"Man wird einem anderen Islam begegnen"

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Thomas Metscher über den Marxismus als Philosophie, Teil 2

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Es ist auch im Marxismus common sense einen konträren Standpunkt moralisch zu verwerfen, während eine dialektische Kritik sie insofern richtig stellt, indem sie verzerrten Positionen korrigiert und die richtigen Einsichten vertieft, erweitert, verallgemeinert und die sie in einen systematischen Zusammenhang stellt und sie integriert. So bei Aristoteles, Hegel und Marx selber. Ein Gespräch mit dem Philosophen Thomas Metscher zu seinem Buch "Integrativer Marxismus".

Zu Teil 1: "Wenn ich sehe, wie mit Sahra Wagenknecht umgegangen wird, dann erfasst mich das nackte Grauen"

Herr Metscher, Karl Marx hat in seine Methode und sein System Erkenntnisse aus der Philosophie von Aristoteles bis Hegel und aus der klassischen bürgerlichen Ökonomie von Adam Smith bis David Ricardo integriert und gleichzeitig diese Denker auch grundlegend kritisiert. Marx war also integrativer Marxist. Warum sind diese Ansätze im 20. Jahrhundert nicht weiter geführt worden?
Thomas Metscher: Was Sie zu Marx, seiner Methode und seinem System sagen, entspricht sehr genau meiner eigenen Einsicht und Überzeugung. Man könnte zu den von Ihnen Genannten eher noch weitere Namen hinzufügen, denkt man nur an seine Dissertation über die frühen Materialisten und seine lebenslange Beschäftigung mit Literatur. Ich erinnere hier allein an das große Werk von S.S. Prawer, Karl Marx und die Weltliteratur.
Marx' Konzept war fraglos integrativ, gerade auch in methodischer Hinsicht (ich erinnere an seinen Umgang mit dem alten Materialismus und dem Idealismus in den Feuerbach-Thesen), ohne dass er das Wort dafür gebrauchte - aber die Terminologie ist hier ohne Bedeutung. Er verfuhr integrativ der Sache nach. Gleiches gilt für Engels, Lenin, Labriola, Gramsci, Luxemburg, Brecht, Weiss, Lukács, Bloch, Ngugi - man nenne die Namen. Das integrative Denken, so lässt es sich mit einem Worte sagen, bildet die Hauptlinie des marxistischen Konzepts. Dieses war zudem von Beginn an internationalistisch orientiert - ohne die kulturellen Besonderheiten des Demokratisch-Nationalen drüber zu vergessen, wie es heute geschieht.
In diesen Zusammenhang gehört auch Lenins Konzept der Zwei Kulturen, die Einsicht, dass in der gesamten Geschichte der Klassengesellschaft der herrschenden Kultur eine Kultur der Beherrschten gegenüber steht (zumindest Elemente einer solchen Kultur), die sich als plebejisch, demokratisch, sozialistisch charakterisieren lassen. Es ist ein Konzept, von dem auch auf der Seite der Linken kaum Gebrauch gemacht wird.
Sicher stehen in Konzepten integrativer Kultur nicht immer die gleichen Personen im Kernbereich - mit der Ausnahme wohl der Klassiker erster Ordnung. Hier sind kulturelle und historische Differenzen ins Spiel zu bringen. Sie haben nicht zuletzt damit zu tun, dass der Marxismus plural ist, was freilich nicht dasselbe ist wie integrativ. Plural bezieht sich auf Unterschiede, integrativ auf Gemeinsamkeiten. So gibt es Formen des pluralen Marxismus, die sich von anderen abgrenzen, gerade auch von Formen bürgerlichen Denkens, im Charakter des Integrativen liegt, dass dieser das Gemeinsame sucht - auch und gerade im Pluralen der theoretischen und praktischen Formen.
