Kampf um die Ohrmuscheln

Music-Selling übers Netz: Ein neuer Vorstoß zum Schutz des Copyright

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Musik läßt sich im Web dank digitaler Kompressionsformate direkt vom Hersteller beziehen. Die großen Plattenlabel, die das Netz erst langsam entdecken, sehen es mit Argwohn und fürchten um die Verwertungsrechte. Die Vereinigung der amerikanischen Musikindustrie möchte nun einen "copyright-echten" Standard durchsetzen.

Der Musikindustrie und den Verwertungsgesellschaften liegt das Internet mit seiner angestammten "Alles-Kostenlos-Kultur" und sich ständig verbessernden Übertragungsmöglichkeiten für digitalisierte Musikwerke schwer im Magen. Auf 300 Millionen Dollar im Jahr schätzt die Recording Industry Association of America (RIAA) jährlich die potentiellen Einnahmeverluste durch Piraterie. Ein Großteil der illegalen Kopien soll über das Netz gehandelt oder "verschenkt" werden. Dem will die RIAA zusammen mit mehreren großen Plattenlabels und Unternehmen der Computerindustrie nun endlich einen Riegel vorschieben. Gemeinsam haben die Verfechter aus der Wirtschaft – geeint durch das Interesse, das Internet kommerziell ein Stück weiter zu erschließen – die Secure Digital Music Initiative (SDMI) ausgerufen. Ziel ist es, eine "offene Spezifikation" und einen neuen Standard für den Vertrieb von Musik übers Internet bis zum Herbst 1999 zu entwickeln.

Die Initiative könnte für die Zukunft des E-Commerce ausschlaggebend sein, weil der Musiksektor als "Idealfall" für die digitale Distribution und Abrechnung gilt. Generell lassen sich zwei Produkte über das Internet besonders gut (ver-)kaufen: Bücher und Musiktitel. Im Buchsektor läuft momentan die große Schlacht zwischen den beiden Hauptkonkurrenten Amazon.com und Barnes & Noble, die durch den Einstieg Bertelsmanns beim Onlineverkäufer Barnesandnobles.com sowie dem Kauf des größten amerikanischen Buchdistributors, der Ingram Book Group, durch Barnes & Noble erneut angefacht wurde. Im Jahr 2002 sollen die Buchverkäufe über das Web laut Datamonitor rund 10 Prozent des Internetshoppings ausmachen. Im Online-Musikbereich, von dem 2002 immerhin 8 Prozent der virtuellen Shoppingumsätze erwartet werden, ist nach dem Merger der beiden Scheibenverkäufer CDnow und N2Ks Musicboulevard vorläufig etwas Ruhe eingekehrt.

Dafür tobt der Streit um die vollständige Digitalisierung des Distributionsweges: Töne lassen sich problemlos in Einser und Nullen umwandeln und über ein vernetztes Medium vertreiben. Komprimierungsformate wie MP3 (MPEG 1, Audio Layer 3) ermöglichen den relativ schnellen und einfachen Download hochqualitativer Musikstücke auf die eigene Hard-Disk: für eine normale Single kann man bei einer voll genutzten ISDN-Verbindung mit einer Ladezeit zwischen 10 und 15 Minuten rechnen. Websites wie MP3.com), die Lizenzvereinbarungen mit Musikern oder Plattenlabeln geschlossen haben, bieten in ihren Archiven bereits Gigabytes an derartig formatierten Stücken und Geschmacksproben oder ganzen CDs an, was vor allem der Independent-Szene neue Vermarktungsmöglichkeiten erschlossen hat.

Music could be the first major packaged product to make the fabled transition from atoms to bits. That's a scary concept to those with a heavy investment in atom-based commerce.

Don Steinberg in Wired 5.01 (Januar 1997)

De facto hat sich MP3 in der Internet-Community als Standard für den Austausch von Musik durchgesetzt, was großen Labels und den Lobby- oder Verwertungsgesellschaften wie etwa Broadcast Music Inc. (BMI) oder der Recording Industry Association of America (RIAA), Kopfschmerzen bereitet. Die Giganten entdecken erst langsam das Internet als neuen Distributionsweg. Unabhängige Künstler sind dagegen längst dabei, ihre Werke über das Web direkt an ihre Kunden zu vertreiben, was langfristig einen weitaus fragmentierteren Musikmarkt schaffen und die gesamte Industrie verändern könnte.

