Kulturverschwörung

Warum funktioniert der Kapitalismus nur in der Ersten Welt?

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Was war noch mal der Unterschied zwischen Sozialismus und Kommunismus? Vor mehr als zehn Jahren lösten die realexistierenden Alternativen zum Kapitalismus sich in Luft auf. Toll, freut sich heute der peruanische Wirtschaftswissenschaftler Hernando de Soto - Präsident und Gründer von Instituto Libertad y Democracia (ILD) -, denn jetzt können wir endlich "leidenschaftslos und sorgfältig" diese überlegene Wirtschafts- und Sozialordnung genauer betrachten.

Warum aber predigt de Soto in seinem Buch "The Mystery of Capital" die Unschlagbarkeit des Kapitalismus, wenn allein in seinem Wohnort Lima fünf Millionen Menschen in Slums leben? Weil Armut nicht eine Folge des Kapitalismus ist - sondern die einer verfehlten Politik der betroffenen Staaten. Bei einer wirklich kapitalistischen Wirtschaftsordnung müssten nicht 20 Prozent der Weltbevölkerung mit weniger als einem Dollar am Tag auskommen. Das Problem ist, dass in Staaten der Dritten Welt wegen mangelhafter Eigentumsgesetze die meisten Menschen in ihrem Leben nie die Fesseln der ineffiziente Schattenwirtschaft abwerfen können, die etwa in Russland 50 Prozent des Bruttosozialproduktes schluckt.

Die Gesetze eines Staates sind wichtiger als Entwicklungshilfe und vor allem weitaus wichtiger als die Landeskultur für den Wohlstand eines Landes. De Soto widerspricht damit kategorisch der von Samuel Huntington und Lawrence Harrison jüngst unter dem Titel "Culture matters" vertretenen These, die Landeskultur würde wesentlich die wirtschaftliche und politische Entwicklung bestimmen. Beide Bücher haben in den Vereinigten Staaten keine Debatte über den Sinn des Kapitalismus, aber eine weit spannendere über die Bedingungen für seinen Erfolg ausgelöst.

Was ist das eigentlich, das Kapital? Ein oder zwei Gedanken sollte man sich mit de Soto schon über den recht komplexen Prozess der Umwandlung physischer Vermögenswerte in Kapital machen. Adam Smith mahnte in "Der Wohlstand der Nationen" an, dass angesammelte Vermögenswerte nur dann in aktives Kapital umzuwandeln sind, wenn sie fixiert werden. Das Kapital ist dabei nicht nach physischen Eigenschaften zu definieren. Marx beschrieb es als unabhängige Substanz, welche die Form von Geld oder Waren ebenso schnell annimmt wie abwirft. De Soto fasst beide Ideen zu einer griffigen These zusammen: Formales Eigentum ist nicht die Reproduktion etwa der physischen Eigenschaften eines Hauses, sondern die Repräsentation eines Konsenses über bestimmte, wirtschaftliche Qualitäten des Gebäudes.

Damit aus Vermögenswerten Kapital wird, damit also zum Beispiel ein kleiner Handwerker einen Kredit auf sein Haus aufnehmen kann, um sich selbständig zu machen, sind einheitliche Kriterien nötig, nach denen der wirtschaftlich nötige Konsens über die Wertzuschreibung erzielt wird. Mit Vermögenswerten und Kapital ist es wie mit einem Gebirgssee: Seine physische Existenz erlaubt nicht viel mehr als Baden und Fischen. In einem Haus kann man zunächst ja auch nicht viel mehr tun als wohnen. Will man nun mit einem Gebirgssee Energie gewinnen, ist eine Staumauer samt Wasserkraftwerk nötig. So wie aus einem Haus nur Kapital zu gewinnen ist, wenn einheitliche Eigentumsrechte und ein formaler Prozess zur Umformung bestehen.

