Kreuzbetrachtungen, Hostien und Missverständnisse

Was Kardinal Lehmann möglicherweise mit Schnellpostern im Telepolis-Forum gemeinsam hat

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Der Hessische Kulturpreis wird in manchen Jahren an mehrere Personen vergeben: 1993 erhielten ihn beispielsweise der Komponist Heiner Goebbels und der Karikaturist Friedrich Karl Waechter, 1999 der Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki, der Philosoph Jürgen Habermas und der Verleger Siegfried Unseld. 2009 hätte er gleich an vier Personen verliehen werden sollen: den evangelischen Ex-Kirchenpräsidenten Peter Steinacker (der unter anderem Schirmherr der bizarren Bibel in gerechter Sprache ist), den katholischen Kardinal Karl Lehmann, den Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Salomon Korn, und den moslemischen Orientalisten Fuat Sezgin (dem Vater der Autorin Hilal Sezgin).

Sezgin allerdings weigerte sich, einen Preis zusammen mit Korn anzunehmen - angeblich deshalb, weil ihm dessen Äußerungen zum Gazakrieg missfielen. Zu diesem Zeitpunkt kam der Kölner Autor Navid Kermani, ins Spiel, der sich weder durch seine Rolle als Ersatzmann gekränkt sah, noch Vorbehalte hatte, den Preis zusammen mit dem jüdischen Zentralratsvorsitzenden anzunehmen. Er sah es als ausreichend an, Meinungsunterschiede bei der Preisverleihung ansprechen zu können und betonte, dass diese zwischen ihm und dem hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch durchaus größer seien als zwischen ihm und Korn.

Kreuzigung von Guido Reni

Damit schien eine Lösung gefunden zu sein, bis sich Ende April der hessische Protokollchef bei Kermani meldete und im mitteilte, dass sich nun Lehmann und Steinacker weigern würden, den Preis mit ihm zusammen anzunehmen. Als Grund hatten die beiden in Briefen an den hessischen Ministerpräsidenten angegeben, dass Kermani in einem im März erschienenen NZZ-Artikel über ein Bild von Guido Reni "fundamentale und unversöhnliche Angriffe auf das Kreuz als zentrales Symbol des christlichen Glaubens" geführt habe. Lehmann meinte, er wolle nicht mit "jemandem auf der Bühne stehen, der das Kreuz rundherum und prinzipiell ablehnt und es sogar als Gotteslästerung und Idolatrie erklärt".

Tatsächlich lag dieser Ablehnung möglicherweise ein Effekt zugrunde, der auch Ursache vieler Forenkommentare ist: Die sofortige Reaktion auf Reizwörter, ohne den Textfortgang zu kennen. Eine Pressemitteilung des Bistums Mainz vom 20. Mai, in der davon die Rede ist, dass Lehman zwar mit der Formulierung "leben könne", man für solch eine Akzeptanz aber "den ganzen Text lesen" müsse, deutet in jedem Fall indirekt darauf hin, dass genau dies möglicherweise erst später geschah.

Kermani hatte an einer Stelle seiner quasi-dialektischen Reflexion über die Theologie der Kreuzigung geschrieben: "Für mich formuliere ich die Ablehnung der Kreuzestheologie drastischer: Gotteslästerung und Idolatrie." Wer nur diesen einen Satz las, der konnte in der Tat den Eindruck haben, er stamme von einem islamistischen Ikonoklasten. Allerdings begründet der persischstämmige Autor seine Ablehnung in dem Text gar nicht mit Ressentiments gegen das Andere, das Christentum, sondern mit einer Erinnerung an der Märtyrerkult der Schia, seiner eigenen Religion:

Gewiss stößt mir die Lust, die katholische Darstellungen seit der Renaissance an Jesu Leiden haben, auch deshalb so auf, weil ich es von der Schia kenne und nicht kenne. Ich kenne es, weil das Martyrium dort genauso exzessiv bis hin zum Pornografischen zelebriert wird, und ich kenne es nicht, weil genau dieser Aspekt der Schia in Großvaters Glauben, der mehr als jeder andere Bezugspunkt meine eigene religiöse Erziehung bestimmt hat, wie ich bei der Lektüre seiner Memoiren feststelle, keine Rolle spielte, ja als Volks- und Aberglauben abgelehnt wurde, der die Menschen davon abbringe, die Welt zu verbessern, statt nur ihren Zustand zu beklagen. Kreuzen gegenüber bin ich prinzipiell negativ eingestellt. Nicht, dass ich die Menschen, die zum Kreuz beten, weniger respektiere als andere betende Menschen. Es ist kein Vorwurf. Es ist eine Absage. Gerade weil ich ernst nehme, was es darstellt, lehne ich das Kreuz rundherum ab. Nebenbei finde ich die Hypostasierung des Schmerzes barbarisch, körperfeindlich, ein Undank gegenüber der Schöpfung [...]"

