Liegt das Heil wirklich in der direkten Demokratie?
Seite 6: Man muss nur richtig rechnen…
- Liegt das Heil wirklich in der direkten Demokratie?
- Insgesamt gerade mal 22 Volksinitiativen in über hundert Jahren
- Der ewige Kampf zwischen Sauschwaben und Kuhschweizern
- Auch die direkte Demokratie kennt blödsinnige Entscheidungen
- Ein Karneval der Lächerlichkeit
- Man muss nur richtig rechnen…
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Doch tatsächlich stimmten überhaupt nur 48 Prozent aller SPD-Mitglieder (rund 18.700) ab, das heißt, die Mehrheit (fast 21.000) nahm gar nicht erst teil. Von den teilnehmenden Parteimitgliedern bekam Schmid 46 Prozent, also weniger als die Hälfte. Das waren etwas über 8.000 Stimmen. Von fünf Parteimitgliedern hat also gerade mal ein einziges ihn gewählt. Vier haben das nicht getan. Die überwiegende Mehrheit.
Und weil das nun einmal mit der fabelhaften Rechnerei so hervorragend funktionierte, hat er es 2011 gleich noch einmal ausprobiert. Diesmal wurden die Mitglieder der Partei zum Koalitionsvertrag mit den Grünen befragt. Und wieder kam es zum selben Spiel: Fast 25.000 Mitglieder gaben erst gar nicht ihre Stimme ab, 14.067 taten es, und von denen waren 12.795 dafür.
Damit beteiligten sich an der überwiegend per Brief durchgeführten Befragung gerade mal 37 Prozent der SPD-Mitglieder im Land. 63 Prozent beteiligten sich nicht. Und Schmid vermeldete stolz: "Das sind rund 92 Prozent Zustimmung für den Koalitionsvertrag."
Für die Parteiführungen sind diese Persiflagen auf richtige Wahlen ein nützliches Instrument. Sie lassen sich nach Belieben instrumentalisieren. Es bedarf nur einfacher Rechenkunststücke, und schon kommt das Richtige dabei heraus. Erich Honecker hat auch so ähnlich gerechnet. Schmid war übrigens bis März 2016 Wirtschafts- und Finanzminister von Baden-Württemberg, und man mag sich gar nicht vorstellen, was der sonst so zusammengerechnet hat…
Man erkennt mit einem Schlag: Selbst erz- und urdemokratisch erscheinende Wahlen und Abstimmungen sind nichts weiter als plump irreführende Techniken zur Besetzung von Führungspositionen in den Händen der politischen Machtelite. Sie haben eine lediglich akklamatorische Funktion und dienen ausschließlich dazu, längst getroffenen Entscheidungen im Nachhinein auch noch den Segen der Mitglieder zu verleihen und ihnen ein demokratisches Mäntelchen umzuhängen. Aber mit demokratischer Willensbildung haben sie in Wahrheit nicht das Geringste zu tun. In den Händen der innerparteilichen Seilschaften sind selbst demokratische Formen der Willensbildung nichts als Instrumente der Manipulation.
Überdeutlich wurde das bei der bombastisch gefeierten "Urabstimmung" der SPD-Mitglieder über den Vertrag zur großen Koalition 2013. Da musste man sich wenigstens nicht mehr die Beteiligungszahlen schönrechnen. Die waren nämlich tatsächlich eindrucksvoll: Die Wahlbeteiligung betrug etwa 78 Prozent, 75,96 Prozent der gültigen Stimmen waren für den Koalitionsvertrag.
Aber worüber stimmten die Genossen ab?
Über ein programmatisches Riesenpaket von 134 eng bedruckten DIN-A4-Seiten. Vielen Themen wie der Pkw-Maut hätten sie einzeln niemals zugestimmt. Doch über die einzelnen Themen durften sie ja gar nicht entscheiden. Im Vorfeld gab es nur eine von der Parteispitze geführte PR-Diskussion, in der die Pro-Position verteidigt wurde. Eine demokratische Diskussion fand gar nicht statt, nur eine gelenkte Diskussion.