Solche Systeme funktionieren heute nach Jahrhunderte langen Mühen in den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Deutschland - der gesamten ersten Welt. Zur Zweiten und Dritten hingegen gehören Staaten, die keine funktionierenden Eigentums- und Umformungssysteme haben. In Brasilien etwa wuchs die Bauindustrie 1995 um 0,1 Prozent, während der Verkauf von Zement um 20 Prozent anstieg. Der Grund: 60 bis 70 Prozent aller Immobilien sind Schwarzbauten, schätzt die Investmentbank Deutsche Morgan Grenfell. Auf Haiti haben 97 Prozent der Einwohner außerhalb der Städte keine formalen Eigentumsrechte an dem Land und den Häusern, wo sie zum Teil seit Jahrzehnten leben. Warum? Wer beispielsweise in Peru auf staatlichem Gelände legal ein Haus errichten will, muss 207 Verwaltungsschritte in 52 Regierungsinstitutionen überstehen.

Ähnlich hoch sind die Hürden in Staaten der Dritten Welt, um ein kleines Unternehmen legal zu betreiben. Menschen bauen folglich schwarz, handeln schwarz - leben vollkommen in der Schattenwirtschaft, die einer Studie von de Sotos angesehenem Forschungsinstitut "Institute of Liberty and Democracy" zufolge in der Dritten Welt Vermögenswerte von 9,3 Trillionen Dollar bindet. Die Bewohner der Dritten Welt besitzen also selbst 93 mal so viel, wie sie in den vergangenen drei Jahrezehnten an Entwicklungshilfe erhalten haben.

Drei Eigenschaften machen de Sotos Modell so reizvoll, dass Magazine wie Economist, Business Week und Forbes sich immer wieder darauf berufen. Zum einen ist der Kapitalismus a priori die beste Wirtschaftsform. De Soto widerspricht Marx in einem entscheidenden Punkt: Das Kapital konzentriert sich nicht einem Naturgesetz folgend bei einer Minderheit. Im Gegenteil: Der Kapitalismus würde die Menschen aus ihrer ökonomischen und politischen Unfreiheit befreien, fesselte ihn nicht ein unzulänglicher Staat. Zum zweiten ist die Erste Welt unschuldig an der Misere der Zweiten und Dritten. Statt koloniale Sünden mit Entwicklungshilfe abzuzahlen, sollte man den Staaten helfen, ihre selbstgeschaffenen Probleme durch Gesetzesreformen zu lösen. Drittens verneint die Theorie jeden Einfluss kultureller Faktoren, was die sonst nötige und heikle Bewertung einzelner Kulturen unnötig macht.

Gegen die ersten zwei Annahmen gibt es einige Einwände. So leitet de Soto ohne jeden Beweis aus seiner Annahme, der Kapitalismus sei die überlegene Wirtschaftsform, ab, dass dieser tatsächlich in allen Wirtschaftsbeziehungen der Ersten Welt uneingeschränkt herrscht. Das stimmt allerdings nicht. Bruce D. Scott, Ökonomieprofessor an der Harvard Business School Boston, hat in einer Replik auf de Soto dargelegt, dass die Grenze, die in Staaten der Dritten Welt durch Eigentumsgesetze zwischen der reichen Minder- und armen Mehrheit gezogen ist, in ähnlicher Form auch zwischen Erster und Dritter Welt besteht. Alle Staaten der Ersten Welt verhindern erfolgreich einen einheitlichen Weltmarkt für niedrig qualifizierte Arbeitskräfte und Agrarprodukte. So wird Wettbewerb und damit eine Angleichung der Lebensstandards verhindert. Schlimmer noch: Die unfähigen Regierungen der Dritten Welt werden stabilisiert, da eine Abwanderung in Regionen mit attraktiveren Eigentumsgesetzen unmöglich ist. Soviel zu de Sotos Fazit, die Erste Welt sei unschuldig an den Miseren der Dritten.

