Kernkraftwerk, Waffen, TGV - Marokko kauft ein

Der französische Präsident Sarkozy war auf Verkaufstour in Marokko, in das viele Länder investieren, während der Boom bei den Menschen nicht ankommt

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Die französische Trikolore flatterte an jedem verfügbaren Fahnenmast der marokkanischen Hafenstadt Tanger. Sogar Zebrastreifen und Fahrbahnmarkierungen waren Tage zuvor frisch gestrichen worden. Menschen auf der Straße drückte man blau-weiß-rote Fähnchen in die Hand. Wie kaum bei einem anderen Staatsbesuch wollte sich Marokko im besten Licht zeigen. Für drei Tage hatte sich der französische Präsident Nicolas Sarkozy Ende Oktober angesagt, um den marokkanischen König Mohammed VI. und verschiedene Regierungsvertreter zu treffen. Vor allen Dingen sollten die ökonomischen Beziehungen zur vormaligen Kolonie der „Grande Nation“ verbessert werden.

Der Taxifahrer in Tanger, der mich am königlichen Palast für den Empfang von Staatsgästen mitgenommen hatte, war begeistert. Trotz aller Straßensperren, Umleitungen und langer Warteschlangen, die der Staatsbesuch verursachte. „Sarkozy bringt uns Investitionen und wirtschaftlichen Aufschwung“, sagte er euphorisch. Junge Studenten am American Language Center zeigten sich dagegen zurückhaltender. „Was soll man dazu schon sagen“, meinte ein angehender Anwalt. „Die ganze Sache ist weder besonders gut, noch besonders schlecht." Es würden zwar neue Projekte entstehen, aber das Geld bliebe, wie üblich, bei den Reichen. „Zu denjenigen, die es nötig haben, kommt nichts oder nur sehr wenig“, fügte der Mittzwanziger nüchtern hinzu.

Insgesamt 15 Verträge im Wert von 2 Milliarden Euros schlossen Präsident Sarkozy und seine 70-köpfige Delegation von Geschäftsleuten ab. Eine Milliarde davon geht alleine in den Bau einer TGV-Schnellzugverbindung von Tanger nach Marrakesch, einem der beliebtesten Touristenziele Marokkos. Eine Summe, die etwa nur die Hälfte der Gesamtkosten des Zugprojekts ausmacht und die die französischen Gruppe Alstom, die Eisenbahngesellschaft SCNF und der Netzwerkmanager RFF übernehmen. Bereits 2013 soll der die erste Teilstrecke zwischen Tanger und Kenitra eröffnet werden. Diese erste Schnellzugverbindung verkürzt die fünf Stunden Fahrtdauer von Tanger nach Casablanca auf zwei Stunden. Für 200 Millionen Euro kauft Marokko zusätzlich 20 Lokomotiven für den neuen Zugbetrieb von Frankreich und baut ein konventionelles Kraftwerk in der nordöstlich gelegnen Stadt Oujda, unweit der Grenze zu Algerien.

Zur Gewinnung von Uran, das später in einem marokkanischen Kernkraftwerk verwendet werden soll, erzielte man vorerst nur eine Einigung über einen Vertragsentwurf. In den nächsten Wochen soll es dann endgültige Abmachungen über Nukleartechnologie geben, die Frankreich bereitwillig dem Maghreb-Staat zur Verfügung stellt. „Energiequellen der Zukunft sollten nicht alleine eine Domäne der entwickelteren Länder sein, solange internationale Konventionen respektiert werden“, sagte Sarkozy vor dem marokkanischen Parlament in der Hauptstadt Rabat.

Manch einer der Abgeordneten wird wohl gedacht haben, wie einfach es doch sein kann, Nuklearenergie zu bekommen - wenn man eben nicht der Iran ist. Im Falle von Marokko, das selbst immer wieder das Ziel von Anschlägen militanter Islamisten ist (Marokko fürchtet weitere Anschläge), muss sich der Westen über Solidarität keine Gedanken machen. Die USA unterhalten hier Militärbasen und Lauschstationen. Sie produzieren in der Nahe von Tanger auf dem Gelände von Radio Liberty Radiosendungen in arabischer Sprache, die dann von Washington aus versendet werden. Angeblich wurden auch in Marokko, wie in anderen arabischen Ländern, US-Terrorgefangene zu Verhören eingeflogen.

