Macron und die "soziale Frage"

Demonstration am 10.Oktober 2017 in Paris. Screenshot, YouTube (PCF)

Der französische Präsidenten ließ wiederholt Arroganz gegenüber ärmeren Menschen erkennen. Gestern demonstrierten erneut Hundertausende gegen seine "Serie negativer Maßnahmen"

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Die Popularitätswerte von Präsident Emmanuel Macron, fünf Monate nach seiner Wahl, ergeben ein kontrastreiches Bild. Zwar schienen sie nach einem starken Sommertief, bei dem Macron sogar die Rekord-Unpopularität seines Vorgängers François Hollande ein- und überholte, seit September wieder leicht anzusteigen. Aber dies verdankte Macron vor allem einer stärkeren Verankerung unter konservativen Wählerinnen und Wählern.

Sozial unzufriedene Teile der Gesellschaft wandten sich hingegen verstärkt von ihm ab. Seine Präsidentschaft polarisiert also stärker als zu Anfang und stützt sich nunmehr klarer als zuvor auf den rechten Flügel der Gesellschaft.

"Soziale Frage entscheidend"

Anfang Oktober d.J. verschlechterten sich Macrons Beliebtheitswerte in vielen Befragungen erneut. Der Generaldirektor des demoskopischen Instituts Kantar Sofres erklärte unterdessen gegenüber der konservativen Tageszeitung Le Figaro, dass vor allem "die soziale Frage" entscheidend für die Kurve von Macrons Popularitätswerten sei.

Dies ist zweifellos richtig. Erwähnung finden sollte jedoch daneben auch, dass das Institut Kantar Sofres - hervorgegangen aus einer Holding mit katarischem Kapital, die das französische Institut Sofres aufkaufte - einen Stiefsohn von Emmanuel Macron zum Vize-Chef hat.

Zwar dementieren die Meinungsforscher dieses und anderer Institute eifrig jeglichen Einfluss dieser Tatsache auf ihre Arbeit. Das Misstrauen über alle Macron betreffenden Umfragen ist jedoch gesät, und findet vor allem auf Blogs sowie in den sozialen Medien Ausdruck.

Und dies nicht nur bei ausgemachten Rechtsextremen wie Pour les Notres. Die etablierten Medien, wie die beiden privaten Fernsehsender TF1 und RTL, stärken dem Institut jedoch den Rücken.

Sozialer "Saustall"

Emmanuel Macrons Popularität ist erneut massiv bedroht, seitdem er sich jüngst mit einem Ausspruch in weiten Teilen der Gesellschaft in die Nesseln gesetzt hat. Er antwortete dabei auf streikenden Arbeiter eines Automobilzulieferers - GM&S -, der in einem strukturschwachen Gebiet in Gestalt des Départements Creuse niedergelassen ist und dessen Beschäftigte gegen ihre drohende Entlassung kämpfen. Ihnen bescheinigte er: "Anstatt einen Saustall anzurichten, sollten manche sich lieber neue Jobs suchen!"

Dieser als zynisch empfundene Ausspruch - Jobs gibt es indem strukturschwachen Gebiet bereits heute nur in ungenügender Zahl - schockierte die betroffenen Lohnabhängigen. Der Staatschef und seine Umgebung versuchten seitdem zurückzurudern - und behaupten nun, seine Formulierung vom "Saustall" habe sich nicht auf die Beschäftigten selbst bezogen, sondern auf ihre gewerkschaftlichen Sprecher, welche nicht mit der Regierung kooperierten.

Dies dürfte es in den Augen weiter Teile der öffentlichen Meinung kaum besser machen. Auch die politische Opposition, links wie rechts, empörte sich und sprach von Verachtung für die sogenannten "sozialen Unterklassen".

Tatsächlich handelt es sich nicht um das erste Mal, dass Macron eine gewisse Arroganz gegenüber ärmeren Menschen sowie gegenüber abhängig Beschäftigten durchblicken lässt. Anfang September etwa erklärte er, es sei "nicht die Straße, die regiert", um hinzuzufügen: "Ich werde in nichts nachgeben, weder den Faulenzern, noch den Zynikern, noch den Extremisten."