Warum hat sich das integrative Konzept des Marxismus nicht durchgesetzt?
Thomas Metscher: Das ist nicht leicht zu beantworten. Das hat, meine ich, mit dem Niedergang des Marxismus zu tun, der gerade in dem Zeitraum erfolgte, in der er politisch seine größten Triumphe feierte, nach dem Sieg über den Faschismus. Sie hat mit dem Tatbestand zu tun, dass der Marxismus als politische und philosophisch fundierte Weltanschauung in vielen der sich sozialistisch nennenden Länder unentwickelt war - der integrative Marxismus aber eine hohe politische und theoretische Kultur voraussetzt, die nirgendwo in den sozialistischen Ländern zu finden war.
Dem Dogmatismus der Stalinära war dialektisch-integratives Denken so fremd wie dem Revisionismus der nach Stalin folgenden Epoche. Solche historischen Entwicklungen sind in Rechnung zu stellen, wenn über die Vergangenheit wie die Zukunft des Marxismus gehandelt werden soll.
Inwiefern würden Sie sagen, dass der Marxismus eine Philosophie darstellt? Was sind bislang seine Grenzen? Hier gab und gibt es immer wieder Bestrebungen, die Gedankenwelt von Immanuel Kant in den Marxismus zu integrieren. Welche Ansätze hat Marx von Kant übernommen, was können Marxisten von ihm lernen und was gilt es, an ihm grundlegend zu kritisieren?
Thomas Metscher: Es ist meine Grundüberzeugung, und sie liegt meinen Überlegungen zu einem integrativen, zukunftsfähigen Marxismus zugrunde, dass im Denken von Marx und Engels die Philosophie eine konstitutive Rolle spielt, zukünftig aber noch im hohen Masse ausgebaut werden muss. Dabei aber kann es nicht darum gehen, den Marxismus durch konzeptionelle Motive von Kant anzureichern - alle bislang vorgenommenen Versuche dieser Art sind gescheitert -, die Ausarbeitung der Philosophie muss vielmehr auf dem eigenen Grund und Boden des Marxismus erfolgen. Anzuknüpfen ist dabei an die Theoretiker, die selbst mit gültigen Ergebnissen an einer marxistischen Philosophie gearbeitet haben, so Lenin, Gramsci, Lukács, Bloch, Weiss, Haug, Holz.
Können Sie das konkretisieren?
Thomas Metscher: Was die Position der Philosophie im dialektischen Denken von Marx und Engels betrifft, so bedeutet sie nicht ihre Abschaffung, doch ihre Veränderung. Der Standpunktwechsel vom "alten" zum "neuen" Materialismus, von der "bürgerlichen" zur "menschlichen Gesellschaft", die dadurch errungene Position der "gesellschaftlichen Menschheit", verändert, so sehr auch Verbindungslinien bleiben, Funktion und Bedeutung der Philosophie von Grund auf. Auch diese ist jetzt neu zu konzipieren. Die Zeiten, in denen sie als metaphysisches Separatum über den Dingen schwebte, nur zugänglich den wenigen Auserwählten, die sich Philosophen nannten, sind endgültig vorüber.
Was in der Vergangenheit Metaphysik hieß, verfiel der kritischen Analyse: seit den Empiristen, seit Kant, endgültig dann mit Wittgenstein und der analytischen Philosophie. Was in der metaphysischen Frage als Positivum überlebte, wurde im dialektischen Materialismus, ich nenne hier Hans Heinz Holz, als Dialektik weitergeführt. Auch das Theorie-Praxis-Verhältnis hat bereits die alte Philosophie, in ihren besten Vertretern, als Frage der Philosophie gestellt - doch nicht als Grundfrage. Mit Hegels Tod aber geht die alte Philosophie zuende. Das Gerüst des überkommenen Denkens zerbricht. Vieles davon ist verbraucht, doch Einiges bleibt, das der weiteren Bearbeitung bedarf, Manches tritt jetzt erst in seiner vollen Bedeutung hervor.

