"Man wird einem anderen Islam begegnen"
Seite 3: "Marxistische Arbeiten wurden auf allen Feldern institutioneller Forschung verdrängt"
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Welche Ansätze in Wissenschaft und Philosophie seit Marx sind es Ihrer Ansicht nach wert, in den Marxismus integriert zu werden?
Thomas Metscher: Dies ist nun in der Tat ein weites Feld, wie der alte Stechlin gesagt hätte, hätte er die dialektische Philosophie gekannt, und die Frage unterstellt dem Befragten, das er oder sie das weite Feld geistiger Äußerungen seit dem Tod von Marx überblicken würde. Dass es einen solchen Menschen heute gibt, würde ich schlicht in Zweifel ziehen, und auf keinen Fall wäre ich dieser Mensch. Ich würde vorziehen, nach Kriterien zu fragen, die an explizit erkannte Defizite marxistischen Denkens festmachen und danach zu bestimmen, wer oder was zur Behebung dieser Defizite hilfreich sein könnte. Brecht sprach von einer Liste ungelöster Fragen, mit denen sich marxistisch Denkende befassen sollten. Hier nur einige Gedanken dazu.
Soweit ich den Marxismus überblicke, ist es vor allem der naturwissenschaftliche Bereich, auf dem die größten Lücken des Wissens klaffen. Robert Steigerwald steht mit seinem Versuch, hier zumindest mit einer Übersicht nachzuhelfen, ziemlich allein auf weiter Flur. Dabei haben wir mit Engels’ Arbeiten auf dem Feld der Naturwissenschaften, so fragmentarisch sie geblieben sind, einen systematischen Ansatz, der hätte fortgesetzt werden sollen. Ich denke an die Dialektik der Natur. Ich erinnere auch, dass die Bedeutung Darwins von Marx und Engels im vollen Umfang erkannt wurde, doch ist seit Darwins Tagen hier viel und gründlich weiter geforscht worden - wie mir scheint, am Marxismus vorbei. Die Naturwissenschaften sind das Gebiet, auf dem ich selbst mehr Fragen als Antworten habe. Wo denn gibt es, frage ich, eine physikalische Grundlagenforschung im Marxismus? Wie steht die Dialektik zur Relativitätstheorie?
Vom Gesichtspunkt eines integrativen Marxismus kommt den Ergebnissen wissenschaftlichen Forschens, vorrangig im ökonomischen und sozialtheoretischen wie im naturwissenschaftlichen Bereich, eine Schlüsselrolle zu, gerade auch im Blick auf die Philosophie. So kann die Dialektik als Grundfrage marxistischer Philosophie ohne Einbezug naturwissenschaftlicher Forschung, auch von Forschungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz sicher nicht nachhaltig gelöst werden. An diesem Beispiel zeigt sich schlagend, dass die Fragestellung des integrativen Marxismus weit über die traditionelle individuelle Forschung hinaus geht. Zudem ist zu konstatieren, dass die geforderte systematische Arbeit in Wissenschaft wie in den Künsten gründlich nur in institutionalisierter und kooperativer Form durchgeführt werden kann.
Wo aber gibt es heute Arbeitsformen, die marxistische Forschungen auch nur im Rahmen eines pluralistischen Gesamtkonzepts möglich machen? In der DDR wurde auf diesem Gebiet bereits viel geleistet, doch sind seit der Reconquista hier die Türen verschlossen. Die heutige Lage ist derart, dass marxistische Arbeiten auf allen Feldern institutioneller Forschung verdrängt wurden - hier sind wir bestenfalls dabei, einen neuen Anfang zu machen.
Stark ausgebildet sind auf marxistischer Seite die Künste, und dies auf internationalem Niveau, doch wurden diese im Marxismus bislang nicht als mit den Wissenschaften gleichwertig behandelt - wir sprachen eingangs darüber. Hier Namen zu nennen - von Kunstschaffenden in allen Künsten - käme einem bedeutungsleeren name dropping gleich, so viele sind es in Rang und Zahl. Wie sich die Künste entwickeln, wird nicht vorauszusagen sein. Ihre Anerkennung als positive Teile des Marxismus würde sicher stimulierende Wirkung haben. Insgesamt gesehen hängt diese Entwicklung, wie auch in der Vergangenheit, von der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung ab - sozial, politisch, kulturell -, wobei die Künste selbst ein Faktor in dieser Entwicklung sind.
