Kostenlose Bildung für alle
Seit fast zwei Monaten befinden sich Professoren und Studierende in Griechenland im Dauerstreik. Sie protestieren gegen geplante Änderungen in der Hochschulgesetzgebung.
Über Monate hatte die Regierung die Gesetzesvorlage unter Verschluss gehalten. Erst am Donnerstag standen die geplanten Veränderungen des Hochschulgesetzes in allen Zeitungen. Gleichzeitig gingen am selben Donnerstag zum wiederholten Male Tausende von Studierenden auf die Strasse.
Angeblich soll das Gesetz die notwendige Bildungsreform in Griechenland einleiten. Unter anderem wird dem „ewigen Studenten“ den Kampf angesagt – bisher gab es keine zeitliche Begrenzung für ein Studium in Griechenland. Die nun vorgesehene Höchstgrenze der Studiendauer wird massenweise Abiturienten am Studieren hindern, befürchtet man nicht nur in Studierendenkreisen. Das Gesetz sieht einen Aufschlag von 50 Prozent auf die meist 4 Jahre betragende Regelstudienzeit vor. Betroffen davon wären natürlich in erster Linie Kinder aus Arbeiterfamilien, die sich ihr Studium selbst verdienen müssen. Eine dem deutschen BAföG gleichende staatliche Förderung für schwächer gestellte Studierende gibt es in Griechenland nicht.
Geht es nach dem Willen der Regierung, so wird in Zukunft auch die derzeit bereits sehr ausgehöhlte Lehrmittelfreiheit abgeschafft. Nur noch ein Skript pro Vorlesungsreihe wird dann noch kostenlos zu Verfügung stehen. Jeder Mehrbedarf an Literatur ist kostenpflichtig. Auch Mensen und Studierendenwohnheime sollen in Zukunft privaten Betreibern offen stehen. Professoren und Studierende fordern dagegen seit Jahren die Aufstockung der Mittel für die chronisch unterfinanzierten Universitäten. Dafür und gegen schon in der Vergangenheit geplante Einschränkungen der weitreichenden Hochschulautonomie hatte es schon in frühren Jahren langanhaltende und massenhafte Proteste von Lehrenden und Lernenden gegeben.
Kampf ums Bildungsmonopol
Die derzeitigen Hochschulproteste aber sind die stärksten seit Jahren. Diesmal nämlich soll es der staatlichen Bildung insgesamt an den Kragen gehen. In Artikel 16 der griechischen Verfassung ist der Staat als alleiniger Verantwortlicher für eine kostenfreie und allgemeine Bildung festgeschrieben. Dieses staatliche Bildungsmonopol will eine große Koalition aus regierender konservativer Nea Dimokratia und „oppositioneller“ sozialdemokratischer PASOK im Zuge der im Herbst geplanten Verfassungsänderung kippen. Im Einklang mit der im Lisabon Prozess geplanten EU-weiten „Bildungsreform“ sollen auch in Griechenland private Hochschulen zugelassen und ihre Abschlüsse den staatlichen gleichgestellt werden.
Während die Befürworter EU-weit von einer an die Erfordernisse des Marktes angepasste Ausbildung sprechen, fürchten die Gegner ein Absinken der Qualifikation. Anstelle eines allgemeingültigen Abschlusses mit vergleichbarem Diplom träten dann angesammelte Zeugnisse über belegte Kurse und Lehrgänge. Jedem Unternehmen stünde es frei, sich durch Einmischung in die Lehre maßgeschneiderte Arbeitskräfte, anders ausgedrückt „Fachidioten“, zu erziehen.
Auch wäre ein Studium an einer privaten Hochschule natürlich mit nicht unerheblichen Kosten verbunden. Und während ihre Kommilitonen in Deutschland derzeit mit ungewohnt nachhaltigen Protesten gegen die Einführung von Studiengebühren an den staatlichen Hochschulen kämpfen, geht es den griechischen Studierenden um die Vermeidung von kostenpflichtiger Bildung überhaupt.
