Journalismus im Krieg: Sagen, was fehlt
Hunderttausende Leser haben den Telepolis-Bericht zu einer Drohung aus Russland aufgerufen. Zugleich erreicht uns Kritik. Wie ist der Widerspruch erklärbar und wie gehen wir damit um? Ein Telepolis-Leitartikel.
"Medwedew: Bei Erfolg der Gegenoffensive droht globales nukleares Feuer", titelte Telepolis-Redakteur David Goeßmann am gestrigen Montag – und hat damit offenbar einen Nerv getroffen. Hunderttausende Mal wurde die Meldung über Äußerungen des russischen Ex-Präsidenten gelesen, Tendenz steigend.
Die Frage also, welche Folgen eine vom Westen, sprich der Nato, massiv und immer massiver unterstützte Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte und ihrer militärischen Helfershelfer aller Couleur in letzter Konsequenz haben kann, ist für viele Menschen, die meisten übrigens keine Telepolis-Stammleser, relevant. Relevanter, meine ich, als diese Frage im politischen und medialen Mainstream behandelt wird.
Die Telepolis-Redaktion beobachtet diese Diskurse aufmerksam, wertet sie aus und diskutiert sie fast täglich in den morgendlichen Redaktionskonferenzen. Dabei wird ein Unterschied immer wieder deutlich: In der US-Presse – und dort nicht nur in unabhängigen, alternativen oder anderweitig außerhalb des medialen Mainstreams angesiedelten Redaktionen, sondern auch in Leitmedien wie der New York Times oder der Washington Post – werden die Positionen des kriegführenden Russlands mitunter realistischer dargestellt als zumindest in deutschen Informationsangeboten.
Ein Indiz dafür liefert im vorliegenden Fall ein kurzer Blick ins Netz. Bereits am Sonntag hatten US-amerikanische Leitmedien und alternative Informationsangebote gleichsam über die Medwedew'sche Warnung aus Moskau berichtet. So etwa das Nachrichtenportal Politico, die Seite commondreams.org; am Montag dann CNN und das Telepolis-Partnerportal Democracy Now! In Deutschland waren es am heutigen Dienstag, nach Telepolis gerade einmal die Frankfurter Rundschau und das Portal Der Westen.
Dieses Schlaglicht ist aus zwei Gründen interessant: Zum einen zeigt es, dass in den USA bei allen Problemen der politischen und medialen Sphäre die Trennung zwischen Leit- und Alternativmedien nicht oder nicht so stark ausgeprägt ist wie in Deutschland.
Zum anderen scheinen russische Sichtweisen in den deutschen Leitmedien weniger abgebildet zu werden. Weil man glaubt, Putin eine zu große Bühne zu bieten? Oder weil man Angst hat, sich diesem Vorwurf auszusetzen?
Politischer Druck auf die Medien
Doch genau das gehört zu einer professionellen, journalistischen Berichterstattung: Alle Seiten angemessen darzustellen, um dem Leser ein realistisches Bild der Lage zu ermöglichen.
Das ist in der Berichterstattung über den Ukraine-Krieg in Deutschland schwierig; immer schwieriger, muss man sagen. Bei Telepolis haben wir in diesem Zusammenhang mehrfach über den öffentlich ausgeübten politischen Druck auf Medien berichtet, den diejenigen zu spüren bekommen, die einem bestimmten Narrativ oder Framing nicht folgen.
Warum muss ich als Journalist betonen, dass es sich um einen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine handelt? Ist das nicht offensichtlich? Muss ich den völkerrechtswidrigen Charakter der russischen Invasion dem Leser in meinem Artikel, meinem Lead-Satz, meiner Überschrift, meiner Moderation, meiner Bildunterschrift oder meinem Kommentar qua Bestimmungswort "Angriff" einhämmern? Inwieweit verlasse ich damit die journalistische Neutralität? Und wie war das eigentlich bei vergangenen Kriegen des Westens?
Die ideologisierte Haltung zum russischen Krieg in der Ukraine hat im politisch getriebenen medialen Mainstream längst zu einer unheilvollen Eigendynamik geführt, die über sprachliche Besonderheiten hinausgeht.
Ich weiß nicht, wann es war – vor Wochen, vor Monaten? – als plötzlich der britische Geheimdienst Einzug in die deutschen Medien hielt und mit ihm die Einschätzungen eines Nachrichtendienstes, die per definitionem nicht überprüfbar und die noch dazu einem der führenden westlichen Akteure zuzuordnen sind.
120 Mal finden sich beim Burda-Flaggschiff Focus Artikel mit den kombinierten Suchbegriffen "Ukraine", "Krieg" und "britischer Geheimdienst". Beim Konkurrenten Spiegel liefert Google 340 Treffer. Dort "zerlegen" dann "Militär-Experten" einen Strategiewechsel der russischen Invasoren, britische Geheimdienstler liefern boulevardeske Schenkelklopfer ("Russischer Top-Militär verliert im Vollsuff Laptop mit sensiblen Daten") oder es wird über einen ukrainischen Panzervorstoß berichtet.
