Kobane will Waffen, keine Peschmerga-Kämpfer
Ist die Zusage der Türkei, Peschmerga-Kämpfer aus dem Nordirak zur Unterstützung von Kobane durchreisen zu lassen, ein perfides taktisches Spiel?
Trotz der Waffenlieferungen an die Kurden und der fortgesetzten Luftangriffe auf Stellungen des IS in und um Kobane haben die IS-Kämpfer nach kurzzeitigem Rückzug die Angriffe auf die Stadt von allen Seiten wieder aufgenommen. Die türkische Regierung, die von Washington unter Druck gesetzt wurde, die Waffenlieferungen und den Transit von Peschmerga-Kämpfern aus dem Nordirak nach Kobane zuzulassen, scheint aber weiterhin nicht bereit zu sein, unter den von den USA gestellten Bedingungen in den Krieg gegen den IS einzusteigen und seine Stützpunkte dafür zu öffnen.
Die Pressesprecherin des US-Außenministeriums, Marie Harf, sprach von "produktiven Gesprächen" und wollte nichts von einem Bruch zwischen der amerikanischen und türkischen Regierung wissen, machte aber klar, dass der Türkei wohl nichts anderes übrig blieb, als die amerikanische Entscheidung zu dulden. Der US-Außenminister Kerry hatte gegenüber Ankara deutlich gemacht, dass die YPG nicht wie die PKK auf der Terrorliste stünde und man ihr daher, trotz der Nähe zur PKK, helfen könne. Ähnlich stellte auch der Pressesprecher des Weißen Hauses die Gespräche mit der türkischen Regierung dar. Die Waffen sollen von den Kurden im Nordirak stammen, ob dazu auch solche gehören, die die USA oder auch Deutschland gerade an die Peschmerga geliefert haben, will man nicht sagen.
Das plötzliche Engagement der US-Regierung, den Kurden auch mit Waffen und Munition zu helfen sowie Peschmerga-Einheiten zu entsenden, bindet freilich Washington an Kobane, das die Diskussionen derzeit beherrscht. Sollte die Stadt doch vom IS erobert werden, wäre dies auch eine Schmach für die USA, auch wenn Militärs immer wieder sagen, es sei nicht sicher, ob die Kurden die Stadt verteidigen können werden. Gestern wurden nach Angaben des Pentagon wieder Stellungen, ein Gebäude und "eine große Einheit" bombardiert und zerstört. Unklar bleibt wie meist, ob die Ziele wirklich getroffen wurden und welchen Schaden sie bewirkt haben. Der IS hingegen ist wohl erst recht entschlossen, die zum Symbol für den Widerstand gewordene Stadt einzunehmen, um seine Macht zu demonstrieren. Allerdings könnten die USA, wenn der IS die Kurden aus der Stadt vertreiben könnte, ihre militärische Überlegenheit voll ausspielen und die Stadt in Schutt und Asche legen, während sie jetzt nur gezielte Schläge führen können.
Die Terrormiliz kann ihre todestrunkenen Gotteskrieger bislang ohne Rücksicht verheizen und direkt oder indirekt zu Selbstmordattentätern machen. Zwar schweigt der IS über Verluste in den eigenen Reihen, veröffentlicht aber zur Propaganda auch für die eigenen Anhänger Videos von den Selbstmordanschlägen und den Ausführenden der "Märtyreroperationen" in Kobane. Behauptet wird allerdings auch, dass am Montag ein ferngelenktes Fahrzeug, gefüllt mit Sprengstoff, in Kobane eine gewaltige Explosion verursacht hat. Ob das auf einen Mangel an Todeswilligen oder auf eine neue Strategie hindeutet, die menschliche Selbstmordtäter durch ferngelenkte Roboter ersetzt oder ergänzt, ist nicht zu sagen. Man demonstriert jedenfalls Freude, dass die Amerikaner ihre Behälter nicht nur für die Kurden abgeworfen haben, sondern dass zumindest einer auch in die Hände des IS geraten ist. Nach einem veröffentlichten Video sollen sich darin Waffen befunden haben. Das Pentagon hatte auch von einem Behälter gesprochen, der in die Hände des IS geraten, aber durch einen weiteren Angriff zerstört worden sein soll. Nach der Veröffentlichung des Videos heißt es aus dem Pentagon, man werde das überprüfen.
