Kiew lässt politische Opponenten verhaften

Ex-Gouverneur der ostukrainischen Stadt Charkow in Kiew verhaftet. Nicht alle Russen machen mit beim Jubel um die Rückgewinnung der Krim

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Der ukrainische Übergangspräsident, Aleksandr Turtschinow, erklärte gegenüber der französischen Nachrichtenagentur AFP, die Ukraine werde keine Truppen auf die Krim schicken. Mit einer militärischen Operation auf der Krim gefährde man die Ost-Grenze der Ukraine.

Unterdessen geht die neue Macht in Kiew rigoros gegen den russischen Einfluss und die bekannten Vertreter der prorussischen Bewegung in der Ost-Ukraine vor. Am Dienstag wurden die russischen Fernsehkanäle ORT, RTR Planeta und NTW-Mir in der Ukraine abgeschaltet. Außerdem wurde am Montag der abgesetzte prorussische Gouverneur des ostukrainischen Gebietes Charkow, Michail Dobkin, verhaftet. Gegen ihn wird wegen Separatismus ermittelt. Am Dienstag wurde Dobkin zu Hausarrest verurteilt, den er in seiner Kiewer Wohnung verbüßen muss. Dobkin hatte angekündigt, dass er zu den ukrainischen Präsidentschaftswahlen am 25. Mai kandidieren will.

Gegen den Bürgermeister von Charkow, Gennadij Kernes, laufen ebenfalls Ermittlungen wegen Separatismus. Dobkin und Kernes hatten unmittelbar nach dem Machtwechsel in Kiew einen Kongress der russischsprachigen Gebiete der Ukraine in Charkow organisiert, wo beschlossen worden war, die russischsprachigen Gebiete selbstständig zu verwalten und sich der neuen Macht in Kiew nicht unterzuordnen (Ukraine: Neue Machtstrukturen zeigen sich).

Bereits am 6. März wurde der auf einer Kundgebung als "Volksgouverneur" der ostrussischen Stadt Donezk gewählte prorussische Aktivist Pawel Gubarew in seiner Wohnung von Beamten des ukrainischen Geheimdienstes SBU verhaftet. Gegen den Aktivisten, der zu zwei Monaten Haft verurteilt wurde, wird wegen "Umsturzversuch" ermittelt.

Moskau schreibt Dmitro Jarosch zu internationalen Fahndung aus

Moskau blieb unterdessen ebenfalls nicht untätig. Heute erließ ein Moskauer Gericht einen Haftbefehl gegen den Leiter des ukrainischen "Rechten Sektors", Dmitro Jarosch. Dem Verurteilten wurde in Abwesenheit Aufruf zum Terrorismus vorgeworfen. Jarosch hatte auf der Website des Rechten Sektors im Netzwerk vkontakte.ru den tschetschenischen Terroristen Doku Umarow um Unterstützung im Kampf gegen Russland aufgerufen. Die russischen Ermittler gaben bekannt, Jarosch sei zur internationalen Fahndung ausgeschrieben worden (Yarosh, der Führer des Rechten Blocks, tritt als Präsidentschaftskandidat an).

Der gestürzte ukrainische Präsident Viktor Janukowisch trat gestern erneut vor Journalisten in südrussischen Rostow am Don auf. In einem Saal des Ausstellungszentrums VertolExpo erklärte Janukowitsch mit seinem Auftritt wolle er auch Gerüchten entgegentreten, dass er schwer krank sei. Seine Absetzung und die neue Regierung in Kiew bezeichnete Janukowitsch als ungesetzlich. Während des Umsturzes habe er die Ukraine "nicht verlassen". Gegen ihn seien in der Ukraine "terroristische Methoden" angewandt worden. "Sobald es die Umstände zulassen, und ich bin überzeugt, dass ich nicht lange warte, werde ich auf jeden Fall nach Kiew zurückkehren." Doch wie er in die Ukraine zurückkehren will, sagte Janukowitsch nicht.

Bei seiner ersten Ansprache in Rostow - Ende Februar - hatte Janukowitsch berichtet, das Begleitfahrzeug, das sein Auto auf der Fahrt von Kiew nach Charkow "deckte", sei beschossen worden. Außerdem hatte der gestürzte Präsident sich noch gegen die Abtrennung der Halbinsel von der Ukraine ausgesprochen. Doch bei seiner gestrigen Ansprache erwähnte Janukowitsch das Referendum auf der Halbinsel nicht.

Janukowitsch verurteilte den Plan, Kämpfer der Ultranationalisten in die ukrainische Armee einzugliedern und ihnen Waffen zu geben. Er frage "die Beschützer dieser dunklen Kräfte im Westen", ob sie "erblindet" seien und "vergessen haben, was Faschismus ist." Der zweite Auftritt von Janukowitsch in Rostow dauerte nur acht Minuten. Fragen von Journalisten wurden nicht beantwortet.

Warum stürzte der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch? Hat ihn der Maidan zu Fall gebracht oder seine Selbstüberschätzung? War Janukowtisch Opfer eines Männlichkeits-Wahns, wie Blogger in einer Foto-Montage nahelagen? Um einen Staat zu lenken, reicht Männlichkeit nicht aus. Das hat auch Wladimir Putin erkannt, der vom harten Jäger in Sibirien umsattelte auf den Retter sibirischer Störche.