"Der Mensch als Bürger zweier Welten"

Der Einsatz des Marxschen Denkens und der auf ihm gründende Begriff einer politischen Weltanschauung beruht also auf Voraussetzungen, die unverkennbar philosophischen Charakters sind…
Thomas Metscher: So ist es. Hier ist als Erstes die Voraussetzungen einer materialistischen Ontologie im erläuterten Sinn zu nennen. Sie betreffen das individuelle wie soziale Sein des Menschen als In-Sein - Existenz - in einer Natur-Ordnung, zugleich in einer durch menschliche Tätigkeit, vorab Arbeit, veränderten Welt. Der Mensch als Bürger zweier Welten, doch jetzt in einem neuen Sinn: als Bürger der Natur-Welt und als Bürger der Kultur, als zweiter, durch menschliche Tätigkeit geschaffener Welt, ein Problem höchst aktueller Bedeutung. Zentrale Bedeutung hat, seit den Feuerbach-Thesen, der Begriff menschlicher Praxis im Sinn sinnlich-gegenständlicher Tätigkeit. Hier ist Arbeit, doch zugleich mehr als Arbeit gemeint. Auch Spiel, Musik, Kunst, Segeln, Bergsteigen, Wandern, Schwimmen, Radfahen, vieles andere kommt hinzu.
Solchen Tätigkeiten zugrunde liegen oft vortheoretische lebensweltliche Erfahrungen, verbunden damit tradierte Selbstbeobachtung, Reflexion individuellen wie sozialen Seins. Zur gegenständlichen Tätigkeit gehört Wissen in einem elementaren Sinn: kulturelles Wissen, von dem wir eingangs sprachen.
Der Gedanke, das sich der Mensch in seiner kooperativen Arbeit in und an der Natur als distinktes Naturwesen erst herstellt, sein Wesen also kein Abstraktum ist, das den Individuen innewohnt, sondern vielmehr ein geschichtlich-gesellschaftlichen Konkretum, das sich in der menschlichen Arbeit erst konstituiert, im historisch gewordenen Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse erst objektive Wirklichkeit gewinnt, ist ein genuin philosophischer Gedanke, von dem her erst die neue Form der Philosophie begründet werden kann. Philosophiegeschichtlich bedeutet sie eine Grundsatzrevision philosophischen Denkens, die den Charakter einer theoretischen Revolution besitzt.
Mit ihr rücken zwei Begriffe in den Rang logisch-ontologischer Basiskategorien: Dialektik und Geschichte. Beide erläutern einander, insofern die Geschichte dialektisch und die Dialektik geschichtlich ist. Sie bilden eine dialektische Relation. Es ist also kein ideologisches Glasperlenpiel, wenn der "neue" Materialismus, den, gemeinsam mit anderen Schriften, die Feuerbach-Thesen entwerfen, dialektisch-geschichtlich genannt wird. Vielmehr bezeichnen die neuen Begriffe den konkrete Inhalt dessen, was seit Labriola und Gramsci die "Philosophie der Praxis" heißt. Der Titel rückt in den Vordergrund, was in der traditionellen Philosophie, wenn überhaupt, höchstens am Rande thematisiert wurde.

"Philosophische Implikate wurden als etwas Selbstverständliches vorausgesetzt"

Engels’ Auffassung, dass die traditionelle Philosophie mit Hegel an ihr Ende kam und nach diesem Ende allein noch, neben logisch-methodologischen Problemen, die Frage der Dialektik philosophisch zu behandeln sei, klingt allerdings nicht nach großen Aufgaben mehr …
Thomas Metscher: Der Eindruck täuscht. Es handelt sich doch mit der Frage nach Dialektik um ein Grundlagenproblem, das die neue Philosophie mit dem Besten der alten verknüpft und das trotz einer reichen Literatur bei weitem nicht als gelöst betrachtet werden kann. Bis es gelöst ist, wird noch viel Wasser den Rhein herabfließen. Nicht umsonst gehen gerade in dieser Frage die Auffassungen der Besten unter den heutigen Philosophen weit auseinander - man denke an die kontroversen Meinungen von Hans Heinz Holz und Wolfgang Fritz Haug zu dieser Frage.
Gegen die These, dass der Ansatz des Marx/Engelsschen Denkens im substantiellen Sinn philosophische Implikate besitzt, ja auf philosophischen Voraussetzungen beruht, spricht nicht, dass sich beide, vor allem Marx, mit solchen Grundsatzfragen nicht existentiell befassten. Sie wurden von Beiden als etwas Selbstverständliches vorausgesetzt; unüberhörbar bereits in der "Deutschen Ideologie", wenn dort von den "empirischen Voraussetzungen" ihres Denkens gesprochen wird: dem factum brutum, dass Menschen ihre Lebensmittel produzieren müssen, um als Spezies überhaupt überleben zu können.
Das klingt jetzt nicht so, als wäre es um eine philosophische Allianz zwischen Marx und Kant besonders gut bestellt …
Thomas Metscher: Es kann von so einer Verbindung von Marx und Kant kaum die Rede sein. Die Hauptdifferenz dürfte darin liegen, dass die Kantsche Philosophie, legen wir auch nur die Latte Hegel an, eine vordialektische (protodialektische) Philosophie ist und neben dem Mangel an Dialektik auch der Mangel an Geschichtlichkeit in ihr zu beklagen ist. Das bedeutet nun nicht, dass marxistisches Denken nichts bei Kant lernen könnte. Kants Kritikbegriff, der ja nicht nur nach dem Falschen in menschlicher Erkenntnis beziehungsweise eines bestimmten Gegenstandsbereichs solcher Erkenntnis fragt, sondern nach den Grenzen und Möglichkeiten des Erkennens, bezogen sowohl auf einen bestimmten Gegenstandsbereich wie auf Erkennen überhaupt, ist für marxistische Philosophie unverzichtbar. Kritik als Grenzziehung - bezogen auf Ideologie: als Verkehrung des Bewusstseins - bildet ja bereits ein Stück Dialektik im Rahmen der Transzendentalphilosophie, ist also anschlussfähig für dialektisches Denken.
In diesen Zusammenhang gehört dann auch die metaphysikkritische Frage nach Möglichkeit und Grenzen der Metaphysik. Kants Metaphysikkritik, insbesonders seine Kritik der Gottesbeweise halte ich für einen großen Befreiungsschlag aufklärerischen Denkens. Es stellt auch die Frage marxistischer Religionskritik erst auf materialistisch gesicherten Grund.