The music industry is crashing into the Internet. They don't want to go into the Digital Age, and MP3 is dragging them there... It is a battle over the consumer's heart, ears, and pocketbook.

Michael Robertson, Chef der Site MP3.com

Bisher macht das Web nur einen geringen Anteil der gesamten Musikverkäufe aus. Den Analysten von Market Tracking International (MIT) zufolge beliefen sich die Umsätze 1997 auf 28,7 Millionen Dollar oder auf 0,1 Prozent des Gesamtmarktes. Die Marktexperten rechnen aber mit einem 20fachen Wachstum bis zum Jahr 2000. Dann sollen im Netz für musikalische Produkte bis zu 550 Millionen Dollar ausgegeben werden. Das summiert sich zwar auch erst auf 1,25 Prozent der bis dahin auf etwa 44 Milliarden Dollar ansteigenden Gesamtumsätze der Musikindustrie – aber der Markt gilt als zukunftsträchtig, und keiner der Player will es sich langfristig leisten, außen vor zu bleiben.

Das Imperium schlägt zurück

Die Zukunft des Musikmarktes im Internet ist noch mit zahlreichen Fragezeichen behaftet. Gerade beim Direktvertrieb über das Web, der 2002 zwischen 10 und 15 Prozent des Online-Musikmarktes ausmachen soll, schätzt die RIAA die Zahl der Songs, die illegal ohne das Entrichten eines Entgelts an die Verwertungsgesellschaften downloadbar sind, auf über 200.000. Die Chefin von BMI, Frances Preston, fordert daher seit langem die digitale Aufrüstung der "Traditionsunternehmen" ihrer Zunft: Auch die Verwertungsgesellschaften müßten zu "Technologieunternehmen" werden, die mit Hilfe von Verschlüsselungsmechanismen, Wasserzeichen und "Spürhunden" wie dem BMI Music Bot gezielt gegen die digitale Piraterie vorgehen. MP3.com hat sich deshalb jüngst ein großes Reinemachen verordnet und durch Emails alle Musikanbieter der Site dazu aufgefordert, Samples, Cover-Versionen und unautorisierte Stücke schnellstmöglich zu löschen.

Weiter vorantreiben will die traditionelle Musikbranche die Säuberung des "digitalen Undergrounds" nun mit der neuen Initiative. Wie der neue Standard genau aussehen wird, ist unklar. Das Wunschformat soll einen Kopierschutz mit Hilfe von Verschlüsselungstechnik enthalten und mit digitalen Wasserzeichen arbeiten, damit eventuelle Raubkopien mit Hilfe der Suchbots auffindbar wären. Das Rad neu erfinden wollen die Unterstützer der Initiative allerdings nicht: Wenn MP3 die Rechte der Künstler "sichere", so Hilary Rosen, Präsidentin der RIAA, habe man damit kein Problem. Es gehe nicht darum, den Technologiefirmen einen Standard vorzuschreiben oder "Musik für immer wegzusperren". Mit der Initiative wolle man vielmehr erreichen, daß "die Techniker-Gemeinde ein offenes Sicherheitssystem entwickelt, das die Verbreitung kompatibler Produkte in einem Wettbewerbsmarkt fördert."

Schon heute gibt es alternativ zu MP3 zwei Soundformate, die den kommerziellen Absichten der großen Labels und Verwertungsgesellschaften entgegenkommen: AT&T hat die a2b-Technologie entwickelt, mit der sich Musikstücke nur von A nach B, aber nicht mehr an einen weiteren Empfänger C übertragen lassen. Daneben schickt die kalifornische Firma Liquid Audio einen Standard ins Rennen, mit dem sich jede Note nur begrenzt abspielen läßt und die Verbreitung der Songs genau kontrolliert und getrackt werden kann. Bisher spielten die Lösungen von Liquid Audio und AT&T nur eine untergeordnete Rolle im Netzalltag was sich durch ein jüngst abgeschlossenes Joint-Venture mit RealNetworks, dem führenden Lieferanten von Audio- und Videoübertragungen über das Web in Echtzeit, rasch ändern könnte: Anfang November präsentierte Sony auf ihrer Music-Site die erste Online-Jukebox auf der Basis "pay-per-listen", bei dem die mit Liquid Audios Abrechnungssoftware verknüpfte Streaming-Technologie von RealNetwork für die Kommerztauglichkeit des Systems sorgt.

Streaming audio eventually will overshadow downloading technology because it is easier and a more convenient process, comparing it to television viewers who simply want to watch a program rather than deal with the hassle of recording it on VCR every time they turn it on.

