Journalismus im Krieg: Sagen, was fehlt

"Anti-Terror", "Terror"? – Ukrainische Armee gegen Separatisten, 2016. Bild: Ministry of Defense of Ukraine, CC BY-SA 2.0

Hunderttausende Leser haben den Telepolis-Bericht zu einer Drohung aus Russland aufgerufen. Zugleich erreicht uns Kritik. Wie ist der Widerspruch erklärbar und wie gehen wir damit um? Ein Telepolis-Leitartikel.

"Medwedew: Bei Erfolg der Gegenoffensive droht globales nukleares Feuer", titelte Telepolis-Redakteur David Goeßmann am gestrigen Montag – und hat damit offenbar einen Nerv getroffen. Hunderttausende Mal wurde die Meldung über Äußerungen des russischen Ex-Präsidenten gelesen, Tendenz steigend.

Die Frage also, welche Folgen eine vom Westen, sprich der Nato, massiv und immer massiver unterstützte Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte und ihrer militärischen Helfershelfer aller Couleur in letzter Konsequenz haben kann, ist für viele Menschen, die meisten übrigens keine Telepolis-Stammleser, relevant. Relevanter, meine ich, als diese Frage im politischen und medialen Mainstream behandelt wird.

Die Telepolis-Redaktion beobachtet diese Diskurse aufmerksam, wertet sie aus und diskutiert sie fast täglich in den morgendlichen Redaktionskonferenzen. Dabei wird ein Unterschied immer wieder deutlich: In der US-Presse – und dort nicht nur in unabhängigen, alternativen oder anderweitig außerhalb des medialen Mainstreams angesiedelten Redaktionen, sondern auch in Leitmedien wie der New York Times oder der Washington Post – werden die Positionen des kriegführenden Russlands mitunter realistischer dargestellt als zumindest in deutschen Informationsangeboten.

Ein Indiz dafür liefert im vorliegenden Fall ein kurzer Blick ins Netz. Bereits am Sonntag hatten US-amerikanische Leitmedien und alternative Informationsangebote gleichsam über die Medwedew'sche Warnung aus Moskau berichtet. So etwa das Nachrichtenportal Politico, die Seite commondreams.org; am Montag dann CNN und das Telepolis-Partnerportal Democracy Now! In Deutschland waren es am heutigen Dienstag, nach Telepolis gerade einmal die Frankfurter Rundschau und das Portal Der Westen.

Dieses Schlaglicht ist aus zwei Gründen interessant: Zum einen zeigt es, dass in den USA bei allen Problemen der politischen und medialen Sphäre die Trennung zwischen Leit- und Alternativmedien nicht oder nicht so stark ausgeprägt ist wie in Deutschland.

Zum anderen scheinen russische Sichtweisen in den deutschen Leitmedien weniger abgebildet zu werden. Weil man glaubt, Putin eine zu große Bühne zu bieten? Oder weil man Angst hat, sich diesem Vorwurf auszusetzen?

Politischer Druck auf die Medien

Doch genau das gehört zu einer professionellen, journalistischen Berichterstattung: Alle Seiten angemessen darzustellen, um dem Leser ein realistisches Bild der Lage zu ermöglichen.

Das ist in der Berichterstattung über den Ukraine-Krieg in Deutschland schwierig; immer schwieriger, muss man sagen. Bei Telepolis haben wir in diesem Zusammenhang mehrfach über den öffentlich ausgeübten politischen Druck auf Medien berichtet, den diejenigen zu spüren bekommen, die einem bestimmten Narrativ oder Framing nicht folgen.

Warum muss ich als Journalist betonen, dass es sich um einen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine handelt? Ist das nicht offensichtlich? Muss ich den völkerrechtswidrigen Charakter der russischen Invasion dem Leser in meinem Artikel, meinem Lead-Satz, meiner Überschrift, meiner Moderation, meiner Bildunterschrift oder meinem Kommentar qua Bestimmungswort "Angriff" einhämmern? Inwieweit verlasse ich damit die journalistische Neutralität? Und wie war das eigentlich bei vergangenen Kriegen des Westens?

Die ideologisierte Haltung zum russischen Krieg in der Ukraine hat im politisch getriebenen medialen Mainstream längst zu einer unheilvollen Eigendynamik geführt, die über sprachliche Besonderheiten hinausgeht.

Ich weiß nicht, wann es war – vor Wochen, vor Monaten? – als plötzlich der britische Geheimdienst Einzug in die deutschen Medien hielt und mit ihm die Einschätzungen eines Nachrichtendienstes, die per definitionem nicht überprüfbar und die noch dazu einem der führenden westlichen Akteure zuzuordnen sind.

120 Mal finden sich beim Burda-Flaggschiff Focus Artikel mit den kombinierten Suchbegriffen "Ukraine", "Krieg" und "britischer Geheimdienst". Beim Konkurrenten Spiegel liefert Google 340 Treffer. Dort "zerlegen" dann "Militär-Experten" einen Strategiewechsel der russischen Invasoren, britische Geheimdienstler liefern boulevardeske Schenkelklopfer ("Russischer Top-Militär verliert im Vollsuff Laptop mit sensiblen Daten") oder es wird über einen ukrainischen Panzervorstoß berichtet.

Nur über das Scheitern der ukrainischen Offensive findet sich in den entsprechenden Geheimdienstausarbeitungen kaum ein Wort. Klingt seltsam, ist aber so.

Wenn Russland ein vom Westen sicherheits- und geopolitisch beanspruchtes Land angreift, kennt mancher deutsche Verleger offenbar keinen Journalismus mehr. Er kennt nur noch Erfolgsmeldungen – egal, woher sie kommen.

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