Katalonien am Scheideweg?

Demonstration mit 150 Wahlurnen vom Referendum. Bild: ANC

Die Komitees zur Verteidigung der Republik (CDR) machen verstärkt Druck zur Umsetzung der Unabhängigkeit von Spanien und Torra stellt Sánchez ein Ultimatum

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Mit neuen Straßen- und Schienenblockaden, der Blockade der Börse und einer riesigen Demonstration in Barcelona haben am Montag viele Menschen an das erfolgreiche Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien erinnert. Vor einem Jahr hatten sich mehr als 90% der Teilnehmer für die Loslösung von Spanien ausgesprochen. Das Referendum wird als Ausgangspunkt für die Gründung der Katalanischen Republik gesehen, das Spanien auch mit dem Einsatz aller Mittel im Vorfeld und mit Gewalt in einer "militärähnlichen Operation" nicht verhindern konnte, die internationale Beobachter schockiert angeprangert haben. Dabei wurden von der paramilitärischen Guardia Civil und der Nationalpolizei mehr als 1000 Menschen verletzt und einem der friedlichen Wähler wurde mit verbotenen Gummigeschossen ein Auge ausgeschossen.

Dass die Stimmung ein Jahr nach dem Referendum zusehends angespannt ist, wird von allen Seiten festgestellt, wenngleich sie das alltägliche Leben nicht verändert hat. Allerdings sorgen dauernde Provokationen von rechtsradikalen Organisationen und Gruppen seit längerem dafür, dass die Spannung weiter steigt. Die Bereitschaft bei einigen in Katalonien sinkt offensichtlich, diese weiter einfach so hinzunehmen. Dazu kommt die Ungeduld bei Teilen im Unabhängigkeitslager, dass die vor knapp einem Jahr ausgerufene Katalanische Republik noch nicht wie erhofft umgesetzt wird.

Dass weiterhin neun Aktivisten und Politiker inhaftiert und mit einer absurden Rebellionsanklage konfrontiert sind, die sie für 30 Jahre in den Knast bringen kann, und es eine langsam wachsende Zahl von Exilanten gibt, trägt genauso wenig zur Entspannung bei. Dazu ist auch das Verhalten der neuen spanischen Regierung nicht angetan, die bestenfalls einige Versuchsballons steigen lässt, aber keinerlei Angebote macht. Den im August symbolisch begonnenen "Dialog" hat sie inzwischen schon wieder auf Eis gelegt.

Schon vor dem Jahrestag des Referendums kam es am Samstag zu unschönen Szenen im Zentrum Barcelonas. Allerdings konnte durch eine Besetzung des zentralen Platzes durch Antifaschisten am Regierungssitz verhindert werden, dass einige hundert Mitglieder der spanischen Sicherheitskräfte hier ihren brutalen Auftritt vor einem Jahr gegen friedliche Bürger auch noch provokativ abfeiern konnten. Es zeigt sich glücklicherweise immer deutlicher, dass die Ultras bei ihren Provokationen immer deutlicher unter sich bleiben. Die Mobilisierung der Katalanen gelingt ihnen nicht. Ihre ständigen Aufrufe verfangen nicht.

Auch die Katalanen, die gegen die Unabhängigkeit sind, wollen mit diesen Leuten nicht auf die Straße gehen. Unter den Beamten, am Samstag ohne Uniform, gab es auch wieder Teilnehmer, die sich offen als Nazis mit dem Hitlergruß zeigten. Dass es unter spanischen Polizisten und Beamten der Guardia Civil einige Neonazis gibt, wurde zuletzt durch die Veröffentlichung eines internen Chats deutlich. "Hitler war ein guter Mann", wurde dort genauso erklärt, wie der "roten" Bürgermeisterin von Madrid ein "langsamer Tod" gewünscht wurde.

Beim erfolgreichen Versuch, den Ultras den Zugang zum zentralen Platz vor dem katalanischen Regierungssitz zu versperren, kam es schon zu Auseinandersetzungen mit der Regionalpolizei Mossos d'Esquadra, die die Besetzer des Platzes von den Ultras getrennt hat. Dabei setzten die Mossos auch Schlagstöcke ein und verletzten 24 Menschen leicht und nahmen 6 Personen fest. Die Regionalpolizisten wurden dabei von Demonstranten - Vorbild war das indische "Holi-Festival" - mit Farben besprüht und beworfen.