"Marxistische Arbeiten wurden auf allen Feldern institutioneller Forschung verdrängt"

Welche Ansätze in Wissenschaft und Philosophie seit Marx sind es Ihrer Ansicht nach wert, in den Marxismus integriert zu werden?
Thomas Metscher: Dies ist nun in der Tat ein weites Feld, wie der alte Stechlin gesagt hätte, hätte er die dialektische Philosophie gekannt, und die Frage unterstellt dem Befragten, das er oder sie das weite Feld geistiger Äußerungen seit dem Tod von Marx überblicken würde. Dass es einen solchen Menschen heute gibt, würde ich schlicht in Zweifel ziehen, und auf keinen Fall wäre ich dieser Mensch. Ich würde vorziehen, nach Kriterien zu fragen, die an explizit erkannte Defizite marxistischen Denkens festmachen und danach zu bestimmen, wer oder was zur Behebung dieser Defizite hilfreich sein könnte. Brecht sprach von einer Liste ungelöster Fragen, mit denen sich marxistisch Denkende befassen sollten. Hier nur einige Gedanken dazu.
Soweit ich den Marxismus überblicke, ist es vor allem der naturwissenschaftliche Bereich, auf dem die größten Lücken des Wissens klaffen. Robert Steigerwald steht mit seinem Versuch, hier zumindest mit einer Übersicht nachzuhelfen, ziemlich allein auf weiter Flur. Dabei haben wir mit Engels’ Arbeiten auf dem Feld der Naturwissenschaften, so fragmentarisch sie geblieben sind, einen systematischen Ansatz, der hätte fortgesetzt werden sollen. Ich denke an die Dialektik der Natur. Ich erinnere auch, dass die Bedeutung Darwins von Marx und Engels im vollen Umfang erkannt wurde, doch ist seit Darwins Tagen hier viel und gründlich weiter geforscht worden - wie mir scheint, am Marxismus vorbei. Die Naturwissenschaften sind das Gebiet, auf dem ich selbst mehr Fragen als Antworten habe. Wo denn gibt es, frage ich, eine physikalische Grundlagenforschung im Marxismus? Wie steht die Dialektik zur Relativitätstheorie?
Vom Gesichtspunkt eines integrativen Marxismus kommt den Ergebnissen wissenschaftlichen Forschens, vorrangig im ökonomischen und sozialtheoretischen wie im naturwissenschaftlichen Bereich, eine Schlüsselrolle zu, gerade auch im Blick auf die Philosophie. So kann die Dialektik als Grundfrage marxistischer Philosophie ohne Einbezug naturwissenschaftlicher Forschung, auch von Forschungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz sicher nicht nachhaltig gelöst werden. An diesem Beispiel zeigt sich schlagend, dass die Fragestellung des integrativen Marxismus weit über die traditionelle individuelle Forschung hinaus geht. Zudem ist zu konstatieren, dass die geforderte systematische Arbeit in Wissenschaft wie in den Künsten gründlich nur in institutionalisierter und kooperativer Form durchgeführt werden kann.
Wo aber gibt es heute Arbeitsformen, die marxistische Forschungen auch nur im Rahmen eines pluralistischen Gesamtkonzepts möglich machen? In der DDR wurde auf diesem Gebiet bereits viel geleistet, doch sind seit der Reconquista hier die Türen verschlossen. Die heutige Lage ist derart, dass marxistische Arbeiten auf allen Feldern institutioneller Forschung verdrängt wurden - hier sind wir bestenfalls dabei, einen neuen Anfang zu machen.
Stark ausgebildet sind auf marxistischer Seite die Künste, und dies auf internationalem Niveau, doch wurden diese im Marxismus bislang nicht als mit den Wissenschaften gleichwertig behandelt - wir sprachen eingangs darüber. Hier Namen zu nennen - von Kunstschaffenden in allen Künsten - käme einem bedeutungsleeren name dropping gleich, so viele sind es in Rang und Zahl. Wie sich die Künste entwickeln, wird nicht vorauszusagen sein. Ihre Anerkennung als positive Teile des Marxismus würde sicher stimulierende Wirkung haben. Insgesamt gesehen hängt diese Entwicklung, wie auch in der Vergangenheit, von der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung ab - sozial, politisch, kulturell -, wobei die Künste selbst ein Faktor in dieser Entwicklung sind.
