John le Carré und das Vermächtnis der Spione
Seite 5: Säuberungsprozedur
Das konspirative Haus steht stellvertretend für die analoge Welt. Nach dem seelenlosen, von Computern gesteuerten Funktionsbau des modernen Circus hat le Carré erkennbar Freude daran, die Gegenstände zu benennen, die dort zu entdecken sind. Millies Fahrrad ist genauso eine Erwähnung wert wie ihre Schallplatten, und das Vogelhaus ist besser als jede Firewall. Das Prunkstück ist die Bibliothek, in der die Schreibtische von Smiley und Control stehen, als wäre die Operation Windfall erst gestern gewesen. An der Wand hängen Photos von Mundt und seinem Rivalen Fiedler.
Ohne Trutzburg an der Themse, erläutert Guillam, waren spezielle Sicherungsmaßnahmen erforderlich. Statt durch Gitter vor den Fenstern Diebe anzulocken kaufte Smiley dicke alte Bücher, die niemand stehlen würde. Ein Teil der Bände ist ausgehöhlt, in den Höhlungen sind die Akten versteckt. Einem anderen Autor müsste man hier bescheinigen, dass seine Phantasie mit ihm durchgegangen ist. Für George Smiley, die le-Carré-Figur par excellence, ist es nur konsequent, wenn er die Sicherheit lieber dem Antiquar anvertraut als dem Schlosser. Bei le Carré ersetzt das Aktenstudium die spektakulären Stunts in den James-Bond-Abenteuern, und meistens ist das viel spannender.
Das Lesen gehört quasi zur DNS des Geheimdiensts alter Schule. Le Carré hat dessen Hauptquartier am Cambridge Circus angesiedelt (daher der Spitzname, "The Circus"). Von einigen Büros aus (etwa dem von Bill Haydon in Tinker Tailor) blickt man auf die Charing Cross Road, immer noch als Straße der Buchhandlungen und Antiquariate bekannt, obwohl einige von ihnen schließen mussten, seitdem versucht wird, die Mieten trotz öffentlicher Proteste auf das übliche Londoner Niveau zu heben. Smiley ist am Beginn seines Berufslebens Dozent für deutsche Literatur. Das prägt auch seine Agententätigkeit.
Wenn Smiley Akten gegen den Strich liest (in Legacy übernimmt sein gelehriger Schüler Peter Guillam diese Aufgabe), aus scheinbar unwichtigen Details die eigentliche Geschichte zusammensetzt und so in Bereiche vordringt, die den seelenlosen Bürokraten um ihn herum immer unzugänglich bleiben werden, dann ist das auch eine Gebrauchsanweisung für die gewinnbringende, nicht nur an Plot und Oberflächenspannung interessierte Lektüre der Romane. Das ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Die andere hat mit dem Kalten Krieg zu tun und mit der ersten Karriere des David Cornwell, als Agent des britischen Geheimdiensts.
Unter dem Eindruck wachsender (und nicht ganz unbegründeter) Ängste, dass atomare Geheimnisse an die UdSSR verraten werden könnten, ordnete der britische Premierminister Clement Attlee 1948 die "Purge Procudure" an, die "Säuberung" aller sicherheitsrelevanten Bereiche der Gesellschaft von Kommunisten (und Faschisten). Da das Herumschnüffeln im Privatleben der Bürger als unbritisch und degoutant galt konzentrierte sich der MI5 zunächst darauf, die Namen potentieller Geheimnisträger mit den Mitgliedslisten der (unterwanderten) Kommunistischen Partei abzugleichen.
Allzu schwierig kann die Aufgabe nicht gewesen sein. Der Daily Worker, die Tageszeitung der britischen Kommunisten (seit 1966 heißt sie Morning Star), hatte einen treuen Abnehmer: den britischen Geheimdienst. Mehr Exemplare kaufte nur die Botschaft der UdSSR. KP-Mitglieder waren angehalten, Passanten anzusprechen und zum Erwerb einer Zeitung zu animieren, was meistens ein aussichtsloses Unterfangen war. Für den Geheimdienst war es ideal, weil er nicht lange nach den Kommunisten suchen musste. Sie standen auf der Straße und zeigten als Erkennungszeichen den Daily Worker vor.
Liz Gold hasst diesen Dienst an der Partei. Sie stellt sich mit einer Handvoll Zeitungen an ihren Platz, wartet da zwei Stunden, bis sie ein einziges Exemplar losgeworden ist und macht es dann so wie die Parteigenossen: sie zahlt aus der eigenen Tasche für ein Dutzend Exemplare oder mehr, behauptet beim nächsten Treffen, alles verkauft zu haben, und die anderen bemühen sich, sie mit ihren eigenen Lügen zu überbieten. Die besten "Verkäufer" werden belobigt, mit Namensnennung im Daily Worker. Man weiß nicht genau, ob das der Satiriker John le Carré geschrieben hat oder doch der Dokumentarist.
