Kapitalismus kaputt?
Seite 3: Brennpunkt Unternehmensschulden
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Ob Dotcom-, Immobilien- oder Liquiditätsblase: die Blasenbildung auf den Finanzmärkten wirkt immer als ein systemischer Transmissionsriemen zur Generierung weiterer Schuldenberge, da der Kapitalismus aufgrund der ungeheuren Produktivitätsfortschritte der letzten Dekaden seinen Verwertungskreislauf in der Warenpruduktion nur noch durch kreditfinanzierte Nachfrage aufrechterhalten kann.
Das kapitalistische Weltsystem scheitert auf globaler Ebene letztendlich an seiner eigenen Vorgabe der "Rentabilität", da es zu produktiv für sich selbst geworden ist. Das System kann folglich nur noch auf Pump laufen, weil ohne diese Verschuldungsdynamik - also den Vorgriff auf künftige Verwertung von Kapital - deflationäre Abwärtsspiralen einsetzen, wobei es egal ist, ob nun der Staat, die Privathaushalte, oder die Wirtschaft kreditfinanzierte Nachfrage schafft.
Die bürgerliche Politik befindet sich somit in einer Krisenfalle, da sie als Getriebene der eskalierenden inneren Widersprüche des Kapitals nur versuchen kann, diesen absurden Schuldenturmbau möglichst lange aufrechtzuerhalten, um den totalen Absturz zu verhindern.
Tatsächlich ist der globale Schuldenberg auch nach dem Platzen der transatlantischen Immobilienblasen 2007/08 in den USA und Europa munter weitergewachsen. Die Financial Times bezifferte in einem längeren Hintergrundbericht die Summe der globalen Schulden auf die Kleinigkeit von rund 253 Billionen US-Dollar, was einen historischen Höchstwert darstelle - bei Ausbruch der Schuldenkrise 2008 summierten sich die Schulden der kapitalistischen One World auf rund 170 Billionen US-Dollar.
Wachsende Schulden sind bei einer wachsenden Wirtschaft eigentlich kein großes Problem, solange sie nicht schneller wachsen als das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Doch gerade dies ist seit den 1980er Jahren des 20. Jahrhundert der Fall. Der Schuldenberg des kapitalistischen Weltsystems wächst viel schneller als die Weltwirtschaftsleistung - aus den oben genannten Gründen.
Derzeit umfasst die Gesamtverschuldung rund 322 Prozent des Weltwirtschaftsprodukts, bei Ausbruch der Finanzkrise 2008 waren es weniger als 300 Prozent, zu Beginn des 21. Jahrhunderts lag dieser Wert bei rund 260 Prozent. Der Spätkapitalismus wächst somit nicht heraus aus seinen Schulden, er wächst in sie immer weiter hinein - was der zuverlässigste Indikator für die skizzierte Systemkrise ist.
2000 waren es Hightech-Aktien, 2008 Immobilien - wo droht dem beständig wachsenden, globalen Schuldenturm diesmal der Einsturz?
Der wahrscheinlichste mittelfristige Brennpunkt der sich nun entfaltenden Schuldenkrise bilden die Unternehmensanleihen. Dies vor allem, weil die pandemiebedingten Produktionsstillegungen, die Einbrüche der Nachfrage und das partielle Einfrieren vieler globaler Lieferketten, die konkrete, warenproduzierende Wirtschaft sofort treffen - der weltweite Verwertungsprozess des Kapitals wird direkt gekappt.
Je länger die Stilllegung oder Einschränkung von Produktionskapazitäten dauert, desto dramatischer gestaltet sich die Lage. Das Interesse des Kapitals, seinen Verwertungsprozess aufrechtzuerhalten, kollidiert mit den Erfordernissen der Pandemiebekämpfung, die ja darauf abzielt, durch entsprechende Maßnahmen die Ansteckungsrate zu verlangsamen.
Ohne nennenswerte Rücklagen sind die betroffenen Konzerne auf Kredite angewiesen. Oder, schlimmer noch: Sie können ihren bereits bestehenden Verbindlichkeiten gegenüber den Banken und dem Finanzsektor nicht mehr nachkommen. Genau dies ist der Fall.
Drohende Kreditklemme
Ein großer Teil des Schuldenwachstums seit der Finanzkrise 2007/08 entfiel laut der FT auf den Wirtschaftssektor (non-bank corporate sector), auf Unternehmensanleihen. Diese Konzerne und Unternehmen würden aufgrund "gestörter Lieferketten und reduzierten globalen Wachstums" nicht mehr in der Lage sein, ihre Schulden zu bedienen. Es drohe eine "Kreditklemme in einer Welt ultraniedriger und negativer Zinsen".
Es ist die übliche Geschichte, die mit einer jeden Blasenbildung einhergeht: Diesmal sind es nicht Hypotheken, die in Wertpapiere umgewandelt wurden, sondern Unternehmensanleihen. Aufgrund der niedrigen Zinsen und der expansiven Politik der Notenbanken, mit denen die Folgen der 2008 geplatzten Blase bekämpft wurden, hätten Unternehmen angefangen, verstärkt, sich in Anleihen zu begeben oder Kredite aufzunehmen, um aggressive Expansionsstrategien zu betreiben (wie etwa Bayer) oder die eigene Aktien aufzukaufen. Die globalen Unternehmensschulden jenseits des Finanzsektors summieren sich nun auf 75 Billionen US-Dollar, während sie 2009 bei 48 Billionen lagen.
Inzwischen hat das große, hektische Rechnen eingesetzt, um das systemische Risiko für den globalen Schuldenberg einzuschätzen. Bei ersten Modellrechnungen wurden die Unternehmensschulden von acht Ländern - China, USA, Japan, Großbritannien, Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland - berücksichtigt.
Bei einem ökonomischen Schock, der nur halb so stark ausfiele wie die globale Finanzkrise von 2008, würden Verbindlichkeiten im Umfang von 19 Billionen US-Dollar (das sind, wie ausgeführt, 19 000 Milliarden) nicht mehr bedient werden können. Dies wären der 40 Prozent der gesamten Unternehmensschulden in den besagten Ländern.
Dabei scheinen Rezessionen in den meisten Wirtschaftsräumen kaum noch abwendbar - es stellt sich nur die Frage, wie heftig sie ausfallen werden. Somit zeichnet sich das wahrscheinlichste Szenario der kommenden Schuldenkrise deutlich ab, bei dem die gegenwärtige Pandemie als ein äußerer Auslöser fungiert, der die von den Notenbanken inflationierte Liquiditätsblase platzen lässt: Produktionsstillegungen und Nachfrageeinbrüche wandeln einen großen Teil der Unternehmensschulden in Finanzmarktschrott, ähnlich den Hypothekenverbriefungen ab 2008, die wiederum eine Kreditklemme auf den Finanzmärkten auszulösen drohen.
Eine Welle von Zahlungsausfällen oder Herabstufungen von Anleihen würde das "Finanzsystem erschüttern", so Analysten. Diese Kreditklemme würde in Wechselwirkung mit der realen Wirtschaft treten und in einer positiven Rückkopplung den konjunkturellen Abwärtssog verstärken.
In einem solchen Fall wäre ein irreversibler "Point of no Return" erreicht, nach dessen Überschreitung Maßnahmen der Krisenpolitik kaum noch zur Beeinflussung einer vollends unkontrollierbaren Krisendynamik beitragen könnten.