Kaufen, Lesen, Sprechen
Zensur zwischen öffentlich und privat. Teil 5: Zensur durch Überwachung
Neben der in den ersten vier Teilen behandelten direkten Zensur, gibt es auch eine indirekt Zensur durch Überwachung. Sie bestimmt sich zum einen daraus, dass das eigene Handeln sich im Bewusstsein des Überwacht-Werdens ändert, und dass bestimmte Äußerungen nicht mehr gemacht werden. Zum anderen regelt Überwachung auch den Zugang zu Informationen, die in einer überwachten Gesellschaft aus Angst vor Repressionen vor den Mühlen einer Bürokratie und vor wirtschaftlichen Nachteilen gemieden werden. Die Auswahl der aufgenommenen Informationen bestimmt wiederum, was gesagt werden kann, und vor allem: was (und wie fundiert) etwas kritisiert werden kann.
In einer Gesellschaft ohne Überwachung könnte man ohne Angst Quellen über den Krieg gegen den Terror nachlesen und sich sowohl im Internet als auch in Bibliotheken über die Konstruktion und die Gefährlichkeit von "Flüssigbomben" informieren - ebenso wie über die verschiedenen Spielarten des islamischen Fundamentalismus. In Ländern mit Gesetzen wie dem Patriot Act, mit Anti-Terror-Dateien, Online-Durchsuchung und Vorratsdatenspeicherung muss man dagegen potentiellen Ärger befürchten.
Stasi 2.0
Auch die heute sehr fern und fremd erscheinende Überwachung in Osteuropa funktionierte nicht anders: Wirft man einen Blick in eine Überwachungsakte der DDR-Staatssicherheit, so findet sich darin als erstes ein Vermerk zu einem Buch über Sprengstoff, mit dessen Bestellung in der Fernleihe der Überwachte die Staatssicherheit auf sich aufmerksam machte, und als nächstes ein Eintrag über einen C64, der den Überwachern ebenfalls verdächtig erschien. Auch in den USA des 21. Jahrhunderts würde die Ausleihe des Buches über Sprengstoff potentiell für ein verschärftes Augenmerk reichen. Und wenn man mit dem C64 ins Internet geht (was technisch durchaus klappt), dann soll das demnächst auch in der BRD Grund genug für die Speicherung aller Daten sein - und eventuell auch für die eine oder andere Online-Durchsuchung. Die Anlässe für Überwachung sind sich relativ ähnlich - nur dass man mit der geplanten Vorratsdatenspeicherung und mit Online-Durchsuchungen weitaus umfassender und kostengünstiger überwacht – und damit auch weitaus größere Bevölkerungskreise genauer ins Visier nehmen kann.1
In den während des kalten Krieges vom Westen kritisierten Staaten reichte das Bewusstsein potentieller Überwachung, dass ein Teil der Bevölkerung lieber den Mund hielt, als das zu sagen, was er denkt. Die Angst vor den Mühlen einer Bürokratie und vor wirtschaftlichen Nachteilen reichten hier aus, um die freie Meinungsäußerung einzuschränken. Auch der Effekt von Vorratsdatenspeicherung, Online-Durchsuchungen und von Anti-Terror-Datenbanken führt dazu, dass Menschen ihr Verhalten danach ausrichten: Lieber nicht mit dem arabischen Kommilitonen reden - man könnte in der Anti-Terror-Datenbank landen, lieber nichts über die Zustände am Arbeitsplatz schreiben - es könnte bei einer Online-Durchsuchung ans Licht kommen. Sich zu den Themen innere Sicherheit und Terrorgefahr lieber auf das verlassen was im Fernsehen kommt, und bloß nicht in Fachbüchern oder im Internet nachsehen – weil das potentiell Verdacht erregen könnte.
Der Zugang zu Information - das was man Lesen kann und darf - bestimmt wiederum das, was gesagt oder geschrieben werden kann: Ohne angstfreien Zugang zu Seiten der GIMF ist man darauf angewiesen, was Fernsehsender aus dritter oder vierter Hand berichten (Vgl. Information und Spektakel). Man sieht hier, dass Aufklärung und Zensur in einem dialektischen Verhältnis stehen: Die Aufklärung führt potentiell zur Abscheu und zum Ruf nach Zensur - der wiederum eine weitere Aufklärung (und damit eine Bekämpfung des Zensierten) verhindert.