Auf welche Zweige nichtmarxistischer Philosophie sollte im Rahmen eines integrativen Marxismus zurückgegriffen werden?
Thomas Metscher: Auch hier die Antwort schwer. Mir fällt am ehesten noch die linke Flanke des Existentialismus ein. Sartre ist sicher ein Denker von Format, und sein Konzept politischer Literatur ist in jede marxistische Ästhetik aufzunehmen. Zu nennen wären sicher Einzelwerke der analytischen Philosophie, als Konzept die Metaphorologie Blumenbergs. Ein Werk der Philologie darf nicht unerwähnt bleiben, das, obgleich nicht fachphilosophisch, doch philosophische Implikationen besitzt, und das ist Auerbachs Mimesis. Es gibt kaum ein zweites Werk der philologischen Wissenschaft, aus dem eine kluge Philosophie so viel lernen kann wie aus diesem.
Wichtig scheint mir nach wie vor und im gewissen Sinn erneut die Auseinandersetzung mit rechten ideologischen Traditionen zu sein, innerhalb wie außerhalb der Philosophie, wie sie in Deutschland Heidegger, Carl Schmitt und Jünger verkörpern. Zu behandeln sind diese im Zusammenhang mit dem ideologischen Komplex des Irrationalismus - als dem zentralen ideologischen Konzept der imperialistischen Form kapitalistischer Herrschaft. Er reicht, weit über die Philosophie hinaus, in Wissenschaften, Kunst und Alltagsleben hinein. Ein Werk wie Lukács Zerstörung der Vernunft wäre neu zu lesen und weiter zu schreiben (in Teilen vielleicht neu zu schreiben), als Teil des Konzept einer neuen Aufklärung.
Gibt es Gedanken der postmodernen Theorie, die produktiv verarbeitet werden könnten? - Falls nein, warum nicht?
Thomas Metscher: Den Strukturalismus, beziehungsweise Poststrukturalismus habe ich, wie alles, was unter dem Namen der Postmoderne geschieht, bislang als erklärte Gegner des Marxismus wahrgenommen - auf die ich dann auch kritisch reagiere. Theorien, die sich selbst aus der Gegnerschaft zu geschichtlichem, dialektischem, humanistischem, aufklärerischem Denken definieren, sollten sich nicht wundern, wenn sie auch als Gegner behandelt werden. Doch auch hier gilt: man nenne mir Argumente, und ich bin gerne bereit, meine Auffassung in diesem und jedem anderen Punkt zu revidieren.
Herr Metscher, Sie fordern in Ihrem Buch als dringendes Desiderat innerhalb des Marxismus eine marxistische Ethik. Können Sie diese in ihren Grundzügen kurz umreißen?
Thomas Metscher: Politisch ist der Marxismus, in meiner Sicht, auch in einem ethischen Sinn. Zu sprechen ist deshalb von einer politischen Ethik. Dieser Sinn ist gemeint, wenn Marx in einer frühen Schrift vom "kategorischen Imperativ" des neuen Denkens spricht, das er dem Denken der alten Welt entgegensetzt: "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist". Der kategorische Imperativ, wie Marx den Kantschen Begriff hier neu konzipiert und in der Neukonzeption verändert, ist ein Aufruf zur Tat: zur Praxis kooperativen politischen Handelns.
