Liegt das Heil wirklich in der direkten Demokratie?
Seite 4: Auch die direkte Demokratie kennt blödsinnige Entscheidungen
- Liegt das Heil wirklich in der direkten Demokratie?
- Insgesamt gerade mal 22 Volksinitiativen in über hundert Jahren
- Der ewige Kampf zwischen Sauschwaben und Kuhschweizern
- Auch die direkte Demokratie kennt blödsinnige Entscheidungen
- Ein Karneval der Lächerlichkeit
- Man muss nur richtig rechnen…
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Als in der Schweiz das Frauenstimmrecht eingeführt werden sollte, stimmte das Parlament der Vorlage recht früh, nämlich im Jahr 1959 zu. Es setzte sich zeitgemäß für den demokratischen Fortschritt in der Gesellschaft ein. Aber eine Mehrheit der noch allein stimmberechtigten Männer lehnte sie anschließend in einem Referendum ab. Es dauerte dann weitere 12 Jahre, bis 1971 die Männer sich gnädig dazu herabließen, ihren Frauen das Stimmrecht zu gewähren. Das Schweizer Frauenwahlrecht ist also eine verspätete Gnadengabe der wackeren Schweizer Männer.
Die direkte Demokratie sollte man jedenfalls nicht blind verherrlichen. Auch das direkt entscheidende Volk ist vor blödsinnigen Entscheidungen nicht gefeit. Aber die Eigeninteressen der Repräsentanten und ihre vielfältigen Verstrickungen in Seilschaften mit Lobbyisten spielen in einer direkten Demokratie bei Entscheidungen bei weitem nicht eine so zentrale Rolle wie in einer rein repräsentativen Demokratie. Die Repräsentanten verzerren darin nicht den Volkswillen - und allein das ist ein gewaltiger Vorzug.
Auch das verfassungsgemäß gebotene "doppelte Mehr" begünstigt oft die kleineren, meist eher konservativen Kantone. Eklatant geschah das 1992, als die Schweizerinnen und Schweizer über den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zu befinden hatten.
Gegner und Befürworter erzielten zwar nahezu die gleiche Stimmenzahl, eine erdrückende Mehrzahl der Kantone (16 zu 7) lehnte jedoch den Beitritt ab. Jede Reform des Systems muss auch von den kleinen Kantonen gutgeheißen werden. Und die sind kaum geneigt, auf ihre Gleichbehandlung bei Abstimmungen zu verzichten.
In einer direkten Demokratie haben die politischen Parteien gewöhnlich deutlich weniger Macht als in einer repräsentativen Demokratie. Das ist ein gewaltiger Vorteil. Volksentscheide über Sachfragen laufen weder zeitlich noch thematisch parallel zu den Wahlen der Repräsentativorgane.
Die Bestechung von Politikern oder die Ausnutzung von persönlichen Beziehungen kommt in der direkten Demokratie kaum vor, da das Volk Entscheidungen leicht aufheben kann. Die undemokratischen Auswirkungen der 5-Prozent-Hürde auf die Regierungsbildung werden unwichtiger. Gegenseitige Blockademöglichkeiten wie die von Bundestag und Bundesrat in Deutschland sind ebenfalls wegen der Möglichkeit von Volksentscheiden stark eingeschränkt.
Sicherlich ist es ein großer Vorteil, dass die Bevölkerung wesentlich effektiver und schneller über aktuelle Gesetzesentwürfe mitentscheiden kann. Für Lügen und haltlose Versprechungen im Wahlkampf, die in allen repräsentativen Demokratien fester Bestandteil der politischen Folklore sind, ist in einer direkten Demokratie kaum Platz; denn die Bürger können Gesetzentwürfe jederzeit ablehnen. Die Politik ist gut beraten, von vornherein auf lügenhafte leere Versprechungen zu verzichten.
Die politische Kultur der direkten Demokratie bestärkt ihre Bürger in der Gewissheit, dass sie bei Entscheidungen ein gewichtiges Wort mitzureden haben und ihre Meinung Gewicht hat. Das ist schon etwas sehr grundlegend anderes als die Erkenntnis, dass man alle vier Jahre zur Wahl gehen und über die vorfabrizierten Kandidatenlisten politischer Parteien entscheiden darf. Die ins System der repräsentativen Demokratie eingebaute "rationale Ignoranz", die sich in politischer Apathie und progressiv sinkender Wahlbeteiligung manifestiert, spielt in der direkten Demokratie kaum eine Rolle.
Der Schweizer Bundesrat Arnold Koller beschreibt die Situation so: Unserer direkten Demokratie "kommt meines Erachtens eine wachsende Bedeutung zu für unsere nationale Identität. Durch Volksabstimmungen über wichtige Sachfragen erlebt sich die Schweiz fast permanent als politische Gemeinschaft und Nation. Selten nehmen wir die Stimmung in den anderen Landesteilen so deutlich wahr wie an Abstimmungswochenenden. Die direkte Demokratie ist also weit mehr als ein Verfahren zur Entscheidungsfindung, sie macht die Schweiz für die Bürgerinnen und Bürger erfahrbar. Sie verhindert auch, dass politische Konflikte unter den Teppich gekehrt werden. Nichts hält unser Land mehr zusammen als unsere direkte Demokratie."