Auf welche Zweige nichtmarxistischer Philosophie sollte im Rahmen eines integrativen Marxismus zurückgegriffen werden?
Thomas Metscher: Auch hier die Antwort schwer. Mir fällt am ehesten noch die linke Flanke des Existentialismus ein. Sartre ist sicher ein Denker von Format, und sein Konzept politischer Literatur ist in jede marxistische Ästhetik aufzunehmen. Zu nennen wären sicher Einzelwerke der analytischen Philosophie, als Konzept die Metaphorologie Blumenbergs. Ein Werk der Philologie darf nicht unerwähnt bleiben, das, obgleich nicht fachphilosophisch, doch philosophische Implikationen besitzt, und das ist Auerbachs Mimesis. Es gibt kaum ein zweites Werk der philologischen Wissenschaft, aus dem eine kluge Philosophie so viel lernen kann wie aus diesem.
Wichtig scheint mir nach wie vor und im gewissen Sinn erneut die Auseinandersetzung mit rechten ideologischen Traditionen zu sein, innerhalb wie außerhalb der Philosophie, wie sie in Deutschland Heidegger, Carl Schmitt und Jünger verkörpern. Zu behandeln sind diese im Zusammenhang mit dem ideologischen Komplex des Irrationalismus - als dem zentralen ideologischen Konzept der imperialistischen Form kapitalistischer Herrschaft. Er reicht, weit über die Philosophie hinaus, in Wissenschaften, Kunst und Alltagsleben hinein. Ein Werk wie Lukács Zerstörung der Vernunft wäre neu zu lesen und weiter zu schreiben (in Teilen vielleicht neu zu schreiben), als Teil des Konzept einer neuen Aufklärung.
Gibt es Gedanken der postmodernen Theorie, die produktiv verarbeitet werden könnten? - Falls nein, warum nicht?
Thomas Metscher: Den Strukturalismus, beziehungsweise Poststrukturalismus habe ich, wie alles, was unter dem Namen der Postmoderne geschieht, bislang als erklärte Gegner des Marxismus wahrgenommen - auf die ich dann auch kritisch reagiere. Theorien, die sich selbst aus der Gegnerschaft zu geschichtlichem, dialektischem, humanistischem, aufklärerischem Denken definieren, sollten sich nicht wundern, wenn sie auch als Gegner behandelt werden. Doch auch hier gilt: man nenne mir Argumente, und ich bin gerne bereit, meine Auffassung in diesem und jedem anderen Punkt zu revidieren.
Herr Metscher, Sie fordern in Ihrem Buch als dringendes Desiderat innerhalb des Marxismus eine marxistische Ethik. Können Sie diese in ihren Grundzügen kurz umreißen?
Thomas Metscher: Politisch ist der Marxismus, in meiner Sicht, auch in einem ethischen Sinn. Zu sprechen ist deshalb von einer politischen Ethik. Dieser Sinn ist gemeint, wenn Marx in einer frühen Schrift vom "kategorischen Imperativ" des neuen Denkens spricht, das er dem Denken der alten Welt entgegensetzt: "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist". Der kategorische Imperativ, wie Marx den Kantschen Begriff hier neu konzipiert und in der Neukonzeption verändert, ist ein Aufruf zur Tat: zur Praxis kooperativen politischen Handelns.
Er folgt der Kritik der Religion. In ihm formuliert ist der ethisch-politisch orientierende Standpunkt des "neuen Materialismus", die politische Ethik der "gesellschaftlichen Menschheit", die er (in der Sprache der Feuerbach-Thesen) der "bürgerlichen Gesellschaft" als dem Standpunkt des "alten Materialismus" entgegen stellt. Eine solche Ethik bezeichnet keinen weltabgehobenen Akt. Ihre Zielsetzung könnte konkreter nicht sein: das Umwerfen aller Verhältnisse der Erniedrigung und Knechtung, des Verlassen- und Verächtlich-Seins des Menschen. Es ist dies der Zustand der großen Mehrheit der heute lebenden Erdenbewohner.
