Kommentar: Selbstbeweihräuchernde Partei Deutschlands

Seite 2: Andrea Nahles und ALG II - die große Seifenblase

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Kritik an Andrea Nahles klingt wie eine der "üblichen SPD-Kritiken", fußt jedoch auf nachvollziehbaren Fakten. Ihre einzelnen Verbesserungsvorschläge hinsichtlich ALG II können daher einzeln auf das, was Frau Nahles bisher diesbezüglich getan hat, abgekopft werden. Dieser Betrachtung liegt das Dokument "Arbeit - Solidarität - Menschlichkeit. Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit - Teil I: Arbeit" zugrunde.

Anhebung der Bagatellgrenze

Einer der letzten Punkte in der Absichtserklärung ist die Erhöhung der Bagatellgrenze bei Rückforderungen. Einfach erklärt gibt es einen Betrag, bei dem das Jobcenter gewissermaßen sagt: "Hier würde eine Rückforderung zu viel Personal und Zeit benötigen, also vergessen wir sie einfach". Eine Praxis, die beispielsweise vor etlichen Jahren auch bei der Bezahlung von Strafen für ordnungswidriges Parken angewandt wurde. Kenner dieser Praxis überwiesen letztendlich nie die gesamte Summe - wohlwissend, dass der fehlende Betrag unterhalb der Bagatellgrenze lag.

Eine Anhebung dieser Bagatellgrenze ergibt daher Sinn, würde sie doch dazu führen, dass die Jobcenter nicht damit beschäftigt wären, sich mit geringfügigen Rückforderungen zu befassen. Für die Jobcenter gab es bereits einen Spielraum, was die Rückforderungen angeht - ob sie in solchen Fällen tätig wurden, lag in ihrem Ermessen. Dieser Spielraum lag bei Beträgen bis zu 7 Euro.

2015 kam es jedoch zu einer Änderung: Die Bagatellgrenze wurde aufgehoben. Sämtliche Forderungen, so die Weisung zweier Bundesminister, sollten auf "Soll" gestellt und erfasst werden, die Fallzahlen begannen in die Höhe zu schnellen. Das Ergebnis sind Rückforderungen in Höhe von 18 Millionen Euro an Kleinbeträgen unter 50 Euro, die unter Einsatz von rund 60 Millionen Euro durchgesetzt wurden. Die beiden Bundesminister, die diese Weisung gaben, waren Wolfgang Schäuble und Andrea Nahles.

Vier Jahre nachdem also Frau Nahles gemeinsam mit Wolfgang Schäuble dafür sorgte, dass die bisherige Bagatellgrenze nicht mehr berücksichtigt wurde, ist nun in ihrem neuen Grundsatzprogramm zu finden, dass sie die Bagatellgrenze anheben will. Wenn aber die Weisung, die Bagatellgrenze nicht zu berücksichtigen, weiter besteht, würde eine Anhebung dieser Grenze letztendlich lediglich eine kosmetische Veränderung bedeuten. Über die frühere Weisung, die Grenze nicht zu beachten, verliert Frau Nahles jedoch kein Wort.

Unterstützung darf niemals als Stigma verstanden werden

"Der Sozialstaat muss die Würde des Einzelnen achten. Unterstützung zu brauchen, darf niemals als Stigma empfunden werden", so liest es sich in dem Konzept, das zur Zeit (nicht nur) von der SPD gefeiert wird:

Mit diesem Konzept eröffnen wir eine Reihe von Reformvorschlägen zum 'Sozialstaat für 7 eine neue Zeit'. Antworten für die Sozialstaatsbereiche der Alterssicherung, Gesundheit 8 sowie Pflege und Wohngeld werden folgen. Hier konzentrieren wir uns auf Chancen und 9 Schutz in der neuen Arbeitswelt.

Wer deutliche Worte zu den letztjährigen Bemühungen mancher SPD-Granden zum Thema ALG II erwartet, wird enttäuscht. Andrea Nahles wischt diese Kommentare nicht beiseite, sie ignoriert sie einfach, als hätten sie nie stattgefunden.

Egal, ob Wolfgang Clement und seine herbeifabulierte "25% Missbrauchsquote", Kurt Becks Rasurempfehlungen oder Thilo Sarazzins Tiraden - die vielen kleinen oder großen Beiträge der SPD, um ALG II-Empfänger als Parasiten und Schnorrer, als faule Arbeitsunwillige, dastehen zu lassen, werden mit keiner Silbe erwähnt. Stattdessen wird eine Selbstverständlichkeit als etwas Besonderes verkauft: "Der Sozialstaat muss die Würde des Einzelnen achten."

Wer meint, dies sei eine sehr gute Idee, dem muss beigepflichtet werden. Denn dies ist immerhin der erste Artikel des deutschen Grundgesetzes:

Art 1. (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

Was hier also in dem neuen Sozialstaatkonzept betont wird, ist nichts anderes, als dass sich die staatliche Gewalt (also auch die in einem Jobcenter) zu Artikel 1 GG bekennt. Tatsächlich wäre alles andere grundgesetzwidrig. So ist also dieser Satz allein schon ein Blendwerk. Eine Idee, die wie eine Selbstverständlichkeit als positive Neuerung dargestellt wird.

Entweder haben sich die Jobcenter bisher grundgesetzwidrig verhalten, indem sie den Artikel 1 GG nicht beachtet haben - oder aber sie haben dies stets getan, so dass dieser Satz in dem neuen Konzept irrelevant ist. Gleiches gilt für den Satz: "Und das heißt schließlich: Der Sozialstaat muss den Einzelnen und sein Schicksal respektieren."

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.