Die direkte Demokratie führt vor allem auch dazu, dass die breite Bevölkerung die politischen Entscheidungen akzeptiert, in die Entscheidungsprozesse eingebunden ist und sich auch aktiv mit den Argumenten der Gegenseite vertraut macht. Grundsätzlich dürfte es auch für unterlegene Minderheiten leichter sein, das Urteil einer Mehrheit der Bürger zu akzeptieren als nur das Urteil der Mehrheit von 200 National- und 46 Ständeräten.
Selbst über Steuern und Finanzen stimmen die Schweizer ab
Da die Bürger verantwortliche Entscheidungen mittragen, sind sie eher bereit, sich in der Politik zu engagieren. Eigenverantwortung in überschaubaren Räumen ist die beste Voraussetzung für politisches Engagement.
Die Schweizerinnen und Schweizer kontrollieren über die Steuern sogar die Staatsfinanzen und verhalten sich dabei wider Erwarten und allen Unkenrufen über die Unfähigkeit der Bürger zum Trotz erstaunlich verantwortungsbewusst. Auf jeden Fall verantwortungsbewusster und gemeinwohlorientierter als die gewählten Abgeordneten in repräsentativen Demokratien.
In repräsentativen Demokratien ist ja die Überzeugung weit verbreitet, das Wahlvolk sei zu blöd oder zu eigensüchtig, um verantwortungsbewusst über öffentliche Finanzen zu entscheiden. Das Gegenteil ist wahr: Die gewählten Repräsentanten hantieren verantwortungslos mit den ihnen anvertrauten Geldern. Den Bürgern in der Schweiz kann man diesen Vorwurf nicht machen.
Während die Repräsentanten in den repräsentativen Demokratien halt- und schamlos das Geld der Bürger fehlleiten und verprassen, erlegt sich das Schweizer Volk durchaus Zurückhaltung auf. In den Worten des früheren Nationalrats Heinz Allenspach: "Politiker denken zu oft nicht in Generationen; ihr Gesichtsfeld umfasst höchstens eine vierjährige Legislaturperiode. … Wichtiger ist ihnen das Heute und die Zeit bis zu den nächsten Wahlen." Das ist die Erfahrung, die man mit dem verantwortungslosen Ausgabegebaren der Politiker in allen repräsentativen Demokratien macht.
Die beiden Schweizer Experten für ökonomische Glücksforschung, Bruno S. Frey und Alois Stutzer, lieferten 1999 erstmals empirische Belege für ihre These, dass direkte Demokratie nicht nur eine Reihe politischer und demokratiebezogener Vorteile hat, sondern eine viel umfassendere positive Wirkung mit sich bringt. Aus einem Vergleich der 26 Kantone schlussfolgerten sie: Direkte Demokratie macht die Leute glücklich!
Frey und Stutzer führen die höhere Lebenszufriedenheit - ihr Indikator für individuelles Glück - in stark direkt-demokratischen Kantonen auf zwei Faktoren zurück. Erstens erhöht die direkte Demokratie die Kontrolle über den politischen Prozess. Deshalb liegen die politischen Ergebnisse näher an den Präferenzen der Bevölkerung. Die Zufriedenheit mit den demokratischen Resultaten steigert auch das persönliche Glücksgefühl. Zweitens erhöht die pure Tatsache, dass Bürgerinnen und Bürger direkt am politischen Prozess teilnehmen können, deren Lebenszufriedenheit.
Kein Zweifel: Auch das Schweizer Mischsystem ist keine Insel der Seligen. Es ist jedoch ein Modell, das viele Schwächen der repräsentativen Demokratien nicht hat. Aber natürlich ist auch dieses System nicht unfehlbar. Fehlentscheidungen gibt es auch darin. So hat gerade 2014 eine Volksinitiative im Aargau durchgesetzt, dass die Kinder in den Kindergärten fortan nur noch Mundart und kein Schriftdeutsch sprechen dürfen. Ein Rückfall in finsterste Provinzialität und für Kinder, die später einmal den Aargau verlassen werden, eine Garantie für Rückständigkeit.
Allerdings sollten die Völker in repräsentativen Demokratien nicht gar zu viel Hoffnung in Elemente der direkten Demokratie setzen. In der Schweiz sind diese Modelle in geografisch kleinen Räumen und über einen jahrhundertelangen Prozess sehr organisch gewachsen. Man kann sie einem durch und durch repräsentativen System nicht einfach aufpfropfen. Doch genau das versuchen einige Politiker neuerdings und ohne Sinn und Verstand.