Nur über das Scheitern der ukrainischen Offensive findet sich in den entsprechenden Geheimdienstausarbeitungen kaum ein Wort. Klingt seltsam, ist aber so.
Wenn Russland ein vom Westen sicherheits- und geopolitisch beanspruchtes Land angreift, kennt mancher deutsche Verleger offenbar keinen Journalismus mehr. Er kennt nur noch Erfolgsmeldungen – egal, woher sie kommen.
Ukraine-Krieg: Lücken in der Berichterstattung füllen
Telepolis also berichtete Anfang der Woche nicht über betrunkene russische Militärs, sondern über Medwedew, der, wie es der ihm vom Kreml zugedachten Rolle zu entsprechen scheint, wieder einmal mit einem Atomkrieg drohte – und ordnete diese Meldung ein.
In einer derart polarisierten Mediensituation, wie wir sie in Deutschland seit dem 24. Februar 2022 erleben, bleibt das nicht ohne Widerspruch. Diese Kritik erreichen uns nicht nur per Mail, sondern auch über das, wie wir es nennen, "passiv moderierte" Forum. Heute Morgen zum Beispiel kritisierte ein Leser die "gefühlte prorussische Stimmungsmache". Immerhin räumte er den subjektiven Eindruck ein.
Deshalb an dieser Stelle mal eine Einordnung: Wenn Telepolis in einer Kriegssituation, in der wir uns in einem weitaus stärkeren Maße befinden, als manchen Akteuren und Mediennutzern klar zu sein scheint, die Leerstellen der Berichterstattung zu füllen versucht, dann läuft dieses Medium immer auch Gefahr, in die Falle der Gegeninformation zu tappen.
Grob, sehr grob gesagt: Alle berichten pro Nato, Telepolis hält dagegen und lässt Analysten aus dem In- und Ausland über die eskalierende Rolle des Nordatlantikpaktes und seiner Führungsmacht USA schreiben.
Das aber geschieht nicht aus politischer Überzeugung, sondern weil diese Analysen anderswo fehlen. Weil Telepolis also dazu beizutragen willens ist, das Gesamtbild aufzuzeigen.
Wir glauben nicht, dass unsere Berichterstattung der Weisheit letzter Schluss ist. Aber in diesem medialen Umfeld und zu diesem Zeitpunkt tragen wir nach bestem Wissen und Gewissen dazu bei, eine umfassende und damit demokratische Meinungsbildung zu ermöglichen.
Dazu gehört nicht nur eine kritische Haltung gegenüber den Leitmedien, sondern auch eine professionelle Distanz gegenüber alternativen Medienangeboten, die Informationen mitunter einer vorgefassten Meinung anpassen, entsprechend auswählen und präsentieren.
Telepolis steht zwischen diesen Polen und wird sich weiterhin zwischen ihnen bewegen. Nicht aus Unbestimmtheit oder Unentschlossenheit. Sondern aus Überzeugung.
Die Zugriffe geben uns recht: im Einzelfall und im Gesamtbild
Das Spannende ist: Auch wenn eine lautstarke Minderheit im Forum, in E-Mails und manchmal im Netz gegen diese eigenständige Linie wettert, um Telepolis auf Linie zu bringen, geben uns die Zahlen recht.
Während ich an diesem Dienstagnachmittag dieses Editorial schreibe, haben weitere Zehntausende Leserinnen und Leser den eingangs erwähnten Russland-Text aufgerufen, monatlich verzeichnen wir auf einem kriselnden Medienmarkt mehrere Millionen Zugriffe, Tendenz steigend.
Die journalistische Herausforderung im aktuellen Ukraine-Krieg, der nach wie vor und vielleicht sogar zunehmend die Gefahr birgt, zu einem europäischen oder gar globalen Konflikt zu eskalieren, besteht auch darin, die aktuelle Rolle der verschiedenen Medienakteure vor dem historischen Hintergrund zu sehen.
Die Frage ist daher, ob eine Oriana Fallaci heute noch mit Putin sprechen könnte, wie sie es einst mit Muammar al-Gaddafi getan hat, ohne als "Putin-Versteherin" abgestempelt und isoliert zu werden, weil man mit so jemandem eben nicht spricht – unabhängig davon, wie sie ihn beurteilt.
Wir von Telepolis werden mit unseren bescheidenen Mitteln weiterhin unseren eigenen Weg gehen und die Berichterstattung über den Ukraine-Krieg und die kommenden globalen Kriege, Krisen, Pandemien und den Klimawandel in einer Weise verteidigen und ausbauen, wie wir sie für journalistisch und demokratisch gerechtfertigt halten. Seriöse Kritik an dieser Linie nehmen wir immer ernst, Schmähungen mitunter als Auszeichnung zur Kenntnis.
Neben Inhalten und Analysen setzen wir beim Thema Ukraine und Russland verstärkt auf Stimmen vor Ort. Dazu finden Sie an diesem Wochenende auf Telepolis den Essay unseres ukrainischen Kollegen Andrii Vlasov ebenso wie den Beitrag unseres russischen Kollegen Nikita Vasilenko, der für den inzwischen geschlossenen Radiosender Echo Moskau gearbeitet hat und sein Land verlassen musste.
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