Vor allem die Darstellung von Angehörigen der subalternen Klassen als "Faulenzer" rief dabei böses Blut hervor. (Regierungssprecher Christophe Castaner versuchte es dann dahingehend zurecht zu biegen, dass er erklärte, Macron habe seine reformunwilligen Vorgänger mit den "Faulpelzen" gemeint.) Zuvor hatte Macron 2014 Arbeiterinnen in der Bretagne als "Analphabetinnen" hingestellt oder Anfang 2017 das Hauptproblem der infolge der Stahlkrise teilweise abgehängten Krisenregion Nord-Pas de Calais in "Alkoholismus und Tabaksucht" zu entdecken versucht.

Vor Unternehmern unterschied er im Frühsommer 2017 erfolgreiche Menschen von solchen, die, so wörtlich, "nichts sind".

Vorbild Sarkozy?

Aufgrund seiner Ausfälle wird Macron nun in den Medien verstärkt mit seinem Vorvorgänger im Amt, Nicolas Sarkozy verglichen. Dessen Neureichen-Habitus und Arroganz wurden vor allem in den ersten Monaten seiner Amtszeit (2007 bis 2012) beinahe sprichwörtlich und schadeten ihm politisch.

A propos Sarkozy: Die jüngsten Kapriolen seines Amtsnachfolgers Emmanuel Macron ermöglichten nun sogar einem seiner früheren - besonders umstrittenen - Mitarbeiter Sarkozys, sich nun auf demagogische Weise als soziales Gewissen zu profilieren. Da spricht geradezu ein wahrer Experte: "Da ist zu viel Brutalität dabei, das Reform-Universum ist gesättigt" (sic), urteilte Éric Woerth über die derzeitigen Reformvorhaben der französischen Regierung unter Präsident Emmanuel Macron.

Woerth, der die Idee vom Reformterror solcherart - beinahe poetisch - umschrieb, war der frühere Arbeits- und Sozialminister unter Nicolas Sarkozy im Jahre 2010. Er musste anderthalb Jahre vor dem Ende der Amtszeit Sarkozys wegen schwerer Korruptionsvorwürfe zurücktreten, hat sich jedoch wieder hochgearbeitet und ist derzeit Vorsitzender im Finanzausschuss der französischen Nationalversammlung.

Sanft ging es auch in der Regierungszeit Woerths nicht zu. Als Minister setzte er trotz einer von Mai bis November 2010 dauernden Streik- und Protestbewegung (dieses Video stammt aus der Periode) eine regressive "Reform" der Rentensysteme und insbesondere eine erhebliche Verlängerung der Lebensarbeitzeit durch. Doch nun sieht er zu viel des Guten am Werk.

Sicherlich ist es auch parteitaktisches Politikergerede, wenn Woerth nun zu dem Schluss kommt: "Unter dem früheren Präsidenten (Sarkozy) gab es eine Form der Empathie. Heute gibt es keine humane Dimension in den Reformen." So viel menschliche Empfindungen kämen bei Eric Woerth wohl nicht auf, säße er derzeit auf der Regierungs- statt auf der Oppositionsbank.

Dennoch ist es - jenseits aller parteipolitischen Profilierungsspielchen -bemerkenswert, dass ein reaktionärer und wirtschaftsliberaler Politikfunktionär den amtierenden Präsidenten Macron ausgerechnet von dieser Seite her attackiert.

Aus anderen Motiven als der Ex-Minister, dessen Empathiegefühle für die Lohnabhängige sich in engen Grenzen halten dürften, gibt es derzeit Protest und Opposition gegen Macrons Sozialreformen.

200.000 bis 400.000 Demonstranten: Gewerkschaften ziehen an einem Strang

So stand am Dienstag, dem 10. Oktober, ein gewerkschaftlicher Aktionstag auf dem Programm, zu dem in den öffentlichen Diensten alle neun dort vertretenen Gewerkschaften gemeinsam aufriefen. Laut Innenministerium demonstrierten gut 200.000 Personen in ganz Frankreich, laut der Gewerkschaft CGT waren es 400.000, die gegen eine "Serie von negativen Maßnahmen" protestierten.