Ob die Kämpfer der YPG in Kobane tatsächlich auch die Unterstützung von Peschmerga-Kämpfern wollen, ist fraglich. Sie dürften sie jedenfalls nicht erbeten haben. Möglicherweise hat hier die Türkei gar nicht eingelenkt, sondern hat taktisch gehandelt, schließlich hat die türkische Regierung seit einiger Zeit enge Beziehungen zur Autonomen Region Kurdistan und deren Präsident Barsani von der Demokratischen Partei Kurdistans (DPK) und unterscheiden sich die politischen Vorstellungen der syrischen und der nordirakischen Kurden. Die Peschmerga könnten so als eine Art Trojanisches Pferd gedacht sein, um einen Einfluss der Türkei zu sichern. Die YPG bzw. die PYD (Partei der Demokratischen Einheit ) haben stets eine direkte Hilfe der Türkei ebenso abgelehnt wie die Einrichtung einer Schutzzone, weil sie um ihre Eigenständigkeit fürchten. Der türkische Präsident Erdogan hat ja erst kürzlich erneut klar gemacht, dass er die YPG nicht anders als den IS betrachtet.
Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu erklärte gestern, dass noch keine Peschmerga-Einheiten in die Türkei eingereist seien. Man sei noch in Gesprächen über die Route, Einzelheiten würden nicht bekannt gegeben. Man habe keinem Korridor zugestimmt, fügte er an, um Kobane militärische Hilfe zukommen zu lassen. Legitim verteidigen könnten Kobane die Freie Syrische Armee oder eben die Peschmerga, offenbar nicht die YPG oder die syrischen Kurden. Warum ausgerechnet die aus dem Irak stammenden Peschmerga "legitim" Kobane verteidigen dürfen, bleibt des Außenministers Geheimnis. Klar ist, dass man nur Kräfte unterstützt, die die Türkei kontrollieren können. Er wiederholte, dass die YPG eine Terrororganisation sei und dass die Türkei es ablehne, dieser Waffen zu liefern, womit er sich auch gegen die USA stellt. Er sagte auch, dass die YPG die Intervention der Peschmerga in Nordsyrien ablehnt, weil die YPG die Kontrolle über Kobane behalten wolle. Das Spiel ist also ziemlich durchsichtig.
Angeblich sollen aus dem Nordirak vor allem schwere Waffen nach Kobane gebracht werden. Der Konvoi werde nur von so vielen Pschmerga-Kämpfern du Beratern begleitet, wie dies dafür notwendig sei. Das sei mit der YPG so beschlossen worden. Heute werde das kurdische Parlament der Autonomen Region Kurdistan über die Entsendung abstimmen. Aus Kobane gibt es eine andere Haltung. Der "Regierungschef" des Kantons Kobane, Anwar Muslim, betonte, man brauche keine Kämpfer der Peschmerga, sondern nur Waffen, Kämpfer habe man selbst genug. Es sei besser, wenn die Peschmerga in ihrem Gebiet kämpfen.
YPG-Sprecher Zîlan Kobanê fordert die Peschmerga auf, lieber den vom IS eingeschlossenen Jesiden in Sindschar zu helfen: "Now #PDK wants 2 "send Peshmerga" 2 #Kobane. Wtf are PDK not doing something 4 #Sinjar were they already have Peshmergas?" Wenn die PDK wirklich helfen wollen, solle sie Waffen und Munition schicken und es ermöglichen, dass YPG-Kämpfer aus den anderen Kantonen nach Kobane kommen können.
Civaka Azad, das Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, berichtet, dass Asya Abdullah, die Co-Vorsitzende der PYD telefonisch gestern Abend erklärt habe, "dass der Islamische Staat (IS) eine chemische Waffe im Kampf gegen Kobanê eingesetzt hat. 'Sie haben eine chemische Waffe in die Stadt abgefeuert. Durch das Gas, das aus dieser Waffe entweicht, können die Menschen im Umfeld des Einschlags nicht mehr sehen, nicht mehr atmen und werden ohnmächtig', erklärt Abdullah. Die chemische Waffe wurde zeitgleich mit einer Großoffensive des IS auf das Stadtzentrum von Kobanê eingesetzt."
In den letzten Tagen ist die Vermutung aufgetaucht, dass der IS im Irak chemische Waffen aus der Hussein-Zeit erbeutet haben könnte (Alte irakische Chemiewaffen in den Händen des Islamischen Staats?). Die Kurden in Kobane verdächtigen den IS, bereits im Juli chemische Waffen eingesetzt zu haben, an denen drei Kämpfer starben ("Türkische Truppen sind nicht die Söldner des Westens").