Stärkste Streiks seit Jahren
Wie auch in anderen Ländern Europas sorgte die geplante Einführung privater Hochschulen in Verbindung mit der Änderung des Hochschulrechtes schon vor geraumer Zeit für den Beginn eines allgemeinen Aufstands. In Griechenland traten nach mehreren ein- und zweitägigen Warnstreiks die Professoren fast aller Hochschulen des Landes Ende Mai in den Dauerstreik. Gleichzeitig tagte überall die Generalversammlung der Studierenden, das höchste beschlussfassende Gremium der Studentenvertretung, um Mittel und Wege des Studierendenprotestes zu beschließen.
Das erst von einzelnen Fachbereichen und Hochschulen beschlossene Mittel der Universitätsbesetzung bereitete sich innerhalb kurzer Zeit wie ein Lauffeuer aus. Hielten die Studierenden in der ersten Woche noch unter hundert Institute besetzt, so ist diese Zahl mittlerweile auf über 400 angestiegen. Um den Überblick zu behalten, ist man in Studierendenkreisen dazu übergegangen, lieber über die wenigen Dutzend nicht-besetzten Institute Buch zu führen.
Von den Streiks und den Besetzungen der Hochschulen sind auch die Abschlussprüfungen betroffen. Genau wie in Deutschland gibt es in Griechenland zu Beginn eines Semesters Wiederholungsprüfungen als zweite Chance für die bei den Prüfungen am Ende des letzten Semesters Durchgefallenen. Da die Abschlussprüfungen jetzt ausfallen, wird man wahrscheinlich zu Beginn des Wintersemesters eine doppelte Prüfungsperiode einlegen. Die Studierenden werden also trotz jetzt ausgefallener Prüfungen im September eine normale und bei Bedarf eine Wiederholungsprüfung ablegen können. Dieses Verfahren hat sich für Streikende und sonstige Studierende schon in vergangenen Jahren, in denen Prüfungen durch Streiks ausfielen, bewährt. Wohl genau aus diesem Grunde sieht das Gesetz ein Verbot der doppelten Prüfungsperiode vor. Der Preis für die Verteidigung von Bildungsrechten soll in die Höhe getrieben, „brave“ Studierende in Zukunft gegen streikende „Chaoten und Faulenzer“ aufgebracht werden.
Zwei geltende Regelungen sind bei den derzeitigen wie schon bei früheren gesellschaftlichen Auseinandersetzungen von unschätzbarem Wert. Einmal haben Professoren in Griechenland – anders als ihre deutschen Kollegen – ein Streikrecht. Zum anderen und das ist vielleicht noch wichtiger, gilt hier ein absolutes Hochschulasyl. Nur auf einstimmigen Beschluss eines dreiköpfigen Gremiums, in dem neben einem Hochschullehrer und dem Leiter der Hochschule auch ein Studierender vertreten ist, kann die Polizei auf das Hochschulgelände gerufen werden. Eine Räumung besetzter Institute, wie wir sie derzeit überall in Deutschland erleben, ist damit ausgeschlossen.
Gegen die ebenfalls in der Gesetzesvorlage vorgesehene Aufweichung des Hochschulasyls laufen nicht nur die Studierenden Sturm. Ausgerechnet der Rektor einer Hochschule, aus der heraus sich immer wieder Anarchisten mit Polizisten stundenlange Schlachten mit Molotow-Brandsätzen, Steinen und Tränengas liefern, verteidigt das Hochschulasyl als unabdingbar für studentischen Widerstand. Andreas Andreopoulos, Leiter der berühmten Athener Universität Polytechneion wandte sich öffentlich scharf gegen Pläne, in Zukunft den Einfluss der Studierenden durch die Einführung von Mehrheitsbeschlüssen auszuhebeln. Die Polytechneion Universität wurde am 17. November 1973 während der griechischen Militärjunta (1967-1974) Schauplatz eines blutigen Massakers, als die Panzer der Diktatur einen Aufstand von Studierenden niederwalzten.