Nach Angaben des Ministeriums, das für die öffentlichen Ausgaben zuständig ist, folgten zwischen 9,5% und 14% dem Streikaufruf für den öffentlichen Dienst. Die CGT spricht dagegen von 30 Prozent. Als bemerkenswerter Fakt ist jedoch unumstritten, dass sie alle neun Gewerkschaften an einem Strang zogen. Das hat Seltenheitswert und ist in dieser Form seit zehn Jahren nicht dagewesen.

Beobachter fühlen sich vor allem an die Vorboten der Herbststreiks in den öffentlichen Diensten im Jahr 1995 erinnert, deren erster Akt in Gestalt eines Demonstrations- und Protesttags ebenfalls an einem 10. Oktober stattfand.

Unbezahlter erster Krankheitstag, Einfrieren der Gehälter, Stellenabbau

In diesem Jahr ging es dabei vor allem gegen die Wiedereinführung eines Karenztags, also eines unbezahlten ersten Krankheitstags, die jüngst beschlossen wurde, nachdem ein Anfang 2012 unter Sarkozy eingeführter Karenztag im Jahr 2014 unter dem Sozialdemokraten François Hollande wieder abgeschafft wurde.

Hinzu kommen das Einfrieren der Gehälter in den öffentlichen Diensten, der dortige Stellenabbau - Macron will mindestens 120.000 Arbeitsstellen verschwinden lassen - sowie die geplante Anhebung der CSG (Allgemeine Sozialabgabe), einer Art Kopfsteuer.

Letztere soll um 1,7 Prozent steigen, da die Regierung beabsichtigt, Sozialabgaben für Arbeitgeber wie Lohnabhängige zu senken und im Gegenzug diese einkommensunabhängige Kopfsteuer verstärkt zur Finanzierung der Sozialkassen heranzuziehen. Die CSG existiert seit Anfang der neunziger Jahre und wurde seitdem sukzessive erhöht.

Bezahlt wird sie nicht nur durch Bezieherinnen von Lohneinkommen und Gehältern, sondern auch etwa durch Pensionäre und einen Teil der Erwerbslosen. Gegen ihre relativ starke Anhebung protestierten am 28. September auch mehrere Tausend Rentnerinnen und Rentner in mehreren französischen Städten.

Interessant an den Auswirkungen des Aktionstages vom 10. Oktober wird sein, ob es gelingen wird, einen Brückenschlag zu anderen sozialen Gruppen zu erreichen, die ebenfalls gegen Macrons sogenannte Reformpolitik opponieren. Unter ihr leiden Betroffene auf unterschiedlichen Ebenen, etwa auch durch die drastische Sparpolitik, mittels derer der Staat - bei der Umverteilung seiner Einnahmen an die Gebietskörperschaften - Kommunen, Départements und Regionen finanziell austrocknet.

Letzte Woche schlugen bei einer Sitzung von Staatsvertretern und solcher der Regionen zum Thema die Letztgenannten die Türen hinter sich zu und zogen aus.

Kampf gegen Arbeitsrechtsreform

Kernstück der umkämpften Reformen ist jedoch jene des Arbeitsrechts (vgl. Frankreich: Auftakt der Opposition auf der Strasse), die das unter François Hollande - nach mehrmonatigen Auseinandersetzungen - verabschiedete "Arbeitsgesetz" vom 08. August 2016 noch verschärfen soll. Bislang scheiterten die Versuche der Gewerkschaften, durch ihre Mobilisierungen die Regierung zu einem Rückzieher zu zwingen.

So begann am 25. September ein Fernfahrerstreik gegen die Arbeitsrechtsreform: In ihrem Sektor fordern die LKW-Fahrer vor allem einen Abbau von Lohnprämien, die bislang auf Branchenebene ausgehandelt wurden, künftig nach der "Reform" jedoch den einzelnen Unternehmen überlassen bleiben. Am Donnerstag, den 28. September wurde er vorübergehend ausgesetzt.

Das Arbeitgeberlager hatte sich jedoch für eine harte Haltung entschieden, zumal ihm die - mit der EU-Entsenderichtlinie in ihrer jetzigen Form begünstigte - Konkurrenz osteuropäischer billigerer Anbieter im Nacken sitzt. Deswegen endete eine Schlichtungsrunde auch mit dem Auszug der Gewerkschaften, deren Vertreter sich erniedrigt fühlten.