Er folgt der Kritik der Religion. In ihm formuliert ist der ethisch-politisch orientierende Standpunkt des "neuen Materialismus", die politische Ethik der "gesellschaftlichen Menschheit", die er (in der Sprache der Feuerbach-Thesen) der "bürgerlichen Gesellschaft" als dem Standpunkt des "alten Materialismus" entgegen stellt. Eine solche Ethik bezeichnet keinen weltabgehobenen Akt. Ihre Zielsetzung könnte konkreter nicht sein: das Umwerfen aller Verhältnisse der Erniedrigung und Knechtung, des Verlassen- und Verächtlich-Seins des Menschen. Es ist dies der Zustand der großen Mehrheit der heute lebenden Erdenbewohner.
Das historisch-prospektive Ziel dieser Ethik ist kein graues Kollektiv, sondern die Gemeinschaft mündiger Menschen: Gleiche unter Gleichen. Eine solche Gemeinschaft ist dann auch das Kernprinzip der neuen Gesellschaft, die es aus den Trümmern der alten zu errichten gilt. Ziel der kooperativ Handelnden ist die "volle und freie Entwicklung jedes Individuums1". Sie erfolgt nach dem Maß selbstzweckhafter Kraftentwicklung, die nach Inhalt und Form die Individuen unterscheiden wird. Angesprochen damit ist der ethische Kern der "menschlichen Gesellschaft", wie sie der junge Marx in Kooperation mit Engels konzipierte. Die Elfte Feuerbach-These und kategorischer Imperativ sind also im engen Sinn aufeinander bezogen.
Sie bilden den ethisch-politischen Grund des Postulats der Weltveränderung: der Theorie der Befreiung, die die frühen mit den späten Schriften von Marx verbindet - in uneingeschränkter Übereinstimmung mit Engels. Wer hier von einem epistemologischen Bruch im Denken von Marx spricht, wie Althusser und die Seinen es tun, hat Marx entweder nicht gelesen oder nicht verstanden, oder er verbreitet böswillig Verwirrung im Kreise seiner Jünger. Die Orientierung an der realen Befreiung der Menschen, die weltweit in Knechtschaft und Erniedrigung leben, legt es nahe, das Denken von Marx und Engels als realen Humanismus zu bezeichnen. Für diesen Humanismus gilt, dass der Mensch, und nicht Gott oder ein anderes Wesen, das höchste Wesen für den Menschen ist. Ein solcher Humanismus schließt den Welt-Raum ein, in dem der Mensch lebt, in dem er sich nach seinen Bedürfnissen einrichtet.
Wir sprechen hier vom kulturellen Raum menschlichen Wohnens - wie wir von kultureller Zeit sprechen - als Resultat eigenständigen menschlichen Handelns: Teil der Natur-Welt, ohne die es den Menschen wie menschliche Welt nicht gäbe. Ein solcher Humanismus ist der selbstbewusste Grundbegriff jeder Gestalt einer auf den Menschen bezogenen materialistischen Ontologie. Er ist real als Seinsform einer Materie, die, als Schoss der Formen, ohne Anfang und ohne Ende ist. Der Mensch ist nicht geschaffen, jeder Kreationismus liegt solchem Denken fern, sondern evolutionär entstanden, Teil der dialektisch bewegten Natur-Materie.
Der materialistische Humanismus begreift also den Menschen als Teil der Natur - wie ihn auch schon Aristoteles begriff. Der Mensch, sagt dieser, sei ein politisches Naturwesen, das zudem mit Vernunft - dem Logos - ausgestattet ist. Bei jedem Schritt, so Engels in der Dialektik der Natur, werden wir daran erinnert, "dass wir keineswegs die Natur beherrschen wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht - sondern dass wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehen, und dass unsere ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen anderen Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können"2. Freiheit sei daher nichts anderes als die "Existenz in Harmonie mit den erkannten Naturgesetzen". Wie die soziale Frage gehört auch die ökologische zum Begriff eines materialistischen Humanismus.
Eine politische Ethik, wie ich sie hier skizziere, übernimmt bestimmte Begriffe aus dem Bestand der tradierten Ethiken, ohne sich einer besonderen systematisch zu verschreiben. Der Schritt des Denkens erfolgt auch hier in Neuland hinein. Dies scheint mir erforderlich für den Typus des neuen Denkens, wie er von Marx und Engels entwickelt wird.
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