John le Carré und das Vermächtnis der Spione
Seite 4: Klassenbewusstsein
Ortswechsel. Zurück nach London. Le Carré zufolge kann man sich das alte Hauptquartier des MI6 (54 Broadway, gegenüber der U-Bahn-Station St. James’s Park) etwa so vorstellen wie in der BBC-Adaption von Tinker Tailor: knirschende Aufzüge, staubige enge Korridore, kleine schmuddelige Büros, alles in ein dafür nicht vorgesehenes Gebäude gepresst und daher unpraktisch und unbequem. Der Chef residierte in der obersten Etage, doch das Büro mit seinen verdreckten Fenstern habe einem den beunruhigenden Eindruck vermittelt, man befände sich im Keller, schreibt le Carré in The Pigeon Tunnel.
Vom Circus in Ritts Spy-Verfilmung ist es noch ein weiter Weg bis zur pompösen Grandiosität der Geheimdienstzentrale in der Kinoversion von Tinker Tailor, doch der Regisseur und sein Produktionsdesigner haben dem Schreibtischtäter Control immerhin ein Büro genehmigt, das eine bürgerliche Gediegenheit ausstrahlt, statt den Charme eines Kellerlochs. Der Grund dafür ist ein dramaturgischer. Leamas, der in Ausübung seines Dienstes an zugigen Ecken steht, statt sich - wie Control - darüber zu beklagen, dass die neue Sekretärin die Teekanne nicht anwärmt, wirkt hier proletarisch, ungepflegt und fehl am Platze.
Das Geheimdienstwesen im Vereinigten Königreich war von der Klassengesellschaft geprägt (was bis heute nicht völlig überwunden ist). Der MI6 rekrutierte seine Mitarbeiter vorzugsweise in der oberen Mittelschicht und auch im Adel; der MI5 in der Mittelschicht und - viel seltener - in der Arbeiterklasse. Zwischen den beiden Diensten herrschte eine mitunter an Hass grenzende Rivalität. Mit Klassenressentiments hatte das genauso zu tun wie damit, dass der MI6 im Ausland machte (unterwandern, auskundschaften, Agenten anwerben usw.), was der MI5 im Inland unterbinden sollte, wenn es die Russen taten.
David Cornwell alias John le Carré schreibt über seine Zeit beim MI5, dass er automatisch gelernt habe, den MI6 (zu dem er später wechselte) zu hassen, ohne genau zu wissen warum eigentlich. Die gegenseitigen Ressentiments waren ein wesentlicher Grund dafür, dass der in den 1930ern vom KGB angeworbene Kim Philby jahrzehntelang im MI6 aktiv sein und Agenten in unbekannter Zahl ans Messer liefern konnte. Beim MI5 war man längst von seiner Schuld überzeugt, als der MI6 noch immer an eine böswillige Intrige des ungeliebten Schwesterdienstes glauben wollte und Philby aus Gruppensolidarität schützte.
Das Vermächtnis der Spione macht noch einmal deutlich, dass es Themen gibt, die le Carré ein ganzes Schriftstellerleben lang beschäftigt haben. Eines davon ist der Verrat in all seinen Formen, ein Verrat, der sich in alle Bereiche der Gesellschaft und der täglichen Existenz frisst. Call for the Dead, sein erster Roman, fängt damit an, dass Smiley die schöne Lady Ann Sercomb heiratet und noch im selben Absatz von ihr verlassen wird, weil sie mit einem Rennfahrer nach Kuba durchbrennt. Smileys unverbrüchliche Liebe zu Ann, die ihn immer wieder mit anderen Männern betrügen wird, um zwischen wechselnden Liebhabern zu ihm zurückzukehren, ist sein wunder Punkt, an dem man auch den Agenten treffen kann.
Bill Haydon, die Philby-Figur in Tinker Tailor Soldier Spy, verrät den Circus genauso wie seine Freundschaft mit Jim Prideaux (Guillams Vorgänger als Chef der Skalpjäger), und er fängt eine Affäre mit Ann an, um Smiley den Blick zu vernebeln. Smileys professionelles Urteil ist zweifach getrübt: weil Haydon der Liebhaber seiner Frau ist und weil Haydon Anns Cousin ist. Bill Haydon gehört zum Establishment, in dem man miteinander verwandt ist, dieselben Eliteschulen (Eton, Harrow) und dieselben Eliteuniversitäten (Oxford, Cambridge) besucht, sich immer schon gekannt und eine Gruppenidentität gebildet hat, die wie ein Schutzschirm wirkt.