Das historisch-prospektive Ziel dieser Ethik ist kein graues Kollektiv, sondern die Gemeinschaft mündiger Menschen: Gleiche unter Gleichen. Eine solche Gemeinschaft ist dann auch das Kernprinzip der neuen Gesellschaft, die es aus den Trümmern der alten zu errichten gilt. Ziel der kooperativ Handelnden ist die "volle und freie Entwicklung jedes Individuums1". Sie erfolgt nach dem Maß selbstzweckhafter Kraftentwicklung, die nach Inhalt und Form die Individuen unterscheiden wird. Angesprochen damit ist der ethische Kern der "menschlichen Gesellschaft", wie sie der junge Marx in Kooperation mit Engels konzipierte. Die Elfte Feuerbach-These und kategorischer Imperativ sind also im engen Sinn aufeinander bezogen.
Sie bilden den ethisch-politischen Grund des Postulats der Weltveränderung: der Theorie der Befreiung, die die frühen mit den späten Schriften von Marx verbindet - in uneingeschränkter Übereinstimmung mit Engels. Wer hier von einem epistemologischen Bruch im Denken von Marx spricht, wie Althusser und die Seinen es tun, hat Marx entweder nicht gelesen oder nicht verstanden, oder er verbreitet böswillig Verwirrung im Kreise seiner Jünger. Die Orientierung an der realen Befreiung der Menschen, die weltweit in Knechtschaft und Erniedrigung leben, legt es nahe, das Denken von Marx und Engels als realen Humanismus zu bezeichnen. Für diesen Humanismus gilt, dass der Mensch, und nicht Gott oder ein anderes Wesen, das höchste Wesen für den Menschen ist. Ein solcher Humanismus schließt den Welt-Raum ein, in dem der Mensch lebt, in dem er sich nach seinen Bedürfnissen einrichtet.
Wir sprechen hier vom kulturellen Raum menschlichen Wohnens - wie wir von kultureller Zeit sprechen - als Resultat eigenständigen menschlichen Handelns: Teil der Natur-Welt, ohne die es den Menschen wie menschliche Welt nicht gäbe. Ein solcher Humanismus ist der selbstbewusste Grundbegriff jeder Gestalt einer auf den Menschen bezogenen materialistischen Ontologie. Er ist real als Seinsform einer Materie, die, als Schoss der Formen, ohne Anfang und ohne Ende ist. Der Mensch ist nicht geschaffen, jeder Kreationismus liegt solchem Denken fern, sondern evolutionär entstanden, Teil der dialektisch bewegten Natur-Materie.
Der materialistische Humanismus begreift also den Menschen als Teil der Natur - wie ihn auch schon Aristoteles begriff. Der Mensch, sagt dieser, sei ein politisches Naturwesen, das zudem mit Vernunft - dem Logos - ausgestattet ist. Bei jedem Schritt, so Engels in der Dialektik der Natur, werden wir daran erinnert, "dass wir keineswegs die Natur beherrschen wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht - sondern dass wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehen, und dass unsere ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen anderen Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können"2. Freiheit sei daher nichts anderes als die "Existenz in Harmonie mit den erkannten Naturgesetzen". Wie die soziale Frage gehört auch die ökologische zum Begriff eines materialistischen Humanismus.
Eine politische Ethik, wie ich sie hier skizziere, übernimmt bestimmte Begriffe aus dem Bestand der tradierten Ethiken, ohne sich einer besonderen systematisch zu verschreiben. Der Schritt des Denkens erfolgt auch hier in Neuland hinein. Dies scheint mir erforderlich für den Typus des neuen Denkens, wie er von Marx und Engels entwickelt wird.