Doppelte Standards
David Cornwell nahm im Frühjahr 1958 den Dienst beim MI5 auf. Seinem Biographen Adam Sisman zufolge wurde er auf asiatische Commonwealth-Studenten angesetzt (einige davon leisteten auf unterster Ebene Industriespionage für China), ehe man ihn beförderte und zur mit der Überwachung der KP betrauten "F Branch" versetzte. Dort wurde er der Sektion F2 zugeteilt, verantwortlich für die inzwischen deutlich strenger gewordenen Sicherheitsüberprüfungen. Cornwell alias le Carré meinte später, es sei eine "Papierwelt" gewesen, in die er da geriet.
Sich selbst vergleicht er mit dem unterbezahlten Bürogehilfen von Ebenezer Scrooge in Dickens’ A Christmas Carol, der in einer tankähnlichen Zelle arbeiten muss: "Ein Sicherheitsdienst marschiert auf seinen Akten, und ich war einer von der Infanterie. Wie Bob Cratchit in seinem Tank schuftete ich mich von morgens bis oft spät in die Nacht mit den Dossiers von Leuten ab, denen ich nie begegnen würde: Sollten wir ihm trauen? Oder ihr? Sollten ihre Arbeitgeber ihnen trauen? Könnte er ein Verräter sein, ein Spion oder jemand, der einsame Entscheidungen trifft, ein geeigneter Fall für eine Erpressung durch die skrupellose Opposition?"
Obwohl selbst noch eher unreif, so le Carré, habe man ihn beauftragt, über das Leben dieser Menschen zu Gericht zu sitzen. Smiley ist in Call for the Dead ein Mann mittleren Alters und hat viel Lebenserfahrung, doch das Unbehagen ist geblieben. Die Homosexualität des "Beraters" (Deckname des Vorgängers von Control), ist ein offenes Geheimnis. In Polizeikreisen nennt man ihn "Marlene Dietrich". Le Carré will damit nicht etwa sagen, dass der Geheimdienst ein Tummelplatz für Schwule ist (für die Marlene eine Identifikationsfigur war). Es geht um Heuchelei.
In Großbritannien empfahl 1957 eine Regierungskommission, homosexuelle Beziehungen unter Erwachsenen zu entkriminalisieren. Zehn Jahre später wurde daraus endlich ein Gesetz, gegen enorme Widerstände. Die gesellschaftliche Ächtung der Homosexualität dauerte noch viel länger. Im Roman schickt also ein Mann, der selbst eminent erpressbar ist, seine Leute los, um Schwachstellen und dunkle Punkte in der Vergangenheit anderer Bürger zu finden. Im konkreten Fall muss Smiley Samuel Fennan überprüfen, einen Beamten im Außenministerium.
Ein anonymer Briefschreiber hat behauptet, Fennan sei in den 1930ern, als Student in Oxford, Mitglied der KP gewesen. Für Smiley ist das Routine, denn Fennan ist kein Einzelfall. In den 1930ern trat manch ein Brite der KP bei. Viele taten es aus Idealismus und auch deshalb, weil die Labour Party ein klägliches Bild abgab und der Kommunismus (bis zum Hitler-Stalin-Pakt von 1939) die einzig glaubwürdige Alternative zum Faschismus zu sein schien. Einige ließen sich von Moskau als Spione anwerben wie Kim Philby, Guy Burgess und Donald Maclean. Fennan dagegen kommt Smiley harmlos vor. Er sucht ihn im Ministerium auf und bittet ihn zu einem Spaziergang, um die Sache diskret zu besprechen.
Die gesellschaftliche Diskriminierung bestimmter Gruppen zeigt sich beim Blick auf das Personaltableau staatlicher Institutionen. Als David Cornwell beim MI5 war hatten es nur ganz wenige Frauen in Führungspositionen geschafft, die rund 150 Beamten waren alle weiß, viele kamen aus dem Kolonialdienst, kein einziger Jude war dabei. Juden waren per se suspekt, man wollte sie da nicht. Fennan ist ein jüdischer Emigrant, der in den 1930ern nach England geflohen ist, studiert und dann - nur durch eigene Leistung und allen Vorurteilen zum Trotz - im Außenministerium Karriere gemacht hat. Wirklich besser ist es dort aber auch nicht.
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