Am Ende von Tinker Tailor gesteht sich Smiley ein, dass insgeheim alle die Wahrheit kannten, diese aber nicht akzeptieren wollten, weil undenkbar war, dass einer wie Haydon, ein Mann aus der guten Gesellschaft, ein russischer Maulwurf und ein Landesverräter sein könnte. Dann ertappt er sich dabei, dass er schon wieder anfängt, Entschuldigungen für Haydon und sein falsches Spiel zu finden, das viele Menschen das Leben gekostet hat. Das Wissen um den Verrat, denkt er, sei wie eine Krankheit gewesen, von der alle hofften, dass sie verschwinden würde, wenn man ihre Existenz nicht anerkannte, sie nicht diagnostizierte.
1963, als schließlich aufflog, dass Philby einer von den Cambridge Five war und er sich nach Moskau absetzte, wo man ihm 1965 den Leninorden verlieh, arbeitete David Cornwell noch für den MI6. Er hat wiederholt die Vermutung geäußert, dass Philby auch seinen Namen an den KGB verriet (was sein Biograph Adam Sisman allerdings für unwahrscheinlich hält). Die Philby-Affäre liegt wie ein dunkler Schatten über dem Werk von John le Carré. In Legacy leiden Guillam und Prideaux noch immer unter den Folgen von Haydons Verrat.
Man erfährt, dass Alec Leamas als erster von der Existenz eines Maulwurfs im inneren Zirkel des Circus überzeugt war, als einer seiner ostdeutschen Agenten nach dem anderen aus dem Verkehr gezogen wurde. Das bringt uns zurück in das Büro von Control. Der Chef personifiziert einen Geheimdienst, in dem man nur wirklich dazugehört, wenn man - wie Philby oder Haydon - aus guter Familie kommt (obere Mittelschicht oder höher) und in Oxford oder Cambridge war. Leamas dagegen stammt aus einfachen Verhältnissen und seine Schulbildung ist begrenzt.
Das macht ihn nicht zum schlechten Agenten, wohl aber zum doppelten Außenseiter (weil er auch noch deutsch-irischer Abstammung ist, statt ein alteingesessener Engländer zu sein). So erklären sich seine Frustration und seine Aggressivität, aber seine Herkunft befreit ihn auch von der Betriebsblindheit seiner Kollegen, der Philby/Haydon seinen Erfolg verdankte. Doch das ist es nicht allein. Der tiefste Abgrund lauert anderswo. Der Klassendünkel bringt Leamas den Tod. Weil er nicht zum selben Club gehört lässt ihn Control gewissenlos über die Klinge springen.
Für den Chef des Circus ist Leamas, der Agent aus der Unterschicht, verzichtbar, und Liz Gold, die Jüdin und Kommunistin, ist es sowieso. Diese beiden sind das Kanonenfutter, das man in die Schlacht schickt, während die Herren aus dem Establishment vom Feldherrnhügel aus die Strategie entwerfen. Der Circus ist die dunkle Unterseite des Vereinigten Königreichs, der Mikrokosmos, aus dem sich auf den Zustand des Gemeinwesens schließen lässt. Le Carré erstellt mit Hilfe des Geheimdiensts ein Psychogramm der Gesellschaft, der die Spione dienen.
Miss Havisham vermietet an den Circus
Le Carrés Inspirationsquellen für The Spy Who Came in from the Cold waren der Bau der Berliner Mauer und wahrscheinlich der Fall des ehemaligen SS-Obersturmführers Heinz Felfe, der nach dem Krieg für den MI6 als V-Mann arbeitete und dann beim Bundesnachrichtendienst zum Leiter des Referats Gegenspionage Sowjetunion aufstieg. Als der Verdacht aufkam, dass es in der Führung des BND einen von Moskau eingeschleusten Maulwurf gab übernahm Felfe die Ermittlungen. 1961 wurde er selbst als dieser Maulwurf verhaftet.
Den raschen Aufstieg beim BND (geleitet von Reinhard Gehlen, früher Chef der Abteilung Fremde Heere Ost in Hitlers Wehrmacht) verdankte Felfe seinen Erfolgen beim Enttarnen sowjetischer Spione. Gut möglich, dass man in Moskau eine Güterabwägung vornahm und weniger wichtige Agenten opferte, um die Karriere des Maulwurfs zu fördern. Ein Anlass für westliche Überlegenheitsgefühle ist das nicht. Controls Plan zeigt, dass es die Briten (zumindest die fiktiven bei Le Carré) in punkto Zynismus durchaus mit den Russen aufnehmen können. Die Philby-Affäre scheidet als Inspirationsquelle vermutlich aus, weil sie erst 1964 öffentlich wurde, ein Jahr nach dem Erscheinen des Romans.