"Ein Gesamtzusammenhang mit offenen Horizonten"

Wie wichtig und warum ist diesbezüglich das Theorem vom Gesamtzusammenhang, welches ja heutzutage allgemein-theoretisch und -philosophisch gemeinhin als "Metaphysik" auf der Müllhalde der Philosophiegeschichte zu finden ist?
Thomas Metscher: In der Tat ist auch mir dieses Gespenst schon häufig begegnet - nicht selten als missglückter Versuch, noch ein Stück Metaphysik in die ach so nichtmetaphysische Gegenwart zu retten. Früher gebrauchte man statt seiner übrigens den Begriff des "Seienden im Ganzen", ich erinnere mich noch an meine philosophische Kinderstube. Nun halte ich den Begriff - gerade als dialektischen Begriff - durchaus für sinnvoll, und das nicht nur aus Gründen juveniler Reminiszenzen. Dialektisches Denken, gerade wenn es sich von seiner metaphysischen Herkunft trennen, das Gültige an ihm aber nicht aufgeben will, hat einen Begriff des Gesamtzusammenhangs zu entwickeln, der diesen eben nicht mehr als metaphysisches Monstrum behandelt, sondern als historisch-dialektisches Konkretum, sagen wir: ein Gesamtzusammenhang mit offenen Horizonten.
Zu diesem Zweck habe ich vor einiger Zeit den Versuch unternommen, den Begriff einer kategorialen Konkretion3 zu unterziehen. Herausgekommen ist dabei ein fünfschichtiges Modell: Erstens: der Alltag als Gesamtzusammenhang und die Kategorie des Weltwissens; zweitens: der Gesamtzusammenhang einer Gesellschaft. Konkrete Gesellschaft, gesellschaftliche Struktur und gesellschaftliche Formation; drittens: der Gesamtzusammenhang des geschichtlichen Prozesses; viertens: Einheit und Differenz von menschlicher Welt und Natur. Gesamtzusammenhang als ontologischer Begriff; und fünftens: die Wirklichkeit als das Seiende im Ganzen und die Frage nach Grund und Sinn von Sein: der Gesamtzusammenhang als metaphysischer Begriff. Die Aufhebung der Metaphysik in Dialektik.
Erkenntnisleitend war hier die Überzeugung, dass der Begriff als sinnvoller Terminus nur durch eine kategoriale Konkretion gerettet werden kann. Aus diesem Grund das Modell der fünf kategorialen Schichten (oder Dimensionen) und einem offenen Ende in der fünften Dimension. Inwieweit dieser Versuch gelungen ist, vermag ich nicht zu sagen. Eine Reaktion mit der Ausnahme höflicher Bekundungen ist bislang nicht erfolgt. Hans Heinz Holz, an den dieser Versuch adressiert war (er ist Bestandteil eines Gesprächs zu diesem Problem), hat darauf nicht mehr reagieren können. Sein philosophisches Anliegen war, die Metaphysik als Kern philosophischen Denkens durch Dialektik für marxistisches Denken zu bewahren, wird hier von mir geteilt - wenn ich hier auch einen anderen Weg ging als der von Holz beschrittene.

"Offener Bruch des Völkerrechts"

Nochmal zu Ethik: Wie sieht eine solche konkret aus? Wie beurteilt man anhand dieser Ethik beispielsweise den Israel-Palästina-Konflikt? Oder die Konfrontation zwischen den USA und dem Iran?
Thomas Metscher: Den Wunsch nach Konkretion teile ich auch hier. Eine politische Ethik, die den Namen verdient, existiert nur als konkrete. Nur vermag ich in den genannten Exempla keine Beispiele für ethische Pobleme zu sehen. Es ist das mittlerweile offen eingestandene (und seit langem praktizierte) Ziel israelischer Politik, einen nicht geringen Teil Palästina durch den Gebrauch von Gewalt zu annektieren. Ein solches verhalten ist nicht nur ‚unethisch’, es ist ein offener Bruch des Völkerrechts. Dazu hat bereits Norman Paech das Nötige gesagt. Auch die Konfrontation zwischen USA und Iran erfolgt erkennbar dem Muster der Aggression mit den USA als Hauptakteur. Die ethische Argumentation in beiden Fällen beschränkt sich auf die Feststellung eines Rechts auf Widerstand auf der Seite der bedrohten Völker.
Diese Beurteilung folgt dem Stand meines Wissens. Ein echtes ethisches Problem ist erst dann gegeben, wenn beide Seiten in einem gegebenen Konflikt ethische Gründe für ihr Handeln nennen können (das klassische Beispiel: Hegels Antigone-Interpetation).