Streit um Gewaltfreiheit

Zum Jahrestag des 1-O hatten am Montag auch die beiden großen zivilgesellschaftlichen Organisationen Katalanischer Nationalkongress (ANC) und Òmnium Cultural neben den Komitees zur Verteidigung der Republik (CDR) zu einer Demonstration am Abend aufgerufen. Die wurde von 150 der Wahlurnen angeführt, von denen die spanische Regierung nicht eine einzige hatte beschlagnahmen können. Es wurde die Umsetzung der Republik gefordert. So meinte auch die ANC-Chefin Elisenda Paluzie, dass man eine "Regierung wolle, die den Worten auch Taten folgen lässt". Hatten die CDR schon über den ganzen Tag mit Blockaden den Druck erhöht, zog schließlich eine riesige Masse zum Parlament. Schon zuvor hatte der Regierungschef Quim Torra sich mit den friedlichen Aktionen der CDR solidarisiert: "Macht Druck, es ist gut, dass ihr Druck macht."

Elisenda Paluzie. Bild: CAT

Das wurde von spanischen Medien allerdings in der einer gewohnten Manier aus dem Zusammenhang gerissen und in eine Aufforderung zur Gewalt umgedeutet. Dabei hat er im Gespräch mit CDR-Vertretern eindeutig die Einheit im Unabhängigkeitslager und das Vorgehen am 1. Oktober vor einem Jahr beschworen. Nur der Kampf, in dem alle gemeinsam mit friedlichen Mitteln wie am 1. Oktober auftreten, könnte es schaffen, das Referendum zum Erfolg zu führen. So wurde vor aller Welt deutlich gemacht, dass Spanien tatsächlich bereit ist, mit "allen Mitteln", wie die Regierung stets betont hatte, eine demokratische Abstimmung zu verhindern.

Die Verpflichtung zur Gewaltfreiheit bestätigte auch der Vize-Regierungschef Pere Aragonés am Dienstag erneut und sprach von Bildern am Parlament, die es nicht erneut geben dürfe. Die Regierungssprecherin Elsa Artadi machte auch noch einmal klar, dass es "eine Sache ist, Druck zu machen, aber eine andere gewalttätig zu werden".

Erst nach Beendigung der Demonstration am Parlament, so stellte auch der Chef der Regionalpolizei fest, waren einige hundert Menschen in den Park um das Parlament eingedrungen und haben wegen der Vorkommnisse am Samstag auch den Rücktritt von Innenminister Miquel Buch gefordert. Der Mossos-Chef Andreu Martínez machte klar, dass die CDR mit dem gewaltsamen Vorgehen nichts zu tun hätten. Nach Auflösung der Demonstration durch die CDR sei es zu Gewalt von einigen "radikalen Gruppen mit dem Willen zur Konfrontation" gekommen, unterstrich er. Allerdings blieb auch Torra nicht von Kritik verschont. Auf der Demonstration wurde gefordert, er solle zurücktreten, wenn er die Republik nicht umsetzen wolle. "Ungehorsam oder Rücktritt", hatten Demonstranten gerufen, denen der von ihm eingeschlagene Weg zu langsam ist.

Demonstration am 1. Oktober. Bild: CAT

Uneinigkeit in der Unabhängigkeitsbewegung

Schon seit einiger Zeit fehlt der Unabhängigkeitsbewegung eine klare Linie, die sie bis zur Verkündigung der Republik am 27. Oktober hatte. Die Vorstellungen, wie man zur Umsetzung der Unabhängigkeit kommt, gehen zwischen der linksradikalen CUP, der viele CDR nahe stehen, und den Christdemokraten von Torra und dem Exil-Präsidenten Carles Puigdemont deutlich auseinander. Die Republikanische Linke Kataloniens (ERC) ist sogar besonders vorsichtig. Sie will die Möglichkeiten lange ausloten, die es seit dem Sturz der Postfaschistenregierung unter Mariano Rajoy durch den Regierungswechsel zum Sozialdemokraten Pedro Sánchez geben könnte, während sie die soziale Basis für Unabhängigkeit verbreitern will. Sie stößt dabei auf Kritik bei den Christdemokraten und auf völliges Unverständnis bei den Linksradikalen.

Doch auch die CUP sieht keine Vertrauenskrise. Ihr Führungsmitglied Mireya Boya sieht eher das Problem, dass die Regierung unter Torra "noch erklären" müsse, "welche Richtung sie einschlagen will." Es gäbe "Unverständnis" an der Basis. Vor allem wettert Boya aber gegen die ERC, denn die CUP ist der Meinung, dass sich Spanien niemals freiwillig an einen Verhandlungstisch setzen werde. Die Regierung müsse durch "internationalen Druck" dazu gezwungen werden. "Dieser Druck wird nur kommen, wenn wir ein ernsthaftes Problem für die Stabilität sind."

