Lindners Geisterdebatte

Verlassenes Atomkraftwerk in Belgien. Finanzminister Lindner möchte der Dinosauriertechnik neues Leben einhauchen. Bild: Wendelin Jacober / CC0 1.0

Der Finanzminister scheint eine Vorliebe für das Reiten toter Gäule und abstruse energiepolitische Vorschläge zu haben. Eine Glosse

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) verlangt nach dem durchschlagenden Erfolg des Tank-Rabatts nun eine "offene Debatte" über die Atomkraft, berichtet der Spiegel. Deutschland dürfe sich nicht der Debatte verschließen, die überall auf der Welt geführt werde, auch wenn er noch nicht überzeugt sei, dass sich neue Investitionen in Atomkraftwerke lohnen würden.

Geäußert hat er seine interessanten Einsichten im Springer-Flaggschiff Bild, das derzeit seine Leserinnen und Leser mit einer reichlich aus der Zeit gefallenen Pro-Atom-Kampagne traktiert. Die Menschen, so will Lindner erfahren haben, würden eine Debatte über neue Atomkraftwerke erwarten, und zwar wegen des Klimaschutzes, der Abhängigkeit von Russland und – man höre und staune – wegen der Inflation.

Was letztere angeht, empfehlen wir dem Minister einen Blick nach Großbritannien. Dort sind sowohl sozialdemokratische als auch konservative Regierungen seit Jahren bemüht, neue Atomkraftwerke zu errichten. Bisher mit mäßigem Erfolg und einem interessanten Aspekt, der Auskunft über den Preis gibt, den die Verbraucher zu zahlen haben werden, sollten die Anlagen tatsächlich eines nicht so nahen Tages in Betrieb gehen.

Milliarden-Loch des französischen Atomkonzerns EDF

In Somerset, im Süden von Englands Atlantikküste, gegenüber von Wales, errichtet der staatliche französische Atomkonzern EDF gemeinsam mit der ebenfalls staatlichen China General Nuclear Power Group seit 2019 zwei Reaktoren, Hinkley Point C1 und C2. Wie an den berüchtigten Baustellen im französischen Flamanville und dem finnischen Olkilouto handelt es sich um sogenannte Europäische Druckwasserreaktoren (EPR, European Pressurized Reactors).

Und wie auf den beiden anderen Baustellen, den einzigen ihrer Art in Europa, verzögert sich der Bau immer mehr, während die Kosten explodieren. 18 Milliarden britischen Pfund waren ursprünglich veranschlagt. Inzwischen ist man bei 25 bis 26 Milliarden Pfund (29,5 bis 30,7 Milliarden Euro) angekommen, wie Telepolis erst kürzlich berichtete.

Die chinesischen Teilhaber haben sich übrigens bei ihrem Einstieg in das Projekt abgesichert und nur eine Festsumme in Höhe von sechs Milliarden Pfund zugesagt. Das Risiko trägt also EDF, das heißt, der französische Fiskus.

Und die britischen Verbraucher. EDF hat seinerzeit das Projekt nur unter der Maßgabe angenommen, dass es eine garantierten Preis für den geliefert Strom bekommt. 35 Jahre lang soll es 9,25 Pence (10,8 Cent) pro Kilowattstunde geben.

Das ist rund vier bis sechs Cent mehr, als es in Deutschland für Strom aus im Juni neu errichteten Solaranlagen gibt. Mit dem Unterschied, dass deren Betreibern der feste Abnahmepreis nur für 20 Jahre garantiert wird. Außerdem ist dieser fix, während EDF für seinen Atomstrom eine automatische Inflationsanpassung zugesichert wurde.

Wirtschaftlich, für wen?

Fazit: Trotz katastrophaler Verluste für EDF wird der Atomstrom für den britischen Verbraucher noch immer erheblich teurer als deutscher Solarstrom sein. Kann man alles übrigens schon seit Jahren bei Telepolis nachlesen, aber vielleicht mangelt es dem Finanzminister einfach ein wenig an Zeit, sich ausreichend zu informieren.

Was schließlich den Eingangs erwähnten Tank-Rabatt angeht, so zeigt sich inzwischen, dass die Energiekonzerne offensichtlich nicht gedenken, die Absenkung der Energiesteuer vollständig an die Verbraucher weiterzugeben. Der Preis für einen Liter Diesel und Benzin bewegt sich immer noch um die zwei Euro.

Die 3,15 Milliarden Euro Steuereinnahmen, auf die der Fiskus aufgrund des Insistierens der FDP verzichtet, landen also überwiegend in den Kassen der Unternehmen. Setzt man derlei als Kriterium der Wirtschaftlichkeit an, nach der Lindner fragt, so wird sicherlich auch der Bau neuer Atomkraftwerke ein voller Erfolg werden – zumindest für die beteiligten Bauunternehmen –, auch wenn er sich hinziehen und sicherlich nicht zur Versorgungssicherheit beitragen wird.