Kein Wunder, dass beim Besuch des französischen Präsidenten auch militärische Lieferungen vereinbart wurden. Für 500 Millionen Euro kauft Marokko eine 6000 Tonne Mehrzweckfregatte. 25 Puma-Hubschrauber und 146 gepanzerte Fahrzeuge der marokkanischen Armee werden modernisiert, sowie neue Hightech Überwachungsgeräte bestellt.

Eigentlich wollte Nicolas Sarkozy den Marokkanern auch den französischen Kampfjet Rafael verkaufen. Doch der war ihnen zu teuer und stattdessen entschied man sich für das wesentlich billigere US-Kampflugzeug F-16. Der französische Präsident soll darüber etwas enttäuscht gewesen sein, aber gerade mit den zivilen Verträgen kann er zufrieden sein.

Bauboom in Marokko

Für Marokko sind die neuen Abkommen mit seiner ehemaligen Kolonialmacht nur ein weiter Baustein in der Zukunftsplanung. Der im Juli 2007 in Betrieb genommen Container-Hafen am Mittelmeer, Tanger-Méditerranné, kostet weit über eine Milliarde Dollar, die neue, angebundene Infrastruktur von mehreren Autobahnen und Zugverbindungen noch gar nicht eingerechnet. 500 Quadratkilometer groß wird das an den Hafen angeschlossene Industriegebiet. In Tanger und der näheren Umgebung entstehen Tourismuskomplexe zu einem Preis von insgesamt zwei Milliarden Dollar. Die Gelder für die Luxuswohnanlagen mit Golf- und Reitplätzen kommen größtenteils aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. An der Atlantikküste zwischen Tanger und der kleinen Hafenstadt Asilah, auf einer Strecke von etwa 25 Kilometer, werden 12 große Hotels in unmittelbarer Meernähe gebaut.

Investitionen aus Frankreich sind nur ein Teil der Gesamtinvestitionen. Die Golfnationen wollen die Gewinne aus dem gegenwärtigen Ölboom langfristig anlegen und das möglichst auch in arabischen Ländern. US-Firmen sind ebenfalls verstärkt in Marokko aktiv, seit am 1. Januar 2006 ein Freihandelsabkommen mit den USA in Kraft trat. Wichtiger Partner ist natürlich auch Spanien, der unmittelbare Nachbar auf europäischem Boden, nur von 14 Kilometern entfernt, auf der anderen Seite der Meerenge von Gibraltar. In den ersten sechs Monaten von 2007 ließen sich 160 spanische Firmen in Marokko nieder. 2008 sollen die Arbeiten an einem Tunnel beginnen, der Marokko und Spanien, Afrika und Europa verbindet. Die Kosten, des aufwendigen, wie schwierigen Projekts werden auf 6,5 bis 13 Milliarden Euro geschätzt. Vor Jahren wurden erste Planungen wieder verworfen, da Wassertiefe, Wasserdruck und Bodenbeschaffenheit des Meeresgrunds unüberwindbare Probleme zu sein schienen. Nun will man es doch wagen. Die Idee einer Brücke zwischen Afrika und Europa wurde damit endgültig verworfen.

Zum positiven Investitionstrend trug das Königreich Marokko am meisten selbst bei. In nur wenigen Jahren bewies das Land, was ihm kaum jemand zugetraut hätte. Binnen der letzten zwei Jahre wurde Tanger und auch andere Städte im Norden Marokkos völlig neu renoviert und deren Infrastruktur verbessert (Wiederwachen der "Weißen Stadt"). Der neue Mittelmeerhafen wurde wie geplant im Juli 2007 in Betrieb genommen. Auch alle anderen Bauvorhaben (Autobahnen, Bahnstrecken) liegen im festgesetzten Zeitplan. Dazu gibt es für ausländische Firmen hohe Steuervorteile.

