Kurzsichtigkeit als Anpassung an die Lebenswelt?

Australische Wissenschaftler führen die rapide zunehmende Kurzsichtigkeit auf die wachsende Mediennutzung zurück

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Wenn es stimmt, was australische Wissenschaftler vermuten, dann könnte Kurzsichtigkeit bald endemische Ausmaße annehmen. Nach ihren Untersuchungen der schnell zunehmenden Kurzsichtigkeit in asiatischen Ländern, aber auch im Rest der Welt, könnte es sich um eine Art Anpassungsleistung an die Bildschirmwelt handeln, in der die Menschen sich immer länger aufhalten.

In Ostasien wurde, wie New Scientist berichtet, in der letzten Zeit ein weitaus stärkerer Anstieg der Kurzsichtigkeit (Myopie) bei Kindern und Jugendlichen als in anderen Regionen beobachtet. In Hongkong beispielsweise scheint Kurzsichtigkeit schon die Regel zu sein. 80 Prozent der 18-Jährigen, die Militärdienst leisten müssen, sind bereits kurzsichtig. Vor 30 Jahren waren es noch 25 Prozent. Die Polizei soll bereits Mühe haben, noch geeignete Mitarbeiter zu finden. Zudem soll es Hinweise auf gehäufte Fälle extremer Kurzsichtigkeit geben, die auch zur Erblindung führen können.

Eine interessante Beobachtung spricht dafür, dass diese rasante Zunahme vermutlich nicht auf genetische Ursachen zurückzuführen ist. So sind 70 Prozent der 18-Jährigen indischer Abstimmung, die in Singapur leben, kurzsichtig, bei den in Indien lebenden Angehörigen dieser Altersgruppe ist dies aber nur bei 10 Prozent der Fall. Es könnte also an der anderen - urbanisierten? - Umwelt bzw. an veränderten Lebensstilen liegen.

Ian Morgan und Kollegen von der Australian National University in Canberra haben für ihre Studie, die in der Zeitschrift Progress in Retinal and Eye Research veröffentlicht wird, 40 Berichte aus unterschiedlichen Ländern analysiert und kommen zu dem Schluss, dass die Lebensweise für den starken Anstieg verantwortlich sein müsse. Auch in den westlichen Ländern müsse man mit einem weiteren Ansteigen rechnen. So seien jetzt 50 Prozent der 12-Jährigen kurzsichtig, im Alter von 18 Jahren würden dies nach Schätzungen schon 70 Prozent sein. "Da Kinder sich immer länger in Häusern aufhalten und vor Computer und Fernsehern sitzen, werden sie genauso kurzsichtig werden", sagt Ian Morgan.

Bei Kurzsichtigkeit ist das Auge "zu lange", so dass die Lichtstrahlen nach der Brechung durch die Linse vor der Netzhaut gebündelt werden. Zwischen Linse und Netzhaut gibt es also beim länglichen verformtem Augapfel einen größeren Abstand als beim normalsichtigen Auge. Es könnte also sein, dass sich das Auge bei Kindern entsprechend verformt, wenn diese vor allem nahe Gegenstände anschauen und sich daher nicht mehr auf die Ferne akkomodieren.

Die Bildschirmhypothese ist allerdings nur eine Variante der früheren Common-Sense-Erklärung für die Bücherwürmer, also dass viel Lesen den Augen schadet und kurzsichtig macht. Auch dafür hat Ian Morgan eine Bestätigung gefunden, die aber auch zeigt, dass es nicht alleine die Bildschirme sind. So sollen in Israel 80 Prozent der 24- bis 18-jährigen Jungen, die eine Religionsschule besuchen, in denen viel gelesen wird, kurzsichtig sein. In staatlichen Schulen, wo nicht so viel Wert auf Lesen gelegt wird, sind es hingegen nur 30 Prozent.

Wie stark jeweils die Kurzsichtigkeit ist, ob die Stärke auch mit der Nutzung bestimmter Medien zusammen hängt, warum Manche trotz aller Mediennutzung normalsichtig bleiben oder ob die Kinder in Hongkong, Singapur oder Japan längere Zeit vor den Bildschirmen bzw. vor Büchern verbringen als in den westlichen Ländern, erfährt man allerdings leider nicht. Fraglich ist zudem, ob etwa häufiges Lesen oder Fernsehen alleine tatsächlich verantwortlich für stärkere Kurzsichtigkeit gemacht werden kann. Karla Zadnik vom Ohio State University College of Optometry meint beispielsweise, dass bislang noch nicht alle verantwortlichen Faktoren der Lebensweise untersucht worden seien. Kinder, die wenig lesen (oder fernsehen oder vor dem Computer sitzen), halten sich länger draußen auf, wo es heller ist. Kinder, die Sport treiben, würden auch weniger anfällig für Kurzsichtigkeit sein.