CNET News vom 3.11.98

Die RIAA auf Partnersuche

Der Vorstoß der RIAA, der zunächst etwas unkonzentriert in seiner Beliebigkeit wirkt, wird von den Marktexperten unterschiedlich beurteilt. Einerseits hätte der "neue" Standard – wie immer er aussehen mag – die Unterstützung der wichtigsten Player aus der Industrie: BMG Entertainment, EMI Recorded Music, Sony Music Entertainment, Seagrams Universal Music Group und die Warner Music Group konnte die RIAA genauso ins Boot ziehen wie America Online, AT&T, IBM, Liquid Audio, Microsoft oder Toshiba. Auch die Recording Industry Association of Japan sowie die Londoner International Federation of the Phonographic Industry hat die RIAA bereits auf Linie bringen können.

Andererseits hat sich MP3 bereits einen wichtigen Vorsprung erkämpft: Der Standard sei "nicht mehr zu stoppen", meint Robert Kahn, Chef der Website Goodnoise, die MP3-kodierte Musikstücke für je rund 99 Cents "verramscht". Die wirkliche Lösung des Piraterieproblems sei es, "Musik so billig zu machen, daß sich das Stehlen nicht lohnt." Auch Bruce Haring, Autor des Buchs "Off the Charts", gibt dem Vorhaben der RIAA keine Vorschußlorbeeren: "Daß sich einige Unternehmen auf einen Standard einigen wollen, heißt nicht, daß Künstler und Konsumenten beistimmen." Hinter der Inititative sei nicht mehr zu sehen als ein "Stühlerücken auf der Titanic."

Musikfreaks, die MP3 als Verfechter der Geschenkökonomie des Netzes sehen, werden sich in Zukunft allerdings auf jeden Fall neu orientieren müssen. Patentinhaber des Formats ist die Fraunhofer Gesellschaft (FHG), die sich momentan überlegt, wie man selbst Gewinne aus dem populären Standard ziehen könnte: Karlheinz Brandenburg, Abteilungsleiter des Bereichs Audiotechnik und Multimedia beim Erlanger Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen und Hauptentwickler des Kompressionsverfahrens, gab in jüngster Zeit mehrfach zu verstehen, daß man in Zukunft stärker als bisher auf die Lizenzrechte pochen werde. Der Encoder, mit dem Soundfiles komprimiert werden, soll nur noch gegen Gebühr erhältlich sein, kostenlos bleibt dagegen der Decoder zum Abspielen der Stücke. Mittelfristig dürften sich dadurch aber die Preise für Downloads erhöhen.

Gleichzeitig entwickeln die Fraunhofer bereits das neue Format MP4, das ähnlich wie Liquid Audio mit Verschlüsselungstechniken und digitalen Wasserzeichen arbeiten können soll und der Musikindustrie weniger Kopfschmerzen bereiten dürfte. Zudem hat die FHG der RIAA-Initiative nach Auskunft von Rosen bereits ihre Unterstützung angekündigt.

Ein weiterer interessanter "Partner" der RIAA ist Diamond Multimedia. Das mag erstaunen, da die Vereinigung der Plattenlabels gegen das Unternehmen, das eine zukunftsträchtige Version des Walkmans auf den Markt gebracht hat, noch vor kurzem Klage erhoben hat: Auf den Rio PMP300 lassen sich Musikstücke im MP3-Format vom Computer überspielen. Die RIAA erkannte darin einen Verstoß gegen den Audio Home Recording Act von 1992, der vorsieht, daß Hersteller oder Importeure von "digitalen Rekordern" eine Verwertungsgebühr an die Musikindustrie abführen. Die Anwälte von Diamond argumentierten, daß nicht das Gerät die Songs aufnehme, sondern bereits der Computer – für den keine Gebühr erhoben wird, da er nicht ausschließlich zum Musikaufnehmen und –abspielen Verwendung findet. Ende Oktober erhielt Diamond vor Gericht Recht und hat ihrerseits nun die RIAA wegen "unfairer Businesspraktiken" und kartellrechtlicher Bedenken verklagt. Hierzulande zahlt Diamond "freiwillig" eine Geräteabgabe in Höhe von fünf Mark an die GEMA, und auch in den USA scheinen sich die Streithähne aufeinander zuzubewegen: Diamond will zumindest jeden Standard unterstützen, der sich langfristig im Musikbereich durchsetzen wird, und kooperiert daher sogar mit dem ehemaligen Gegner.