Geheim, aber nicht zu geheim
Ist eine Überwachung vollständig geheim, ist sie keine Gefahr für die freie Meinungsäußerung: Da niemand etwas davon ahnt, richtet auch niemand sein Verhalten danach aus. Problematisch wird es, wenn eine Überwachung zwar bekannt gemacht wird, aber die Umstände dieser Überwachung geheim bleiben: Dann richten potentiell alle Bürger eines Rechtsraumes ihr gesamtes Verhalten auf die Überwachung aus, da Sie ja damit rechnen müssen, stets überwacht zu werden.
Problematisch für die Meinungsfreiheit sind deshalb vor allem Überwachungsmaßnahmen um deren Regeln ein großes Geheimnis gemacht wird. Beispiele hierfür sind die geheimen Durchsuchungen und die Beschlagnahme von Bibliotheksaufzeichnungen in den USA, über die die dortige Regierung weder Statistiken veröffentlicht, noch Details zu den Kriterien herausgibt. Auch was die NSA macht und wer auf der No-Fly-Liste steht, soll geheim bleiben.
Die No-Fly-Liste wurde nach den Anschlägen vom 11. September 2001 mit den Systemen "CAPPS" (Computer Assisted Passenger Pre-screening System) und "Secure Flight" erstellt. Die Systeme basieren auf verschiedenen Data Mining Programmen – doch wer warum dort drauf steht und wie er wieder runter kommt bleibt geheim: Es befinden sich aber offenbar nicht nur Islamisten, sondern auch Kriegsgegner auf ihr, wie die 74-jährige (unverschleiert reisende) Nonne Virgine Lawinger aus Milwaukee. Nach Informationen von CBS soll die Liste insgesamt 44.000 Namen enthalten, darunter der des Präsidenten von Bolivien, Evo Morales (Vgl. Saddam Hussein auf der No-Fly-Liste). Eine Klage des Bürgerrechtlers John Gilmore auf Nennung einer gesetzlichen Grundlage für diese Liste wurde damit beschieden, dass es diese gesetzliche Grundlage zwar gäbe, sie aber geheim sei (Vgl. Von den "No Fly"-Listen zu "No Transportation"-Listen?).
In Staffel 1, Episode 3 der Serie 4400 sind die potentiellen Auswirkungen der oben geschilderten Maßnahmen und Befugnisse in wenigen Sekunden recht treffend beschrieben, als Ryland, der Chef einer Homeland-Security-Behörde zu einem Fernsehproduzenten, der ihm unliebsames senden will, sagt:
"You want to talk about the old days? In the old days, I would need a warrant to tap all your phones, to freeze all your assets, and to prevent you from ever being a passenger on any airline in the world. But like you say, it's not the old days any more."
Auch in Deutschland finden sich mittlerweile genügend Beispiele für Maßnahmen und Befugnisse mit diesem Effekt: Wer in der Anti-Terror-Datei steht soll ebenso geheim bleiben wie der Grund, warum er dort hin gelangte oder wie er wieder herauskommen würde. Und über Online-Durchsuchungen soll auch dann nicht im Nachhinein informiert werden, wenn beim Durchsuchten nichts Belastendes gefunden wurde.
Ein entscheidender Unterschied
Doch ist die Annahme einer zensorischen Wirkung angesichts der umfassenden privaten "Databasification" und der freiwilligen Weitergabe privatester Daten für ein paar Cent Rabatt oder ein bisschen Aufmerksamkeit tatsächlich gegeben? Das entscheidende Kriterium liegt im Bewusstsein des Datengebers: Information, die unter der Illusion der Kontrolle über die eigenen Daten freiwillig und/oder aus Dummheit abgegeben wird (etwa auf MySpace) hat keinerlei zensorischen Effekt. Information, die heimlich, ohne Kontrolle durch das Individuum und ohne die Illusion einer solchen Kontrolle, abgegeben wird, wie bei der "Online-Durchsuchung", ist dagegen durchaus von zensorischer Natur. Es wäre deshalb ausgesprochen naiv mit dem Argument der sorglosen freiwilligen Datenweitergabe im MySpace-Zeitalter die Zwangsüberwachung als "halb so schlimm" entschuldigen zu wollen.
Zu Teil 1: Wer wacht über die Wächter?
Zu Teil 2: Kinder, Pornos, Killerspiele
Zu Teil 3: Von Tittmonning nach Tuntenhausen
Zu Teil 4: Virtuelle Hausrechte
In Teil 6 der Serie wird ein abschließender Blick auf das Phänomen Zensur geworfen