Lieber Bundestag: Afghanistankrieg war kein "strategischer Fehler", sondern Aggressionsakt
Enquete-Kommission bilanziert Krieg. Dabei wird das Narrativ vom gut gemeinten Krieg gefestigt. Über einen Fall historischer Amnesie. Kommentar.
Heute stellt die Enquete-Kommission des Bundestags den Zwischenbericht zum Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan vor. Wie Medien vorab berichten, wird darin ein "vernichtendes Zeugnis" ausgestellt, so Tagesschau.de.
Die Operation, so zitiert Spiegel Online aus dem 350-seitigen Bericht, sei "strategisch gescheitert, Ergebnisse und gesteckte Ziele dauerhaft abzusichern". Schuld daran sei schlechte Koordination und Abstimmung zwischen den Ressorts.
Die Legende vom wohlmeinenden Krieg
Außerdem seien die Lageberichte nicht an der Realität orientiert gewesen. Aus dem militärischen Einsatz soll die Kommission nach der parlamentarischen Sommerpause Lehren ziehen.
Nun, die einzige Lehre, die man aus dem Krieg und der Beteiligung der Bundeswehr daran ziehen sollte, ist, dass der Krieg ein nicht gerechtfertigter Aggressionsakt gegen ein ärmliches Dritte-Welt-Land gewesen ist, der erwartbar großes Leid und weiteres Chaos über die Region gebracht hat.
Aber diese Lehre kann nicht gezogen werden, da in Deutschland, wie auch in den USA, die den Krieg erklärten und anführten, und anderen beteiligten Nato-Staaten, die Ansicht seit über zwei Jahrzehnten vorherrscht, dass man mit guten Absichten an den Hindukusch zog, in Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001.
Bei dem Krieg, so heißt es bis heute unisono, ging es um weltweite Sicherheit, einen Kampf gegen den globalen Terrorismus und die Schaffung eines stabilen, wenn möglich, demokratischen Staats. Dass das nicht gelungen sei und man im August 2021 auf erbärmliche Weise das Land mit den Truppen verlassen musste, sei das Problem, nicht die Absicht oder der Krieg an sich.
Die Frage nach der Legitimität als Tabu
Dass die Bundestag-Kommission das heute, über 22 Jahre nach der Invasion Afghanistans, so sieht, und die Medien dabei folgen, ist kaum überraschend. Denn das Narrativ, dass man mit hehren Idealen auszog, aber das Land sich den Idealen nicht recht fügen wollte – und dann im Westen auch strategische Fehler begangen wurden –, ist tief verwurzelt in der veröffentlichten Wahrnehmung der "humanitären Intervention".
Was ausgespart wird, ist die Frage: War der Krieg, der Überfall auf das Land und die militärische Besatzung über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren überhaupt legitim?
Spulen wir zurück. Einen Monat nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York City und das Pentagon begannen die USA einen Luftkrieg gegen Afghanistan. Die USA vermuteten dort die Hintermänner der Anschläge.
Es gab dafür durchaus Indizien. Beweise wurden jedoch nicht vorgelegt, und, wie sich später im Zuge der FBI-Untersuchungen zeigte, konnten keine beigebracht werden.
Dürfen andere Staaten auch bomben?
Die Taliban-Regierung signalisierte den USA ihre Bereitschaft, Osama bin Laden auszuliefern, wenn Beweise für seine Schuld vorgelegt würden – eine international übliche Bedingung. Die USA wiesen das Angebot mehrmals zurück und starteten eine Offensive gegen das Land bzw. setzten sie fort.
Einen intensiven Luftkrieg gegen ein Land zu führen, weil dort Verdächtige für ein schwerkriminelles Verbrechen vermutet werden, enthält natürlich keinerlei Legitimität. Wenn das der Standard wäre, hätten wir Krieg aller gegen alle. Vor allem die USA und ihre Verbündeten wären betroffen.
Nur ein Beispiel, um das zu verdeutlichen: So beherbergten die USA zur Zeit, als man wegen Osama bin Laden Afghanistan mit Flächenbombardements überzog, den notorischen Terroristen Emmanuel Constant ("Toto Constant"), der auf der Gehaltsliste der CIA stand, und ignorierten die wiederholten Auslieferungsanträge von Haiti. Constant wurde dort von Gerichten für den Tod von insgesamt 5.000 Menschen, Müttern, Vätern und Kindern, bei Massakern verantwortlich gemacht.
Hätte also Haiti Washington, Texas, Boston und New York in Schutt und Asche legen dürfen, weil die USA den Terroristen nicht auslieferten?
Das Terror-Trainingscamp in den USA
Aber das ist nur ein Beispiel von sehr vielen anderen. An der sogenannten "School of Americas" im Bundesstaat Georgia bildeten die USA regelmäßig Terroristen, Paramilitärs und Junta-Befehlshaber aus, die in verschiedenen Ländern in Lateinamerika wüten sollten. Das Trainingscamp wird auch manchmal als "backyard terrorism" der Vereinigten Staaten bezeichnet.