"Gott ist so wenig beweisbar wie Nicht-Gott"

Wie müsste es Ihrer Ansicht nach der Marxismus mit der Religion halten? Bei Marx ist "die Kritik der Religion" "die Voraussetzung aller Kritik" insofern als die religiöse Realitätsverzerrung als Urform des Ideologischen zwischenmenschliche Abhängigkeits- und Herrschaftsformen legitimiert. Sie bezweifeln hingegen in Ihrem Buch, dass "ein prinzipieller Atheismus zum Marxismus gehört". Wie geht das zusammen?
Thomas Metscher: Ich bin in der Tat der Ansicht, dass es einen wissenschaftlichen Atheismus so wenig gibt und gben kann wie einen wissenschaftlichen Theismus. Gott ist so wenig beweisbar wie Nicht-Gott. (Übrigens spreche ich nirgendwo, meines Wissens, von einem ‚prinzipiellen’ Atheismus!) Meine Hauptargumentation ist erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Natur. So unterscheide ich zwischen erstens institutioneller Religion/Religion als Ideologie und zweitens individuellem Glauben. Für die Religion als Institution und Ideologie trifft genau zu, was Marx von Feuerbach als Religionskritik übernommen hat. Nun ist es aber eine Tatsache des Lebens, dass es Menschen gibt, die im Sinn eines individuellen Glaubens an Gott/Göttin/Göttliches glauben und zugleich entschiedene Kommunisten/Marxisten/Innen sind, die in der Kritik der realen Religionen, sofern sie auf der Seite der ausbeutenden Klasse stehen, entschieden sind wie jeder andere Marxist.
Woher nun soll ich als Nichtglaubender die Argumente nehmen, um diesen Leuten zu sagen: Ihr irrt, ich weiß, dass es kein Göttliches gibt? Es wäre so dumm wie es politisch schädlich wäre. Übrigens: Kluges dazu hat Wolfgang Abendroth gesagt!
Gibt es im Marxismus selber religiöse Tendenzen und wie ist denen zu begegnen?
Thomas Metscher: Ich wende mich mit Entschiedenheit dagegen, dass man den Marxismus als Religion beschreibt, als "Messianismus ohne Messias" (Derrida) oder dergleichen. Dies ist auch einer der Gründe, warum ich Denker wie Benjamin nur eingeschränkt schätze. Der Marxismus ist nicht zu einer Religion zu machen, was etwas völlig anderes ist als der individuelle Glaube eines Marxisten oder einer Marxistin
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass "Religionen (…) nach ihrer Funktion im weltweiten antiimperialistischen Kampf zu beurteilen sind". Ist demnach der Islam ein potentieller Bündnispartner im Kampf um menschliche Emanzipation?
Thomas Metscher: So tolerant und respektvoll ich im Umgang mit Menschen bin, die als Marxisten/Innen auch im religiösen Sinn Gläubige sind, so kompromisslos halte ich an dem von Ihnen zitierten Prinzip der Kritik an institutionellen Religionen fest. Um den gegenwärtigen Islam im ganzen zu beurteilen, weiß ich zu wenig über ihn. Es gibt kommunistische Parteien in arabischen (‚islamischen’) Ländern, die übrigens auch theoretische Texte von mir übersetzt haben. Man frage doch erst einmal bei diesen Genossinnen und Genossen an. Die Gestalt, in der sich der Islam hierzulande mehrheitlich präsentiert, trifft bei mir auf kritische Resonanz. Doch man lese Avincenna und Averroes (und Bloch dazu), man lese Goethes West-östlichen Divan und Feuchtwangers Jüdin von Toledo - da wird man einem anderen Islam begegnen.

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