Erwartungen an protestierende Fernfahrer

Daraufhin wurde erwartet, dass die Fernfahrerstreiks rund um den 10. Oktober wieder losgehen könnten, wenn sich ein Brückenschlag zu anderen Protestgruppen abzeichnet. Zumal die linksalternative Eisenbahnergewerkschaft SUD Rail - die zweit- bis drittstärkste Beschäftigtenorganisation bei der französischen Bahn - dazu aufrief, bei den Demonstrationen der Staatsbediensteten auch ausdrücklich den thematischen Brückenschlag zum Arbeitsrecht im privaten Sektor und dessen Reform zu suchen.

Bei den LKW-Fahrern könnten, so zeichnete sich ab, neben den bislang zum Streik aufrufenden Branchenverbänden der Gewerkschaftsdachverbände CGT und FO nun auch die als "moderater" bezeichneten Gewerkschaften CFDT und CFTC in den Arbeitskampf mit einsteigen.

Inzwischen wurde der Arbeitskampf im LKW-Transportsektor jedoch beendet, da ein Abkommen geschlossen wurde, nachdem die Regierung und das Arbeitgeberlager gegenüber den Beschäftigten nachgegeben hatten. Sowohl rechte Medien als auch die CGT konstatieren ein Einknicken der Regierung gegenüber den Forderungen. Die CGT im Straßentransportsektor rief dennoch weiterhin dazu auf, die Proteste am 10. Oktober zu unterstützen.

In ihrer Branche hat die Regierung nun akzeptiert, dass spezifische Regeln das Abweichen "nach unten" - etwa bei Lohnzulagen - gegenüber dem Branchentarifvertrag in den einzelnen Unternehmen zu verhindern. Dadurch wird just eines der Kernstücke der Arbeitsrechtsreform konterkariert und für diese Branchen faktisch außer Kraft gesetzt.

Mélenchon: "Eine Million Demonstranten auf den Champs-Elysées"

Neben den Gewerkschaften rund um die CGT, die bereits am 12. und 21. September Straßendemonstrationen zur Arbeitsrechtsreform organisierten, hat auch der Linkspopulist und Parlamentsabgeordnete Jean-Luc Mélenchon seinen eigenen Protesttag am 23. September abgehalten.

Zu ihm kamen Zehntausende. Bislang warf die CGT-Spitze Mélenchon tendenziell vor, das Risiko einzugehen, mit seinen Parteiinitiativen ihren Sozialprotesten das Wasser abzugraben. Nunmehr hat jedoch Mélenchon - und sei es, um sich zu profilieren - bei seiner Rede am 23. September erklärt, er reihe sich künftig hinter den Gewerkschaften ein, wenn diese nur eine starke Initiative zum Thema ergriffen.

Dies solle vor der letzten Runde im Ringen um die Arbeitsrechtsreform, also der am 20. November beginnenden Parlamentsdebatte zur Ratifizierung der Regierungsverordnungen zum Arbeitsrecht, geschehen.

Als Ziel nannte Mélenchon "eine Million Demonstranten auf den Champs-Elysées". Dies dürfte, wörtlich genommen, derzeit unrealistisch sein (nicht nur, weil die Regierung seit Jahrzehnten keine Genehmigungen für Protestzüge auf den Champs-Elysées erteilt). Mélenchon ist, was Zahlenangaben zu Mobilisierungen betrifft, auch durchaus als Großsprecher bekannt.

Sollten jedoch soziale und gewerkschaftliche Verbände darauf einsteigen, und sei es nur, um Mélenchon nicht das Feld für reine parteipolitische Profilierung zu überlassen, könnte dies Spielräume eröffnen.

Dies setzt jedoch voraus, dass zuvor in einigen der beteiligten Sektoren Erfolge erzielt wurden, um die Durchsetzungsfähigkeit zu beweisen und so die Mobilisierung zu verbreitern. Vielleicht hat der erfolgreiche Arbeitskampf im LKW-Transportsektor nun eine Tür dafür geöffnet.