"Man wird einem anderen Islam begegnen"
Seite 2: "Der Mensch als Bürger zweier Welten"
Der Einsatz des Marxschen Denkens und der auf ihm gründende Begriff einer politischen Weltanschauung beruht also auf Voraussetzungen, die unverkennbar philosophischen Charakters sind…
Thomas Metscher: So ist es. Hier ist als Erstes die Voraussetzungen einer materialistischen Ontologie im erläuterten Sinn zu nennen. Sie betreffen das individuelle wie soziale Sein des Menschen als In-Sein - Existenz - in einer Natur-Ordnung, zugleich in einer durch menschliche Tätigkeit, vorab Arbeit, veränderten Welt. Der Mensch als Bürger zweier Welten, doch jetzt in einem neuen Sinn: als Bürger der Natur-Welt und als Bürger der Kultur, als zweiter, durch menschliche Tätigkeit geschaffener Welt, ein Problem höchst aktueller Bedeutung. Zentrale Bedeutung hat, seit den Feuerbach-Thesen, der Begriff menschlicher Praxis im Sinn sinnlich-gegenständlicher Tätigkeit. Hier ist Arbeit, doch zugleich mehr als Arbeit gemeint. Auch Spiel, Musik, Kunst, Segeln, Bergsteigen, Wandern, Schwimmen, Radfahen, vieles andere kommt hinzu.
Solchen Tätigkeiten zugrunde liegen oft vortheoretische lebensweltliche Erfahrungen, verbunden damit tradierte Selbstbeobachtung, Reflexion individuellen wie sozialen Seins. Zur gegenständlichen Tätigkeit gehört Wissen in einem elementaren Sinn: kulturelles Wissen, von dem wir eingangs sprachen.
Der Gedanke, das sich der Mensch in seiner kooperativen Arbeit in und an der Natur als distinktes Naturwesen erst herstellt, sein Wesen also kein Abstraktum ist, das den Individuen innewohnt, sondern vielmehr ein geschichtlich-gesellschaftlichen Konkretum, das sich in der menschlichen Arbeit erst konstituiert, im historisch gewordenen Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse erst objektive Wirklichkeit gewinnt, ist ein genuin philosophischer Gedanke, von dem her erst die neue Form der Philosophie begründet werden kann. Philosophiegeschichtlich bedeutet sie eine Grundsatzrevision philosophischen Denkens, die den Charakter einer theoretischen Revolution besitzt.
Mit ihr rücken zwei Begriffe in den Rang logisch-ontologischer Basiskategorien: Dialektik und Geschichte. Beide erläutern einander, insofern die Geschichte dialektisch und die Dialektik geschichtlich ist. Sie bilden eine dialektische Relation. Es ist also kein ideologisches Glasperlenpiel, wenn der "neue" Materialismus, den, gemeinsam mit anderen Schriften, die Feuerbach-Thesen entwerfen, dialektisch-geschichtlich genannt wird. Vielmehr bezeichnen die neuen Begriffe den konkrete Inhalt dessen, was seit Labriola und Gramsci die "Philosophie der Praxis" heißt. Der Titel rückt in den Vordergrund, was in der traditionellen Philosophie, wenn überhaupt, höchstens am Rande thematisiert wurde.
"Philosophische Implikate wurden als etwas Selbstverständliches vorausgesetzt"
Engels’ Auffassung, dass die traditionelle Philosophie mit Hegel an ihr Ende kam und nach diesem Ende allein noch, neben logisch-methodologischen Problemen, die Frage der Dialektik philosophisch zu behandeln sei, klingt allerdings nicht nach großen Aufgaben mehr …
Thomas Metscher: Der Eindruck täuscht. Es handelt sich doch mit der Frage nach Dialektik um ein Grundlagenproblem, das die neue Philosophie mit dem Besten der alten verknüpft und das trotz einer reichen Literatur bei weitem nicht als gelöst betrachtet werden kann. Bis es gelöst ist, wird noch viel Wasser den Rhein herabfließen. Nicht umsonst gehen gerade in dieser Frage die Auffassungen der Besten unter den heutigen Philosophen weit auseinander - man denke an die kontroversen Meinungen von Hans Heinz Holz und Wolfgang Fritz Haug zu dieser Frage.
Gegen die These, dass der Ansatz des Marx/Engelsschen Denkens im substantiellen Sinn philosophische Implikate besitzt, ja auf philosophischen Voraussetzungen beruht, spricht nicht, dass sich beide, vor allem Marx, mit solchen Grundsatzfragen nicht existentiell befassten. Sie wurden von Beiden als etwas Selbstverständliches vorausgesetzt; unüberhörbar bereits in der "Deutschen Ideologie", wenn dort von den "empirischen Voraussetzungen" ihres Denkens gesprochen wird: dem factum brutum, dass Menschen ihre Lebensmittel produzieren müssen, um als Spezies überhaupt überleben zu können.
Das klingt jetzt nicht so, als wäre es um eine philosophische Allianz zwischen Marx und Kant besonders gut bestellt …
Thomas Metscher: Es kann von so einer Verbindung von Marx und Kant kaum die Rede sein. Die Hauptdifferenz dürfte darin liegen, dass die Kantsche Philosophie, legen wir auch nur die Latte Hegel an, eine vordialektische (protodialektische) Philosophie ist und neben dem Mangel an Dialektik auch der Mangel an Geschichtlichkeit in ihr zu beklagen ist. Das bedeutet nun nicht, dass marxistisches Denken nichts bei Kant lernen könnte. Kants Kritikbegriff, der ja nicht nur nach dem Falschen in menschlicher Erkenntnis beziehungsweise eines bestimmten Gegenstandsbereichs solcher Erkenntnis fragt, sondern nach den Grenzen und Möglichkeiten des Erkennens, bezogen sowohl auf einen bestimmten Gegenstandsbereich wie auf Erkennen überhaupt, ist für marxistische Philosophie unverzichtbar. Kritik als Grenzziehung - bezogen auf Ideologie: als Verkehrung des Bewusstseins - bildet ja bereits ein Stück Dialektik im Rahmen der Transzendentalphilosophie, ist also anschlussfähig für dialektisches Denken.
In diesen Zusammenhang gehört dann auch die metaphysikkritische Frage nach Möglichkeit und Grenzen der Metaphysik. Kants Metaphysikkritik, insbesonders seine Kritik der Gottesbeweise halte ich für einen großen Befreiungsschlag aufklärerischen Denkens. Es stellt auch die Frage marxistischer Religionskritik erst auf materialistisch gesicherten Grund.
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