Im Norden Marokkos herrscht ein wahrer Bauboom. In Tanger und Umgebung explodieren derzeit die Immobilien- und Grundstückspreise. Vor wenigen Jahren bezahlte man für einen Quadratmeter Neubau rund 500 Euro. Heute sind es bis zu 2000 Euro. Die Bewohner Tangers klagen, denn auch die Lebenshaltungskosten und die Mietpreise gehen ebenfalls nach oben. „Alles wird teuerer“, beschweren sich regelmäßig meine Nachbarn. „Und die Gehälter bleiben gleich“, heißt er verärgert und frustriert.

Der Aufschwung kommt bei den Menschen nicht an

Bisher ist vom wirtschaftlichen Aufschwung bei den Normalverbrauchern nichts angekommen. Der Mindestlohn in Marokko beträgt 1800 Dirham (180 Euro). Damit kann man schon lange keine Familie mehr ernähren. Die meisten Familien leben vom Einkommen mehrerer Familienmitglieder oder von den monatlichen Überweisungen eines Verwandten, der als Gastarbeiter im Deutschland, Belgien oder Spanien lebt.

Handwerker arbeiten in Marokko zum großen Teil als Tagelöhner. Auf Plätzen und Märkten bieten sie ihre Arbeitskraft an. Vor ihnen auf dem Boden demonstrativ das Handwerkszeug, Maurerkelle, Pinsel oder Schraubenschlüssel. Im Höchstfall verdienen sie im Monat 3000 bis 3500 Dirham (300 bis 350 Euro). „Wir wohnen etwas außerhalb der Stadt“, erzählt Mohammed, der als freiberuflicher Maurer arbeitet. „Ich zahle für eine kleine Zweizimmerwohnung ohne fließendes Wasser mit Strom aus einer Autobatterie 600 Dirham (60 Euro) Miete. Ich komme aber nur auf rund 2500 Dirham (250 Euro) im Monat und das bei zwei Kindern, die in die Schule gehen“, fügt er verbittert hinzu.

Ob Mohammed zu den 19 Prozent gerechnet wird, die in Marokko als arm gelten, steht wohl zu bezweifeln. Sonst würde die Statistik wesentlich höher ausfallen. Das Pro-Kopf-Einkommen in Marokko liegt bei 4.600 Dollar pro Jahr und sagt wohl alles über die Einkommensverteilung der über 30 Millionen Marokkaner aus. Die Analphabetenrate liegt bei rund 40 Prozent.

König Mohammed VI., der nach dem Tod seines Vaters Hassan II 1999 den Thron bestieg, will mit einer neuen Wirtschaftspolitik in erster Linie Arbeitsplätze für die immer jünger werdende Bevölkerung schaffen. Das soziale Ungleichgewicht zu verändern, ist kurz- wie mittelfristig ein Ding der Unmöglichkeit. 2006 sank die Arbeitslosenzahl zwar offiziell unter 10 Prozent, aber in Wirklichkeit dürfte sie viel höher, wahrscheinlich knapp unter 20 Prozent liegen.

Verdeckte Arbeitslosigkeit ist weit verbreitet. Familienbetriebe stellen Cousins oder Neffen ein, obwohl sie niemanden brauchen. Viele arbeiten als Hausmeister, Türsteher oder Parkplatzwächter, obwohl sie einen Universitätsabschluss haben. Gerade Akademiker frisch von der Universität haben große Schwierigkeiten einen Job zu finden. Die jungen Menschen Marokkos hoffen und erwarten, dass ihnen Mohammed VI. eine Zukunftsperspektive gibt. Sonst werden sie, wie so viele andere vor ihnen, nach Europa auszuwandern. Neue Tourismusprojekte oder auch die Ansiedelung neuer Industriebetriebe mag auf den ersten Blick gut klingen. Letztendlich werden in der Mehrzahl nur Hilfsarbeiter, Arbeitskräfte am Fließband oder im Dienstleistungssektor Kellner, Putzfrauen und Sicherheitsleute gesucht. Die Manager, die Chefs und Abteilungsleiter, das Führungspersonal kommen in der Regel aus dem Ausland.