Im Spion, der aus der Kälte kam ist weder von Bill Haydon die Rede noch von einem Maulwurf innerhalb des Circus. Mit A Legacy of Spies holt le Carré das Versäumte nach. Er integriert den Leamas-Plot so geschickt in den neuen Roman, verbindet ihn so nahtlos mit der Haydon-Geschichte in Tinker Tailor, dass man fast glauben könnte, es wäre schon immer so gewesen. Auch The Spy Who Came in from the Cold wird so zum Bestandteil eines seiner Lebensthemen, dem Verrat in den eigenen Reihen und den - auch seelischen - Verwüstungen, die er anrichtet.
Alec Leamas hatte einen Sohn (Christoph), Liz Gold eine Tochter (Karen). Der mehrfach vorbestrafte Christoph hat das Spionagetalent seines Vaters geerbt, sich Zugang zu alten Stasi-Akten verschafft und entdeckt, dass sein Vater und Liz Gold bei einer britischen Geheimdienstoperation gestorben sind. Zusammen mit Karen hat er eine Millionenklage angestrengt. Es drohen ein peinlicher Prozess und eine parlamentarische Untersuchung. Karen ist so idealistisch wie es ihre Mutter war. Anders als Christoph will sie kein (Schweige)Geld, sondern Aufklärung und Transparenz.
Control ist lange tot und Smiley nicht auffindbar, oder genauer gesagt: er soll nicht aufgefunden werden, weil der Skandal nur noch größer wird, wenn ein einst hochrangiger Funktionär wie er involviert ist. Also muss Peter Guillam den Kopf hinhalten. Er wird in das neue Hauptquartier des Geheimdiensts an der Themse zitiert (für Guillam, den Veteranen des alten Circus, ein schockierender Protzbau), wo zwei glatte Anwälte, "Bunny" Butterfield und die für die Sünden der Vergangenheit zuständige Laura, mit Schadensbegrenzung beschäftigt sind.
Das Problem dabei: Die Akten zur damaligen "Operation Windfall" sind entweder ganz verschwunden oder nur noch fragmentarisch erhalten. Natürlich war es Guillam, Smileys Mann für knifflige Aufgaben dieser Art, der sie aus dem Circus-Archiv geklaut hat. Das weiß man gleich, wenn man Tinker Tailor gelesen hat. In der Verfilmung und im Mehrteiler der BBC führen Benedict Cumberbatch (cool und nervenstark) und Michael Jayston (auch nervenstark, aber nicht so cool und nach der Tat sichtlich mitgenommen) in der Guillam-Rolle vor, wie es gemacht wird.
Die Bürokraten müssen aber die ganze Wahrheit kennen, um sie - sagt Laura - erfolgreich manipulieren zu können. Guillam soll dabei helfen, stellt sich dumm und kommt damit nicht durch, weil Laura in den Büchern Zahlungsanweisungen für eine konspirative Wohnung, eine Haushälterin und einen alten Verbündeten Smileys entdeckt hat, Inspektor Mendel von der Kriminalpolizei. Die "Wohnung" ist ein dreistöckiges Haus (Deckname: "The Stables"), für das der Geheimdienst noch immer die Miete an einen Offshore-Fonds in den Niederländischen Antillen überweist. Mendel freilich dürfte inzwischen gestorben sein, weil er 1961, als er Smiley kennenlernte (in Call for the Dead), gerade pensioniert wurde.
Beim Verwischen der Spuren hat einst ein mit Smileys Gattin verwandter Anwalt geholfen. Wie aktuell das ist haben jüngst die Enthüllungen rund um die Paradise Papers gezeigt. Der britische Adel, von Smileys Lady Ann bis hin zur Queen, wusste auch früher schon, wie man sein Geld versteckt. Das im Dornröschenschlaf liegende, von der Zeit vergessene Haus könnte eine Idee von Charles Dickens sein. Man denke an die alte Miss Havisham in Great Expectations, die an ihrem Hochzeitstag von einem betrügerischen Bräutigam sitzen gelassen wurde und noch immer ihr Brautkleid trägt.
Das Zimmer, in dem die junge Miss Havisham Hochzeit feiern wollte, ist seitdem unberührt. Die von Staub und Spinnweben bedeckte Hochzeitstorte allerdings wäre in den "Ställen" undenkbar, denn hier führt noch immer die Haushälterin Millie McCraig das Regiment, eine strenge Schottin, von der das Gerücht umgeht, sie wäre vor vielen Jahren einer Affäre mit George Smiley nicht abgeneigt gewesen. (Beim Lesen habe ich mir Millie unwillkürlich wie Anne Bancroft in der unterschätzten Great Expectations-Verfilmung von Alfonso Cuarón vorgestellt.)
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