Kluge Berater, welche die Stimmungen im Volk und die Kräfte der Opposition beobachten, hat Janukowitsch offenbar nicht gehabt. Janukowitsch fuhr einen Schlingerkurs, mal wollte er mehr mit Russland, mal mehr mit der EU zusammenarbeiten, mal zeigte er Härte gegen Demonstranten, mal machte er Zugeständnisse und entließ über 200 Verhaftete aus Gefängnissen. Eine Vision, wie sie Putin hat - Russland als starkes Land wieder aufbauen -, hat Janukowitsch nie gehabt. Mit seinem Schlingerkurs und der Begünstigung von Familienangehörigen hat er letztlich sogar seine eigenen Anhänger verprellt.

Lachen über den Tölpel

Im Westen hält sich beharrlich die Meinung, Janukowitsch sei ein Mann Moskaus. Doch dem ist nicht so. Putin hielt von seinem ukrainischen Amtskollegen nicht viel. Bei vereinbarten Treffen lies der Kreml-Chef den ukrainischen Präsidenten oft stundenlang warten. Die im russischen Internet über Janukowitsch kursierenden Karikaturen und Videos, zeigen den gestürzten Präsidenten als Tölpel, der um russisches Gas bettelt. "Vitja, unsere Länder sind so gleich wie zwei Flaschen Mineralwasser" (Grafik Nr. 12), meint Premier Dmitri Medwedew kumpelhaft in einem der Witze. Janukowitsch antwortet treuherzig "Nun, ja", worauf Medwedew genüsslich nachlegt: "Nur, dass die eine Flasche kein Gas hat."

Janukowitsch bot Karikaturisten - nicht nur in Russland - viel Stoff. Die aserbaidschanische Zeitung Zerkalo zeigte den ukrainischen Präsidenten im Dezember in einer Karikatur beim Telefonieren mit Putin. Janukowitsch erzählt ganz stolz: "Ich habe den Maidan", worauf Putin antwortet: "Ich habe den neunten Dan" (Karikatur). Dan ist ein Meistergrad im japanischen Kampfsport). Da ist er wieder, der Tölpel Janukowitsch, der von Machterhalt nichts versteht.

Die Spötter verulken den ukrainischen Präsidenten gerne als Staatsmann ohne Format, als den Kumpel, der sich einschmeicheln will, weil er nichts hat, mit dem er seine Macht beweisen kann. In Russland sorgte ein Video für Furore, das Janukowitsch, Putin und Medwedew 2008 in Kiew auf einer Tribüne während einer Parade zeigt. Janukowitsch - Süßigkeiten kauend - bietet auch den beiden Gästen aus Russland Süßigkeiten an. Medwedew greift zu, Putin lehnt sichtlich genervt ab.

Russische Armutsgebiete fordern Hilfe "wie bei der Krim"

Putins Entschluss, die russischsprachige Bevölkerung in der Ukraine durch die Entsendung von russischen Truppen vor der "anti-russischen" Regierung in Kiew zu schützen, hat nun Bürger in verarmten russischen Regionen inspiriert, es den Menschen auf der Krim gleichzutun. In süffisanten Offenen Briefen an Putin fordern sie ebenfalls Hilfe der russischen Armee und die Vereinigung mit Russland. Damit hoffen sie die Anhebung des Lebensniveaus in ihren Regionen auf den russischen Durchschnitt.

Am 5. März schrieben Bürger des nordrussischen Gebietes Wologda einen Brief an Putin, indem sie erklären, die Rechte der russischsprachigen Bevölkerung würden verletzt: "Unsere Kranken bekommen nicht die für sie nötigen Medikamente, das Niveau unserer Bildung fällt von Jahr zu Jahr, Spiel-Gruppen für Kinder werden geschlossen, die Landwirtschaft ist fast vernichtet. Wir leiden alle sehr." Mit Hilfe "von unehrlichen Wahlen" hätten "Okkupanten die Macht erobert". Das Geld für die Krim solle lieber für den Bau von Straßen, Sportplätzen und Industrie-Ansiedlungen im Gebiet Wologda ausgegeben werden.

Kein Gasanschluss in den Dörfern des Gebietes Twer

Ein paar Tage später meldeten sich in der Novaya Gazeta Bürger aus dem nordwestlich von Moskau gelegenen Gebietes Twer mit einem Offenen Brief an Putin zu Wort. Sie appellieren an den "Schützer der Russen auf der ganzen Welt", so wie für die Krim auch für das Gebiet Twer humanitäre Hilfe und russische Truppen zu schicken und das Gebiet mit Russland "zu vereinen". In den Dörfern liege der Monatsverdienst bei nur 140 Euro, während das Durchschnittsgehalt in Russland bei 600 Euro liegt. Die russischen Soldaten könnten den Pensionären helfen, Holz zu hacken. Denn nicht alle Rentner hätten genug Geld, um sich für 400 Euro das Holz für den Winter zu kaufen. In den Dörfern des Gebietes gäbe es Elektrizität nur mit Unterbrechungen, klagen die Briefschreiber. Die meisten Orte des Gebietes seien nicht an die Gasversorgung angeschlossen. Viele Bürger könnten sich das nicht leisten, denn ein Gasanschluss koste 800 Euro.

Das Gebiet Twer entvölkert sich allmählich. Wer kann, suche sich eine Arbeit in Moskau oder St. Petersburg. Zwischen 1990 und 2012 habe die Bevölkerung im Gebiet um 19 Prozent (über 300.000 Menschen) abgenommen. Eine Änderung der Situation sei nicht in Sicht, weil der "inkompetente Gouverneur" des Gebietes keine unabhängigen Medien zulasse. PR-Kampagnen gegen politische Opponenten würden "mit Millionen Rubel von Haushaltsgeldern" finanziert. Die letzte Hoffnung sei deshalb der Einmarsch russischer Truppen in das Gebiet Twer.