Und dann sind da die vielen Aggressionsakte der USA mithilfe seiner Partner gegen andere souveräne Staaten (siehe allein die Indochinakriege, aber auch der Angriffskrieg gegen den Irak). Sie könnten nach der 9/11-Doktrin alle als Rechtfertigung von den angegriffenen Ländern genommen werden, die "Drahtzieher" und Verbrecher im Westen mittels Krieg gegen die Staaten zur Rechenschaft zu ziehen.
Es gab im Fall der 9/11-Schwerkriminellen zudem eine alternative, zivile Lösung, die von renommierten Historikern, Richtern, dem Vatikan und der Friedensbewegung, wie auch der Mehrheit der Weltbevölkerung, eingefordert wurde. Sie verlangten eine internationale Polizeiaktion zur Erfassung der Verdächtigen, wenn nötig mit geheimdienstlicher Unterstützung, die dann vor ein Gericht gestellt werden sollten, wo ihnen Beweise für ihre Schuld vorgelegt werden müssten.
Flex Targeting und Opferstudien
Aber das wurde alles übergangen, nicht nur von den politischen Entscheidungsträgern in Washington und seinen Partnerländern in Europa, sondern auch von den meinungsbildenden Massenmedien im Westen, mit sehr wenigen Ausnahmen.
Die Folgen der 9/11-Doktrin und des Kriegs gegen eines der ärmsten Länder der Welt waren von Anfang an absehbar.
Da das US-Militär, um eigene Verluste auszuschließen, aus einer extremen Höhe von 10.000 Metern über dicht besiedeltem Gebiet bombte und Piloten das sogenannte "time critical" bzw. "flex targeting" ohne Aufklärung verwenden durften, wurden viele unschuldige Afghanen bei den US-Bombardements getötet.
Zwei Monate nach Beginn des Luftkriegs legte die New Hampshire University eine umfängliche Untersuchung der direkten zivilen Opfer der US-Bombardierungen in Afghanistan vor, inklusive Rohdaten. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass die Bomben innerhalb von acht Wochen fast 4.000 Zivilisten getötet hatten, vor allem Frauen und Kinder.
Lasst sie Gras essen
Die Medien gingen darüber hinweg oder stellten die Zahlen infrage. Für die FAZ und andere Medien war daher unerheblich, dass der von der US-amerikanischen Universität bezifferte "Kollateralschaden" durchaus nicht die "tatsächliche Zahl der zivilen Toten" wiedergab.
Die Hilfsorganisation "Médecins Sans Frontières International", die mit Mitarbeitern vor Ort war, nannte zum Beispiel höhere Opferzahlen – die deutschen Leserinnen und Leser erfuhren nichts davon. Ebenso nicht von den Tragödien in den afghanischen Lagern und Bergdörfern, wo Väter, Mütter und Kinder dazu übergingen, Gras vom Boden zu essen, um zu überleben.
Denn seit dem US-Luftkrieg hatten die USA Hilfslieferungen nach Afghanistan, einem der ärmsten Länder der Welt, das von humanitärer Hilfe abhängig war, gestoppt. Die Bäuche der afghanischen Babys wurden zuerst durch den Grasbrei wie die ihrer Eltern und Geschwister, steinhart, bevor sie in den Armen ihrer Mütter, die keine Milch mehr geben konnten, verstarben.
Kein Thema: Bis zu 20.000 indirekte Opfer
Tausende Afghanen verendeten im Winter 2001/2002 ohne Zugang zu Lebensmitteln – wie die Hilfsorganisation "Christian Aid" vom Lager in Maslakh nahe Herat zu berichten wusste. Die britische Reporterin McKinley bilanzierte, dass Maslakh sich am Rande eines "humanitären Desasters im Stil Äthiopiens" befände.
Opfer-Berechnungen zufolge, so der britische Guardian in einem Artikel (eine der seltenen Ausnahmen), starben in den ersten Monaten der Offensive als Folge des US-Luftkriegs mindestens 20.000 Afghanen an Bomben-Verletzungen oder medizinischer und humanitärer Unterversorgung, zusätzlich zu den direkten Opfern der Bombardierungen.
Während die Opfer der Anschläge vom 11. September in den USA (zu Recht) eine ausgiebige und einfühlsame Berichterstattung erfuhren, inklusive Human-Touch-Stories, und bis heute an die Opfer erinnert wird, verschwanden die Opfer "unserer" Aggression im Mülleimer der Geschichte. Genauso wie die Illegitimität des Kriegs, der Invasion, der Bombardierungen insgesamt
Die aktuelle Bilanz des Bundestags, kritisch gegenüber den "strategischen Fehlern" der gut gemeinten "humanitären Operation", ist nur ein weiterer (und konsequenter) Schritt bei der Entsorgung unangenehmer historischer Realitäten, wenn es um "unsere" Gewaltakte auf der internationalen Bühne geht.