Wer gegen den Koalitionsvertrag oder einzelne seiner Positionen Bedenken äußern wollte, bekam kein Forum. Die Parteiführung allein führte die Diskussion. So ähnlich wurden "Diskussionen" mit den Genossen auch zu Zeiten des großen Führers Josef Wissiaronowitsch Stalin geführt. Nur mussten diejenigen, die auf der "falschen" Seite an der Diskussion teilnahmen, nicht gleich mit der Deportation nach Sibirien rechnen. Aber ansonsten hatte das Parteivolk nur die Wahl: Entweder seid ihr für das gesamte Paket oder dagegen. Etwas anderes gab es nicht.
Das war ein Vorgang wie der einer normalen Bundestagswahl und eben deshalb kein Element von direkter Demokratie, noch nicht einmal ein Spurenelement: Man wählt pauschal eine Partei - egal, was die hinterher entscheidet und ob man damit einverstanden ist - oder man lässt es sein. Friss' oder stirb'.
Wie viel anders läuft lebendige direkte Demokratie ab, wo die Wähler entscheiden, ob sie ein einzelnes konkretes Gesetz oder eine einzelne Verfassungsänderung akzeptieren oder eben auch nicht akzeptieren oder eine einzelne Gesetzesinitiative annehmen oder ablehnen? Nur eine konkrete, im Detail genau spezifizierte Entscheidung kann Gegenstand der direkten Demokratie sein. Nicht eine pauschale Ermächtigung.
Auch hier gewährte die SPD-Parteiführung ihren Mitgliedern großmütig das Recht, über die Entscheidung abzustimmen, die man in der Parteiführung längst getroffen hatte. Und da die Parteiführung sich dafür entschieden hatte, eine Koalition einzugehen, dank derer die SPD an der Bundesregierung beteiligt wurde, war auch nicht damit zu rechnen, dass die SPD-Genossen sich dagegen aussprechen würden. Und die Parteiführung bekam die Akklamation, die sie brauchte, um sich anschließend lauthals rühmen zu können, sie habe schon wieder einmal "mehr Demokratie wagen" praktiziert. Tatsächlich hatte sie nur ein jämmerliches Schmierentheater inszeniert.
Es kam sogar noch schlimmer; denn im Vorfeld der Abstimmung klopfte die Parteiführung ihre Mitglieder mit dem Argument weich: Wenn ihr nicht der Führung zustimmt, dann ruiniert ihr die Partei und macht sie politikunfähig. Dann drohen Neuwahlen, und die SPD könnte noch weniger Stimmen bekommen als in der Bundestagswahl von 2013 und wäre auf Jahre hinaus von der Regierung ausgeschlossen.
Auch das sollte man sich sorgsam zu Gemüte führen: Da drohen angebliche Demokraten ihrem Wahlvolk mit demokratischen Wahlen.
Die Abstimmung war eine reine Alibiveranstaltung. Die Parteiführung hatte im Vorfeld längst die Stimmung unter den Mitgliedern ausgelotet und wusste ziemlich genau, wie das Kasperletheater ausgehen würde. Lebendige, gelebte Demokratie geht nun einmal von unten nach oben und nicht in umgekehrter Richtung. Von oben nach unten geht nur eine billige Scharade, die dem blöden Volk in Form einer Demokratie-Pantomime vorgegaukelt wird.
In einer lebendigen direkten Demokratie wie der Schweiz stimmen die Bürger über eine einzelne Verfassungsänderung, ein einzelnes Gesetz, eine einzelne Maßnahme oder eine einzelne Initiative mit genauer und detaillierter Beschreibung ab und treffen eine konkrete Sachentscheidung.
Elemente einer direkten Demokratie sind in repräsentativen politischen Systemen entweder gar nicht oder nur als Farce, als Karikatur ihrer selbst durchsetzbar. Das ist die traurige Realität. Es bleibt nur, weiter sehnsüchtig in die Schweiz zu schauen und zu hoffen, dass wenigstens Minimalelemente der direkten Demokratie sich in repräsentativen Gebilden durchsetzen lassen. Groß ist die Hoffnung nicht.
Siehe auch von Wolfgang J. Koschnick Link auf http://www.heise.de/tp/special/demo/default.html. In dem Telepolis-Special analysiert den Niedergang der entwickelten parlamentarischen Parteiendemokratien. Das verbreitete Klagen über "die Politiker" und die allgemeine "Politikverdrossenheit" verstellt den Blick dafür, dass alle entwickelten Demokratien in einer fundamentalen Strukturkrise stecken.