Krankenkassen fordern "umfassenden Rettungsschirm"

Grafik: TP

Ein gut 14 Milliarden Euro schweres Finanzloch, mit dem die gesetzlichen Versicherer rechnen, ist nur zum Teil coronabedingt

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Heute telefonierte der deutsche Bundesgesundheitsminister Jens Spahn mit einem guten Dutzend Vertretern der gesetzlichen Krankenkassen auf einmal. In dieser coronabedingt virtuellen Konferenz beklagten sich die Kassen darüber, dass das Geld, das der Gesundheitsfonds zwischen ihnen verteilt, nicht mehr wie üblich zum Monatsende überwiesen wird, sondern erst Mitte des Monats bei ihnen eingehen soll. Außerdem werden die Gesamtzuteilungen im Mai geringer sein als die gewohnten gut 20 Milliarden Euro, was dem Bundesamt für Soziale Sicherung nach unter anderem an Operationen liegt, die wegen der Coronakrise verschoben wurden.

Darüber hinaus legen die Krankenkassenvertreter Spahn in einem gemeinsamen Positionspapier etwas nahe, das der AOK-Bundeschef Martin Litsch einen "umfassenden Rettungsschirm für das deutsche Gesundheitswesen" nennt. Die Kassen rechnen nämlich für dieses Jahr mit einem 14,1 bis 14,6 Milliarden Euro großen Finanzloch. Grundlage dieser Berechnung sind unter anderem geschätzte 20 Millionen Sars-CoV-2-Tests (die 1,6 Milliarden Euro kosten sollen) und geschätzte 200.000 Covid-19-Behandlungen zu insgesamt 1,3 Milliarden Euro.

Politisch gewollt

Hinzu kommen eine coronabeförderte Zunahme der Arbeitslosen um 308.000 auf 2,65 Millionen, gut zehn Millionen coronabedingten Kurzarbeiter (für die bis zu 40 Prozent weniger Beiträge eingehen) sowie die ebenfalls coronabedingt erlaubte Stundung von Sozialabgaben durch Unternehmen.

Nicht zwangsläufig coronabedingt, sondern politisch gewollt, sind dagegen 1,1 bis 1,2 Milliarden Euro zusätzliche Forderungen wegen des vom Bundesgesundheitsministerium verordneten Verzichts auf die Prüfung von Krankenhausrechnungen und 3,3 Milliarden Euro für einen ebenfalls von Spahn erhöhten "Pflegeentgeltwert". Das gilt auch für die Kosten mehrerer anderer Projekte des Bundesgesundheitsministers, der seine Ambitionen auf das Kanzleramt nicht geheim hielt und wusste, dass man sich die dafür hilfreiche Beliebtheit mit großzügigen Geschenken eher erwirbt als mit einem Handeln nach der Maßgabe "spare in der Zeit, dann hast du in der Not!"

Zusatzgebühren könnten sich verdoppeln

Politiker und politiknahe Institutionen haben als Alternative zum Sparen allerdings noch das Erhöhen von Beiträgen. Bei den Krankenkassen kommen dafür nicht nur nicht nur die allgemeine Beitragssätze infrage, die bei 14,6 Prozent des beitragspflichtigen Einkommens liegen, sondern auch die 2015 eingeführten Zusatzbeiträge. Diese von Kasse zu Kasse unterschiedlich hohen Extra-Gebühren würden dem Positionspapier nach von jetzt durchschnittlich 1,1 auf 2,0 bis 2,2 Prozent steigen, wenn sich die Berechnungen als zutreffend erweisen.

Dass das einem schnellen Wiederanspringen der Wirtschaft nach der Coronakrise nicht unbedingt zuträglich wäre, wissen auch die Kassenchefs. Wolfgang Greiner, der stellvertretende Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, und Erwin Rüddel, der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Bundestag, halten es deshalb für möglich, dass Spahn zumindest zum Teil auf die Forderungen nach einem Rettungsschirm eingeht und den aus Steuergeld und Staatsschulden gezahlten Zuschuss an die Krankenkassen erhöht.

Mittelfristige Wiederkehr der Debatten aus den Neunziger- und Nullerjahren?

Aber Schulden - auch Staatsschulden - haben die Eigenschaft, dass sie irgendwann zurückgezahlt werden müssen. Deshalb könnte einer Zuschusserhöhung mittelfristig eine Wiederkehr der Debatten folgen, wie es sie in den Neunziger- und Nullerjahren gab (vgl. Deutschland sucht das Superrezept). Außer über Leistungskürzungen sprach man damals auch viel über Privatisierung: Sie, so der damaliger Tenor, sollte durch Wettbewerb dafür sorgen, dass die gestrichenen Leistungen günstiger angeboten werden.

In der Praxis war das jedoch - anders als etwa im Telekommunikationsbereich - nicht der Fall. Das hing damit zusammen, dass eine Privatperson in Bereichen wie der Gesundheitsvorsorge die Qualität von Anbietern nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten prüfen kann: Hier verhindern Informationsasymmetrien einen Preiswettbewerb, weshalb die Preise bei sinkender Qualität potenziell steigen. Zudem hatte die Politik die rechtlichen Rahmenbedingungen so gestaltet, dass es für die privaten Gesundheitsversicherer verlockend war, um jüngere Versicherte zu konkurrieren, anstatt mit besseren Leistungen und günstigeren Konditionen.

Diese Effekte zeigten sich nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA, wo die privat Versicherten im Durchschnitt sehr viel mehr für eine ähnliche Versorgung zahlen als in Kanada (vgl. Subsystem einer "Zwei-Klassen-Medizin"). In Österreich, wo die Politik dem Zeitgeist vergangener Jahrzehnte stärker widerstand als in Deutschland, zahlen Arbeitnehmer und Arbeitgeber dagegen heute nur etwa die Hälfte dessen, was in Deutschland für die Krankenversicherung anfällt (vgl. Bürgerversicherung: Warum nicht einfach das österreichische Modell übernehmen?).