So spricht auch Boya die Tatsache an, dass es derzeit keine gemeinsame Strategie gibt, die dringend notwendig ist, um mit verschiedenen Problemen fertig zu werden. Nicht zuletzt muss die Bewegung verhindern, dass ihr wenige den Stempel der Gewalt aufdrücken. So sollte sie auf politischer Ebene dringlich zurück zu einem geschlossenen Vorgehen finden. Sie sollte damit zudem strikt dafür sorgen, dass bei Aktionen in ihren Reihen keine Vermummten auftauchen, die es einfach machen, Provokateure einzuschleusen. Dies ist eine bekannte Strategie, um politische Forderungen zu diskreditieren und die Repressionsschraube anzuziehen.

Obwohl die Vorgänge am Samstag im Zentrum von Barcelona und am Montag am Parlament im Vergleich zu Vorgängen in Hamburg beim G-20 sehr harmlos waren, ganz besonders im Vergleich zum G8 in Genua, wo maskierte Polizeiprovokateure und Faschisten untergemischt waren, fordert die rechte Volkspartei (PP) nun sogar schon das Verbot der Unabhängigkeitsparteien, obwohl die nichts mit dem Geplänkel zu tun hatten. Der neue PP-Chef Pablo Casado, dessen Partei nun noch weiter nach rechts gerückt ist, geht beim Wetteifern mit den Ciudadanos (Bürger) um die Wählergunst am rechten Rand dabei besonders weit.

Der Mann, der vor einem Jahr wenig verdeckt schon Morddrohungen gegen Puigdemont ausgesprochen hatte, forderte jetzt eine neue drastische Verschärfung des ohnehin schon zum Verbot von baskischen Parteien extra aufgebohrte Parteiengesetzes. Die Regierung müsse Katalonien wieder über den Verfassungsparagraph 155 unter Zwangsverwaltung stellen. Da die Durchführung des Referendums vor einem Jahr auch in Spanien kein Delikt ist, will es der Ultra natürlich endlich zur Straftat machen, die Bevölkerung abstimmen zu lassen. Das hatte die PP schon einmal im Baskenland vorgeschlagen.

Ultimatum an die spanische Regierung

Unter dem Eindruck der Vorgänge gerät die katalanische Regierung unter Torra immer stärker unter Zugzwang. Im katalanischen Parlament hat Torra am Dienstagnachmittag dem spanischen Regierungschef ein Ultimatum für Verhandlungen gestellt. Sollte es bis November keine "aufrichtigen" Verhandlungen geben, entziehen die katalanischen Parteien der schwachen Minderheitsregierung von Sánchez ihre Unterstützung. Der Sozialdemokrat kam nur mit Hilfe der katalanischen und baskischen Parteien an die Macht.

Sánchez verscherzt es sich derzeit mit seiner Symbolpolitik auch bei den noch deutlich geduldigeren Basken der Baskisch-Nationalistischen Partei (PNV). Die droht ihm inzwischen längst offen, ihn fallen zu lassen, da Sánchez sogar noch hinter Vereinbarungen mit der PP zurückfalle.

Gibt es in den nächsten zwei Monaten keinen "konkreten" Vorschlag von Sánchez, wie die Katalanen ihr "Selbstbestimmungsrecht" nach Vorbild Schottlands oder Quebecs ausüben können, dann könne man ihm "keinerlei Stabilität garantieren", drohte nun Torra. Die Zeit von Sánchez gehe zu Ende, argumentiert er ganz ähnlich wie kurz zuvor der Chef der Baskisch-Nationalistischen Partei (PNV) Andoni Ortuzar.

Die Unabhängigkeitsparteien wären "sehr geduldig" gewesen, aber "alles habe eine Grenze", hat Torra im Parlament gesagt. Er stellte in Bezug auf die Vorgänge am Vorabend am Parlament deutlich heraus, dass die Gewalt nicht repräsentativ für die Bewegung sei und es sich nur um "isolierte Vorkommnisse" handelte. Gewalt sei nicht der Weg der Unabhängigkeitsbefürworter. "Wir müssen klarstellen, dass unser Kampf stets radikal gewaltfrei ist", sagte Torra unmissverständlich.