Kriminelle Parallelwelt

Zehn Jahre lang konnten Strafgefangene in einem umzäunten Areal in Guatemala ihre eigene Ordnung aufrichten und ihren Geschäften auch in der freien Welt nachgehen

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Städte haben sich Mauern, Wassergräben, Türmen und Toren umgeben, um sich zu schützen und den Verkehr zu überwachen. Wie die Chinesische Mauer zeigt, haben auch Länder versucht, sich zum Schutz einzuschließen. Auf der anderen Seite wurden Kriminelle in gut gesicherte Kerker und Gefängnisse eingeschlossen, um ihre Flucht nach draußen zu verhindern. Später wurden Gefangene mitunter auch auf abgelegene Inseln oder in Lager auf neu entdeckten Kontinenten wie Australien verbracht. Im Kalten Krieg wurde eine Mauer gebaut, um die Bevölkerung des gesamten Ostblocks einzusperren. Jetzt baut man wieder Mauern, um unerwünschte Einwanderer, Terroristen oder Kriminelle nicht ins Land zu lassen, während man „wilde Städte“, die sich nicht mehr kontrollieren lassen, wie im Irak mit einem Wall umgibt, um sie abzuschließen. In Guatamela wurde vor wenigen Tagen ein mit Mauern umgebenes Gefängnislager – einst als Rehabilitationszentrum gedacht - in der Nähe der Hauptstadt gestürmt, in dem die Gefangenen über 10 Jahre lang unbehelligt von Wärtern eine von einer kleinen Schicht an Bossen organisierte Gesellschaft gebildet haben – mit regem Verkehr von innen nach außen und umgekehrt.

Das mit einem Sicherheitszaun umfasste Gefängnisareal enthält auch eine Lagune

Pavón könnte man als eine Art Gartenstadt bezeichnen. Das Gefängnis wurde einst als Modell für die Rehabilitation von Kriminellen eingerichtet. In der fruchtbaren Gegend um die Stadt Fraijanes wurde neben dem Gefängnis Pavoncita ein größeres Gebiet, einschließlich einer Lagune, mit einem hohen Zaun und Wachtürmen abgetrennt, um dort Strafgefangene unterzubringen, die sich durch Ausübung von Landwirtschaft, also durch eigene Hände Arbeit selbst redlich ernähren sollten. In dem ursprünglich für 800 Inhaftierte ausgelegten Gefängnis lebten am Schluss doppelt so viele.

Seit 1989 hatte es keine umfassende Durchsuchung des Gefängnisses mehr gegeben. Seit 1996 hat das Wachpersonal nicht mehr den Fuß in das Gelände gesetzt. Man überließ die Gefängnisinsassen sich selbst, steckte in die abgeschlossene Insel des Verbrechens nur noch weitere Menschen. Vor 10 Jahren war ein Sicherheitskomitee aus Häftlingen aufgestellt worden, das für Ordnung sorgen sollte. Wie viele Menschen in Pavón gelebt haben und was dort genauer vor sich ging, war unbekannt. Die Häftlinge bauten unter ihrer „Regierung“, die selbstverständlich nicht gewählt wurde, sondern aus den mächtigsten Bossen von Verbrecherbanden bestand, eine kleine Stadt mit Restaurants, Bars, Billardräumen, zwei Kirchen, Läden und Werkstätten auf. Man konnte Computerspiele spielen, im Telefoncenter mit 14 Zellen ungehindert nach draußen telefonieren oder im Internetcafe mit Breitbandverbindung surfen. Es gab Waffen, Bücher, Pizzas und Burgers, Alkohol und Getränke aller Art. Gehandelt wurde, was von außen dank mangelnder Kontrolle oder korrupter Wächter importiert wurde. Häuser wurden von den Bossen der Gefängnisgesellschaft vermietet, Geschäfte verpachtet, Geld zu Wucherzinsen verliehen, Prostituierte angeboten. Und es gab Labors zum Herstellen von Drogen, Werkstätten, in denen geklaute Autos umgebaut oder ausgebeutet wurden.

Im Haus des Chefs des Gefängnisses mit Che Guevara-Poster an der Wand

Immer wieder kam es im Gefängnis zu Kämpfen, die auch Todesopfer forderten. Die Chefs der Verbrecherbanden, die sich zu Herrschern aufgeschwungen hatten, mussten sich ihre Macht sichern, Gangs, die sich in den Städten Mittelamerikas und in den Gefängnissen ausbreiten und bereits zur Bedrohung der nationalen Sicherheit erklärt wurden, bekriegten sich untereinander. Das soziale Experiment, das eine reiche Oligarchie etablierte, hatte brutale Folgen, bei der Bevölkerung nicht unbedingt verwunderlich. Nur die soziale Kluft zwischen den Mächtigen und Reichen und den Armen und Schwachen glich den Verhältnissen, die auch außen herrschten. Wer arbeiten wollte, musste eine Genehmigung erhalten und dafür bezahlen.

Dafür aber bot Pavon auch flüchtigen Kriminellen eine sichere Heimstatt, allerdings wurde das Gefängnis auch dazu benutzt, um Geiseln in unterirdischen Kammern zu verstecken. Und weil die Kommunikation und der Grenzverkehr so problemlos zwischen Innen und Außen verliefen, konnten die Bosse im sicheren, aber gesetzlosen Hafen mit Handys und Boten auch gut die Geschäfte dirigieren, die die Mitglieder ihrer Banden in Guatemala ausführten. Von hier aus wurden Raubzüge, der Drogenhandel, Autodiebstähle oder Mordanschläge organisiert. Es heißt auch, dass manche der Familienangehörigen der „Häftlinge“ lieber ins Gefängnis zogen, weil sie sich dort sicherer als außerhalb fühlten.

Sicherheitskräfte vor der Erstürmung

Letzte Woche jedoch hatte sich die Regierung entschlossen, dem Spuk ein Ende zu bereiten. 3000 Soldaten und Polizisten umstellten mit vier Panzern das Gefängnislager, der Strom wurde abgedreht und dann wurde von vier Seiten das Lager gestürmt, offenbar – was angesichts der Geschichte erstaunt – ohne dass die Gefängnisinsassen Kenntnis von dem Angriff zuvor hatten. Es kam zu Schießereien, der vermutlich oberste Boss des „Sicherheitskomitees“, ein Mörder, dessen monatliches Einkommen auf mindesten 25.000 US-Dollar oder auch 80.000 US-Dollar geschätzt wird, wurde mit sechs seiner Kumpane erschossen. Sie hatten sich im angeblich luxuriösen Haus ihres Chefs verbarrikadiert. 1651 Insassen wurden festgenommen und durch einen Sicherheitskorridor ins nahe gelegene, ganz traditionelle Gefängnis Pavoncity mit Zellen gebracht. Gleich kam es von der „Unterschicht“ zu Todesdrohungen gegenüber den ehemaligen Machthabern und ihren „Mitarbeitern“, so dass über 150 Personen vom Rest getrennt werden mussten. Die in den Jahren ohne staatliche Kontrolle errichteten Häuser und Anlagen werden nun zerstört, um ein „normaleres“ Gefängnis zu errichten. Man will zwar wieder ein Zentrum der Rehabilitation einrichten, aber die Bildung des organisierten Verbrechens nicht mehr zulassen.