Vielfältige Aktionen des Widerstandes
Aus den besetzten Hochschulen heraus werden zahlreiche Veranstaltungen und Protestaktionen organisiert. Vor den Hochschulen verteilen fast täglich Gruppen von Studierenden Flugblätter an Passanten. Beliebtes Mittel, seine Forderungen und Ansichten weiter zu verbreiten, ist auch die kurzzeitige Blockade von Straßen. Dabei werden in aller Schnelle Plakate und Spruchbänder an die zum Halten gezwungenen Busse geklebt, die dann die Parolen des Hochschulstreikes durch die Stadt spazieren fahren.
Seit Mitte Mai finden jeden Donnerstag Demonstrationen von Studierenden statt. Und zwar abwechselnd dezentral in verschiedenen Städten Griechenlands und zentral als griechenlandweite Demonstration in der Hauptstadt. Dabei geht die Polizei mit ungewohnter Härte gegen die Demonstrierenden vor. So schossen die Beamten der Sondereinheiten bei einer Demonstration am 8. Juni ohne erkennbaren Grund mit Tränengasgranaten in die völlig unvorbereitete Menge vor dem griechischen Bildungsministerium. Bei den Angriffen der Polizei wurden auch zwei Kameraleute verletzt, die sich schützend vor Demonstrierende stellten. In den darauffolgenden Auseinandersetzungen wurden zahlreiche Demonstranten verletzt. Auch bei anderen Demonstrationen kam es zu Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht. Während die Polizei vorwiegend Tränengas einsetzte, flogen im Gegenzug Steine und Molotow-Cocktails gegen die Beamten. Fensterscheiben von Banken und Geschäften gingen zu Bruch, mehrere Autos in Flammen auf.
Weil die Aggression bei den bisherigen Auseinandersetzungen oft unverkennbar von der Staatsmacht ausging und Tränengas und Polizeiknüppel wahllos auf die Menge niedergingen, haben die Studierenden die öffentliche Meinung auf ihrer Seite. „Sonderpolizei und Gewalt sind keine Bildungsmethoden“, lautet die auch von bürgerlichen Fernsehsendern aufgegriffene Parole der Demonstranten. Bei der Demonstration am vergangenen Donnerstag hielt sich die Polizei dann auch zurück.
Verbündete suchen die Studierenden vor allem bei den griechischen Werktätigen. Die Gewerkschaften jedoch sind zurückhaltend. Zwar haben die beiden Gewerkschaftsdachverbände in der privaten Wirtschaft, GSEE, und im öffentlichen Dienst, ADEDY, die Studierenden ihrer vollen Solidarität versichert. Auf den Druck der Studierenden, die eine Beteiligung der Gewerkschaften an den Demonstrationen fordern, konnte sich die GSEE aber gerade einmal zum Aufruf einer dreistündigen Arbeitsniederlegung für den vergangenen Donnerstag aufraffen. Auch die Mitglieder der ADEDY, die immerhin einen 24stündigen Streik ausgerufen hatte, konnte man unter den in die Tausende zählenden Demonstrationsteilnehmer am Donnerstag an einer Hand abzählen. Nur die kommunistisch orientierte Gewerkschaftsfront PAME war nicht nur in dieser, sondern auch schon in vorangegangenen Demonstrationen mit einem starken Block vertreten.
Aussichten auf einen heißen Herbst
Voraussichtlich einmal noch wird es im Juni eine Großdemonstration der Studierenden geben. Am 27. und 28. Juni tagt in Athen der Rat der Bildungsminister der OECD-Staaten. An diesen Tagen werden die Streikenden sicherlich ein letztes Mal lautstark ihre Forderung nach allgemeiner und kostenfreier staatlicher Bildung für alle vertreten. Danach sind Semesterferien und die Hauptstadt versinkt in die übliche Sommersiesta.
Das Schicksal des Gesetzes dagegen wird sich im Herbst entscheiden. Die Regierung muss sich gut überlegen, ob sie die im Oktober anstehenden Kommunalwahlen unter dem Schatten erneut aufflammender massiver Proteste aus der Bevölkerung abhalten will.