, war ein irischer Patriot und verachtete die Engländer. Die Chance, den Chef eines Geheimdiensts zu spielen, der einen schmutzigen Krieg gegen die IRA und ihre Sympathisanten geführt hatte (und noch führte), ohne Rücksicht auf moralische Bedenken, nahm er dankend an. Den Control spielt er - zur Steigerung der Wirkung fein dosiert - mit einer Bosheit und Gehässigkeit, die absolut sehenswert ist. Le Carré nennt es "loving venom", liebevolles Gift.

Schwieriger Frontverlauf

Das Abgründige kommt durch Leamas ins Spiel, weil er irische und deutsche Vorfahren hat. Trotz (oder vielleicht gerade wegen) seiner Herkunft arbeitet er für eine Organisation, die den Unterdrückungsapparat unterstützt, unter dem seine irischen Verwandten zu leiden haben. Das hilft dabei, sich die mal latente und mal sehr direkte Aggressivität des Alec Leamas zu erklären. Nichts davon wird explizit angesprochen, trotzdem ist es immer da. Le Carré hat ein feines Gespür für die innere Zerrissenheit von Angehörigen diskriminierter Gruppen und für die komplizierten Lagen, in die sie mitunter geraten - sei es durch einen Hang zur Selbstdestruktivität, sei es als Opfer von Umständen, für die sie gar nichts können.

In Legacy erfährt man, fast beiläufig und doch in einem für Guillam sehr wichtigen Moment, dass der Vater von Honoré, dem Schrotthändler von Les Deux Eglises (30 km von Lorient entfernt), im Krieg mit den Nazis kollaboriert hat. Die Deutschen hatten den Bretonen nach dem Endsieg die Unabhängigkeit versprochen. Als der Endsieg ausblieb wurde Honorés Vater auf dem Dorfplatz vor einer johlenden Menge aufgehängt, von Kämpfern der Résistance. Ob le Carré wohl weiß, dass Lorient der Geburtsort der Sängerin Viktor Lazlo ist, die durch die Wahl ihres Künstlernamens dem von Paul Henreid gespielten Widerstandskämpfer Victor László in Casablanca die Referenz erwies? Bestimmt.

Casablanca

Jedenfalls hat er Guillam einen Vater gegeben, der bei der Special Operations Executive war. Die SOE war eine 1940 gegründete Spezialeinheit, die in den von den Deutschen besetzten Gebieten Kommandooperationen durchführte, übrigens nach dem Vorbild der IRA, um "Europa in Brand zu stecken" (Churchill). Guillams Vater beging mit der bretonischen Résistance Sabotageakte, bis er erwischt und von der Gestapo zu Tode gefoltert wurde. Auch Leamas, dem Guillam in Legacy noch immer nachtrauert, tötete im Krieg für die SOE. Das weiß man aus The Spy Who Came in from the Cold.

Wir haben nun also: Einen von der Résistance aufgeknüpften Bretonen, der mit den Nazis kollaborierte (wie viele Kämpfer der IRA); einen Engländer, der Deutsche tötet und in einem ihrer Folterkeller stirbt; einen SOE-Attentäter, der Deutsche und Kollaborateure tötet und ein halber Ire ist (Legacy, Kapitel 8: Leamas’ Mutter war eine Deutsche aus Chemnitz und sein im Süden Irlands geborener Vater erlebte noch die britische Kolonialherrschaft mit). Was uns le Carré damit sagen will? Ganz einfach.

Selbst im Zweiten Weltkrieg, als sich noch relativ leicht zwischen Gut und Böse unterscheiden ließ, war der Frontverlauf nicht ganz so übersichtlich, wie man meinen könnte. In keinster Weise soll das die Verbrechen der Nazis relativieren (im Sinne von: Die anderen haben auch schlimme Sachen angestellt, und wir ziehen jetzt einen Schlussstrich.). Es illustriert vielmehr eine europäische Tragödie, die darin besteht, dass Europäer im Namen einer Ideologie, eines Volkes oder einer Kultur, die von den anderen nicht akzeptiert wird, aufeinander losgehen und sich gegenseitig umbringen.

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