Kermani selbst wies nach der Reaktion Lehmanns darauf hin, dass der Artikel nicht nach der umstrittenen Formulierung aufhört, "sondern zeigt, wie mich das ästhetische Erleben bis an den Rand der Konversion führt". Er erkennt in der Besonderheit von Renis Bild nach und nach eine Art Anti-Mel-Gibson und liest die Kreuzigung dann nicht mehr als Signal des Leidens, sondern der Klage.

Tolerante Toleranzpreisträger?

Allerdings lehnte auch Kermani eine weitere Erklärung zur "Einordnung" seines NZZ-Texts ab, wie sie Lehmann und Steinacker angeblich verlangten. Durch einen Anruf der FAZ erfuhr er schließlich, dass ihm der Preis doch nicht verliehen werden sollte. Nach bemerkenswert viel Medienaufmerksamkeit wurde der Verleihungstermin auf den Herbst verschoben. Bis dahin soll "versucht werden, die zwei christlichen, den jüdischen und den muslimischen Preisträger zu einem Dialog zu bringen". Für einen "Toleranzpreis" ist das schon ein bemerkenswerter Aufwand, den man mit den angeblich preiswürdigen Verweigerern treiben muss. Vielleicht sollte sich die hessische Landesregierung grundsätzlich überlegen, inwieweit es sinnvoll ist, solch eine Auszeichnung ausgerechnet an Religiöse zu vergeben.

Wobei Kermani in dieser Hinsicht wahrscheinlich sogar noch preiswürdiger ist als Lehmann, Steinacker oder Korn. Auch deshalb, weil seine Toleranz offenbar weniger auf einem Ausblenden der Realität geschieht, sondern mehr auf einer Auseinandersetzung mit ihr. In einem Text für die Süddeutsche Zeitung schrieb er beispielsweise bemerkenswert offen:

Natürlich hat die Dame recht, die sich darüber beschwerte, dass diese Türken, die ihretwegen eine Moschee haben sollen, ständig in der Zweiten Reihe parken. Die Jungs in den schwarzen BMW regen mich auch auf. Penner rufe ich dann hinterher, Asi oder, wenn sie mir auf dem Fahrrad wieder die Vorfahrt genommen haben, Scheißtürke. Das ist noch halbwegs lustig, aber den afghanischen Jungen, der in der Schule meine Tochter verprügelte und gegen den die Lehrerinnen und Betreuerinnen keine Chance haben, weil er es von zuhause offenbar nicht kennt, Frauen zu respektieren, den fand ich überhaupt nicht lustig. Natürlich ist das ein Problem. Nur wieso erwartet irgendwer, dass ein Anteil von dreißig Prozent Zuwanderern oder Zuwandererkindern aus größtenteils unterentwickelten, ländlichen Gebieten keine Probleme verursacht für die alteingesessenen siebzig Prozent?

Kirchliche Praxis und Literatur

Neben all dem Wirbel um "Gotteslästerung und Idolatrie" blieb eine andere Passage in Kermanis NZZ-Text praktisch unbeachtet, über die sich die katholische Kirche eigentlich noch viel mehr empören hätte können. Allerdings weniger über Kermani als über ihre eigenen Dienststellen:

Meine Tochter früher in der Kirche zu wissen, wo sie als Grundschülerin gelegentlich die Fürbitte las, weil sie so gut lesen konnte und so eitel war, auf jeder Bühne stehen zu wollen, selbst wenn sie dafür eine Stunde früher aufstehen musste, meine Tochter unterm Kreuz zu wissen, war unangenehm. Natürlich sagte ich nichts, schließlich ist man liberal. Eingegriffen habe ich nur bei der Messe zur Einschulung, als die Kinder Hostien essen sollten, gleich welchen Glaubens. Da wünschte ich mir, die Kirche sei weniger liberal.

Tatsächlich ist sie das allerdings auch: Beim Erzbistum Köln meint man, dass die Ausgabe von Hostien an Erstklässler "in jedem Fall keine bistumsweite Praxis" sei und Kinder erst ab dem zweiten oder dritten Schuljahr zugelassen würden. Voraussetzung hierfür ist neben der katholischen Religionszugehörigkeit und einer Erstkommunions-Initiation, auch die vorherige Beichte. Man wisse zwar nicht, von welcher Schule und welcher Kirche Herr Kermani schrieb, könne sich aber vorstellen, dass möglicherweise eine Begriffsverwirrung vorliegt und es sich um ungeweihte Oblaten handelte.

Kermani selbst meinte gegenüber Telepolis, dass sein Text über Renis Kreuzigung wie alle seine Bildbetrachtungen in der NZZ ein "literarischer Text" sei, der nicht als Manifest verstanden werden dürfe. In der Hostienstelle, so der Autor, habe er "drei verschiedene Erfahrungen zusammengebracht", auch solche aus seiner eigenen Kindheit. Bei der Einschulung seiner Tochter seien lediglich "die Kinder nach vorn gerufen [worden], um gesegnet zu werden und eine Puppe, die das Jesuskind darstelle, im Arm zu halten", wobei er nicht wollte, dass seine Tochter bekreuzigt wird. Die Kommunion habe er bei einem anderen Schulgottesdienst erlebt.