Liegt das Heil wirklich in der direkten Demokratie?
- Liegt das Heil wirklich in der direkten Demokratie?
- Insgesamt gerade mal 22 Volksinitiativen in über hundert Jahren
- Der ewige Kampf zwischen Sauschwaben und Kuhschweizern
- Auch die direkte Demokratie kennt blödsinnige Entscheidungen
- Ein Karneval der Lächerlichkeit
- Man muss nur richtig rechnen…
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In der Schweiz funktioniert das in Grenzen
Kaum ein politisches Konzept erfreut sich derzeit so breiter Beliebtheit wie das der direkten Demokratie. Fast alle schwärmen davon: die Linken, die Sozialisten, die Sozialliberalen, die Moderaten, die Liberalen, die Konservativen, die gemäßigten und sogar die extremen Rechten. Selbst ausgewiesene Feinde der Demokratie wie Viktor Orbán planen eine Volksbefragung - natürlich nur über ein Thema, bei dem sie von vornherein wissen, was am Ende dabei herauskommt.
So viel Begeisterung aus allen Richtungen sollte jedermann wenn schon nicht misstrauisch, so doch wenigstens nachdenklich machen. Ist wirklich alles Heil von der direkten Demokratie zu erwarten?
Außer den amtierenden Politikern, für die das System der repräsentativen Demokratien einfach eine fabelhafte Sache ist, in dem sie geschäftig paradieren und die eigene Versorgung organisieren können, spricht heute kaum noch jemand ernsthaft davon, dass wir eine lebendige, funktionierende Demokratie haben. Deshalb gibt es fast nur noch Leute, die das Heil in der direkten Demokratie suchen. Aber werden sie es finden?
Zunächst einmal bleibt festzuhalten: Eine direkte Demokratie in Reinkultur gibt es nirgends und hat es nirgends je gegeben. Ob es die bei den in der Steinzeit streunenden Jäger- und Sammlerhorden je gab, ist irrelevant und wohl auch unwahrscheinlich. Auch die vielzitierte Attische Demokratie war keine Demokratie im modernen Sinn. Ja, selbst wenn sie eine gewesen wäre, war sie die Erscheinung eines fernen Zeitalters und ohne Relevanz für die heutige Zeit.
Starke Elemente direkter Demokratie gibt es heute nur in einigen amerikanischen Bundesstaaten wie California oder Oregon und vor allem in der Schweiz. Aber auch dort herrscht ein Mischsystem: Das politische System der Schweiz ist bestenfalls eine halbdirekte Demokratie, in der das Volk zu einem gehörigen Teil auch durch das gewählte Parlament und seine Abgeordneten repräsentiert wird. Auch in Deutschland steht nur der Gedanke zur Diskussion, das bestehende schwerfällige System der repräsentativen Demokratie durch einige Elemente der unmittelbaren Demokratie aus dem Tiefschlaf zu wecken.
Die Schweizerinnen und Schweizer wählen alle vier Jahre ihr Parlament und stimmen seit gut 150 Jahren im Schnitt drei- bis viermal pro Jahr als letzte politische Instanz über diverse Sachfragen auf allen Ebenen ab - in der Gemeinde, im Kanton und auf Bundesebene. Das übrigens kann gar nicht genug betont werden: Es geht in allen funktionierenden direkten Demokratien stets darum, das Volk an Sachentscheidungen zu beteiligen, nicht an Direktwahlen.
Die direkte Demokratie taugt nicht für Personalentscheidungen
Den inhaltlich zutreffendsten Ausdruck zur Bezeichnung direkter Demokratie benutzt heute kaum jemand: Man spricht von sachunmittelbarer Demokratie, um ganz deutlich zu machen, dass Personalentscheidungen - also Wahlen - nicht zu den Charakteristiken einer lebendigen direkten Demokratie gehören. Personalentscheidungen werden von bundesdeutschen Politikern besonders gern und oft herangezogen, um den Nachweis zu erbringen, dass diese wagemutigen Speerspitzen des demokratischen Fortschritts nun dabei sind, "mehr Demokratie zu wagen". Dabei tun sie das genaue Gegenteil, indem sie wahre Demokratie plebiszitär verfälschen.
