"Man wird einem anderen Islam begegnen"

Seite 5: "Gott ist so wenig beweisbar wie Nicht-Gott"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wie müsste es Ihrer Ansicht nach der Marxismus mit der Religion halten? Bei Marx ist "die Kritik der Religion" "die Voraussetzung aller Kritik" insofern als die religiöse Realitätsverzerrung als Urform des Ideologischen zwischenmenschliche Abhängigkeits- und Herrschaftsformen legitimiert. Sie bezweifeln hingegen in Ihrem Buch, dass "ein prinzipieller Atheismus zum Marxismus gehört". Wie geht das zusammen?

Thomas Metscher: Ich bin in der Tat der Ansicht, dass es einen wissenschaftlichen Atheismus so wenig gibt und gben kann wie einen wissenschaftlichen Theismus. Gott ist so wenig beweisbar wie Nicht-Gott. (Übrigens spreche ich nirgendwo, meines Wissens, von einem ‚prinzipiellen’ Atheismus!) Meine Hauptargumentation ist erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Natur. So unterscheide ich zwischen erstens institutioneller Religion/Religion als Ideologie und zweitens individuellem Glauben. Für die Religion als Institution und Ideologie trifft genau zu, was Marx von Feuerbach als Religionskritik übernommen hat. Nun ist es aber eine Tatsache des Lebens, dass es Menschen gibt, die im Sinn eines individuellen Glaubens an Gott/Göttin/Göttliches glauben und zugleich entschiedene Kommunisten/Marxisten/Innen sind, die in der Kritik der realen Religionen, sofern sie auf der Seite der ausbeutenden Klasse stehen, entschieden sind wie jeder andere Marxist.

Woher nun soll ich als Nichtglaubender die Argumente nehmen, um diesen Leuten zu sagen: Ihr irrt, ich weiß, dass es kein Göttliches gibt? Es wäre so dumm wie es politisch schädlich wäre. Übrigens: Kluges dazu hat Wolfgang Abendroth gesagt!

Gibt es im Marxismus selber religiöse Tendenzen und wie ist denen zu begegnen?

Thomas Metscher: Ich wende mich mit Entschiedenheit dagegen, dass man den Marxismus als Religion beschreibt, als "Messianismus ohne Messias" (Derrida) oder dergleichen. Dies ist auch einer der Gründe, warum ich Denker wie Benjamin nur eingeschränkt schätze. Der Marxismus ist nicht zu einer Religion zu machen, was etwas völlig anderes ist als der individuelle Glaube eines Marxisten oder einer Marxistin

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass "Religionen (…) nach ihrer Funktion im weltweiten antiimperialistischen Kampf zu beurteilen sind". Ist demnach der Islam ein potentieller Bündnispartner im Kampf um menschliche Emanzipation?

Thomas Metscher: So tolerant und respektvoll ich im Umgang mit Menschen bin, die als Marxisten/Innen auch im religiösen Sinn Gläubige sind, so kompromisslos halte ich an dem von Ihnen zitierten Prinzip der Kritik an institutionellen Religionen fest. Um den gegenwärtigen Islam im ganzen zu beurteilen, weiß ich zu wenig über ihn. Es gibt kommunistische Parteien in arabischen (‚islamischen’) Ländern, die übrigens auch theoretische Texte von mir übersetzt haben. Man frage doch erst einmal bei diesen Genossinnen und Genossen an. Die Gestalt, in der sich der Islam hierzulande mehrheitlich präsentiert, trifft bei mir auf kritische Resonanz. Doch man lese Avincenna und Averroes (und Bloch dazu), man lese Goethes West-östlichen Divan und Feuchtwangers Jüdin von Toledo - da wird man einem anderen Islam begegnen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.