Die Dritte Schlussfolgerung de Sotos, Kultur sei irrelevant, ist selbst in seinem eigenen Gedankengebäude nicht fest verankert. Auch wenn man Eigentumsgesetze als einzige Ursache für wirtschaftlichen Erfolg oder Misserfolg gelten lässt, erklärt das nicht, warum die Gesetze so unterschiedlich sind. Die koloniale Vergangenheit kann nicht die Ursache sein. Gewiss mussten viele Staaten der heutigen Dritten Welt vor gerade einmal einem halben Jahrhundert eine eigenständigen Verwaltung aufbauen. Erfolge, für die in Europa und die Vereinigten Staaten Jahrhunderte brauchten, sind in 50 Jahren schwer zu realisieren. Nur: Die ehemalige britische Kolonie Ghana und die ehemalige japanische Kolonie Südkorea hatten in den frühen sechziger Jahren ein etwa gleich niedriges Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt. 30 Jahre später war Südkorea ein Industriegigant mit gefestigten demokratischen Institutionen und einem Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt in der Größenordnung Griechenlands, während das wenig demokratische Ghana nur ein Fünftel dieses Wertes erzielte.

Samuel Huntington zieht daraus das Fazit: "Culture matters" , das den von ihm mitherausgegebenen Essayband überschreibt. Darin macht der argentinische Rechtsprofessor Mariano Grondona in der Denktradition Tocquevilles und Montesquieus 21 kulturelle Faktoren wie dieEinstellung zum Wettbewerb aus, die den wirtschaftlichen Erfolg eines Staates beeinflussen. Den kapitalismusfeindlichen Katholizismus in einen Gegensatz zum wirtschaftstüchtigen Protestantismus zu stellen, steht nicht nur in der Tradition Max Webers, sondern ist auch in der Anwendung auf das katholische Lateinamerika gar nicht so neu. Der mexikanische Schriftsteller und Nobelpreisträger Ocatvio Paz hat bereits 1979 den Unterschied zwischen den beiden Amerikas so beschrieben: "Das eine, englischsprachige, ist Tochter der Tradition, welche die Moderne begründete: die Reformation, mit ihren sozialen und politischen Konsequenzen der Demokratie und des Kapitalismus. Das andere, spanisch- und portugiesischsprachige, ist Tochter der universalen katholischen Monarchie und Gegenreformation." Ähnlich äußerte sich 1994 Mario Vargas Llosa, als er von der "populistischen, oligarchischen, absolutistischen, kollektivistischen" südamerikanischen Mentalität sprach.

An diesen Thesen stört - ähnlich wie bei de Soto - die mangelnde Präzision: Der Kulturbegriff wird nicht definiert. Ist Kultur eine unabhängige Variable? Wie wird ihr Träger definiert, wenn nicht als Nationalcharakter? Hier bemüht sich der Entwicklungshelfer und -theoretiker Stace Lindsay um Präzisierung, indem er den für die wirtschaftliche Entwicklung relevanten Kulturbegriff als die Summe individueller Überzeugungen von Politikern und Unternehmern in einem Staat definiert. Allerdings entsteht dadurch ein neues Problem: In jedem Staat existieren offensichtlich mehrere Kulturen. Über die Dominanz einer bestimmten Überzeugung muss also eine andere Variable entscheiden.

Die Lösung dieses Problems als Synthese von Huntington und de Soto schafft der US-Politologe Francis Fukuyama: "Formale Gesetze spielen eine bedeutende Rolle bei der Schaffung von informellen Normen, während informelle Normen die Schaffung bestimmter politischer Institutionen mehr oder weniger wahrscheinlich machen. Religion bleibt auch in säkularen Gesellschaften eine wichtige Quelle kultureller Regeln, während diese Regeln zugleich spontaner Umwandlung unterliegen." Einfach gesagt besteht also eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen informellen, kulturellen Normen und der Gesetzgebung eines Landes. De Soto wird durch Huntington ergänzt, so wie das liberale Dogma der Wandelbarkeit einer Kultur mittels der Politik durch das konservative Dogma, allein Kultur, nicht die Politik bestimme die Entwicklung einer Gesellschaft.

Der Unterschied zwischen Sozialismus und Kommunismus war übrigens dieser: Der Sozialismus propagiert das Wertesystem von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit; der Kommunismus will dieses ganz konkret durch die Beseitigung des Privateigentums verwirklichen. Warum der Kapitalismus nur in der Ersten Welt funktioniert, haben de Soto und Huntington natürlich nicht endgültig beantwortet.