Die Vielzahl der Nachteile von repräsentativen Demokratien und das Übergewicht der Eigeninteressen und des Eigenlebens der Repräsentanten sind in der Schweiz zwar abgemildert. Aber sie sind gleichwohl wirksam. Die politische Kaste, die in den entwickelten repräsentativen Demokratien vom Volk losgelöst ihr Eigenleben führt und ihre Eigeninteressen durchsetzt, wird in der Schweiz so einigermaßen wirksam in Schach gehalten. Aber mehr auch nicht.
Eine Mehrheit des Volks und der Kantone muss jede Verfassungsänderung durch ein obligatorisches Referendum gutheißen (Volks- und Ständemehr). Das bedeutet: Damit eine Abstimmungsvorlage angenommen wird, muss in bestimmten Fällen zusätzlich zur Mehrheit der Bürger auch die Mehrheit der Stände, also der Kantone zustimmen. Darüber hinaus gibt es das Volksreferendum und die Volksinitiative. Durch ein Referendum können die Schweizer aktiv in den Gesetzgebungsprozess eingreifen. Sie haben das Recht, über Parlamentsbeschlüsse nachträglich abzustimmen und sie zum Beispiel abzulehnen. Davor ist kein Parlamentsbeschluss sicher.
Obligatorisch müssen Volk und Stände abstimmen über Änderungen der Bundesverfassung; über den Beitritt zu internationalen Organisationen; über für dringlich erklärte Bundesgesetze, die keine Verfassungsgrundlage haben und deren Geltungsdauer ein Jahr übersteigt. Über diese Bundesgesetze müssen die Stimmberechtigten innerhalb eines Jahres nach deren Annahme durch die Bundesversammlung entscheiden.
Viele Bestimmungen in der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft müssen regelmäßig angepasst werden wie zum Beispiel die Zinssätze der Mehrwertsteuer. Auch Vorschläge zum Beitritt der Schweiz zu supranationalen Strukturen müssen dem Stimmvolk vorgelegt werden und die doppelte Mehrheit von Volk (Volksmehr) und Kantonen (Ständemehr) erhalten, um überhaupt in Kraft zu treten.
Das fakultative Referendum kann gegen alle Gesetze oder Gesetzesänderungen ergriffen werden. Damit das Volk nachträglich über einen Entscheid des Parlaments entscheiden kann, müssen das mindestens 50.000 Personen bis spätestens 100 Tage nach Publikation des entsprechenden Textes mit ihrer Unterschrift bei der Bundeskanzlei verlangen.
Dafür braucht ein fakultatives Referendum nur eine einfache Mehrheit des Stimmvolks. Mit ihrer Unterschrift können 100.000 Stimmberechtigte innerhalb von 18 Monaten durch eine Volksinitiative verlangen, dass die Verfassung in einzelnen Punkten geändert wird.
Bevor die Änderungen in Kraft treten, durchläuft jede Volksinitiative einen mehrstufigen Prozess. Wird das Begehren für gültig erklärt, berät zuerst der Bundesrat über dessen Inhalt, danach die eidgenössischen Räte. Handelt es sich um eine umstrittene Vorlage, die das Parlament spaltet, kann sich dieser Prozess über einige Jahre hinziehen.
In manchen Fällen erarbeiten die Räte einen direkten Gegenvorschlag, der als Alternative zur ursprünglichen Forderung der Initiative gemeinsam mit dieser zur Abstimmung kommt. Das Stimmvolk kann dann entscheiden, welche Version umgesetzt werden soll. Um angenommen zu werden, benötigen sowohl Volksinitiative wie der Gegenvorschlag das doppelte Mehr (Volk und Stände).