Manche mögen’s neuro

Die Neurowissenschaften boomen. Und doch zeigt sich immer deutlicher: Unser Gehirn ist nicht vollends in der Lage, sich selbst zu verstehen. Das Phänomen "Bewusstsein" war, ist und bleibt ein Mysterium

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wer sind wir? Eine riesengroße Frage der Menschheit, die immer mehr Hirnforscher auf einen klitzekleinen Nenner bringen wollen: "Wer sind Sie? Sie sind Ihre Synapsen. Aus ihnen besteht Ihr Selbst", behauptet zum Beispiel der Neurowissenschaftler Joseph LeDoux. Solche Thesen klingen provokant, bei näherem Hinsehen entpuppen sie sich als ziemlich inhaltsleer. Denn mit der Behauptung, dass alles "neuro" sei, lässt sich kein Blumentopf gewinnen und erst recht nicht das Leib-Seele-Problem lösen: Wie kann unser Körper unser bewusstes Erleben hervorbringen? Auf welche Weise kann aus unserer grau-weißen Hirnmasse unsere bunte Erlebniswelt aus Gedanken und Gefühlen entspringen?

Die Neurowissenschaften schicken sich an, die letzte Bastion der großen Rätsel zu erstürmen und das menschliche Bewusstsein zu entschlüsseln. Eine Herkulesaufgabe - und wahrscheinlich ein Kampf gegen Windmühlen. Trotzdem stecken die USA und die EU derzeit Milliardensummen in die Neurowissenschaften (Die USA und die EU liefern sich ein Wettrennen um die Entschlüsselung des menschlichen Gehirns).

Die Hirnforscher sind erkenntnistheoretische Zwerge, die auf den Schultern von milliardenschweren Riesen stehen. Wer das Hirn lückenlos kartographieren und entschlüsseln will, der sieht sich nicht nur mit dessen Komplexität, sondern auch mit grundlegenden erkenntnistheoretischen Problemen konfrontiert.

Das wusste bereits der Philosoph Gottfried W. Leibniz: Stellt man sich den Körper eines Menschen als eine Mühle vor, so wird man, wenn "man sie von innen besichtigt, nur Teile finden, die sich gegenseitig stoßen, und niemals etwas, das eine Perzeption erklären könnte". Eine Perzeption ist nichts anderes als eine bewusst erlebte Wahrnehmung. Wenn wir uns in den Finger schneiden, haben wir eine Perzeption des stechenden Schmerzes.

Die zentrale Einsicht von Leibniz besteht darin, dass sich die Eigenschaften des Geistes nicht durch den naturwissenschaftlichen Blick einfangen lassen. Neurowissenschaftler können das Gehirn vermessen und mit technischen Apparaten beobachten, doch unseren stechenden, pochenden, wummernden Schmerz können sie nicht im Gehirn entdecken: Wären wir in der Lage, das vergrößerte Gehirn eines Menschen betreten, der gerade starke Schmerzen hat, so würden wir lediglich Abermillionen von Neuronen und Synapsen sehen, die chemische und elektrische Signale austauschen - aber das pochende und brennende Wesen des Schmerzes würden wir nirgendwo entdecken. Das Gefühl an sich lässt sich auf nichts reduzieren; das menschliche Bewusstsein hat also Eigenschaften, die schlichtweg durch das Netz der Naturwissenschaften fallen. Das Bewusstsein ist Bewusstsein - nicht mehr und nicht weniger.

Der "Mainstream" der zeitgenössischen Hirnforscher ignoriert die bunte Welt des Geistes. Er passt nicht so recht in die Welt der Naturwissenschaften, in der alles mit mathematischen Formeln erklärbar ist - oder erklärbar sein soll. Und was nicht passt, wird passend gemacht: Kurzerhand verkünden materialistisch gesinnte Forscher wie der Kognitionswissenschaftler Kevin O‘Regan:

Ich denke, dass wir in einigen Jahren in der Lage sein werden, unsere Persönlichkeit auf Computer hochzuladen und sie nach unserem Ableben in virtuellen Welten leben zu lassen. Dann wird unser Bewusstsein nach dem Tod weiterleben.

Hinter solchen Thesen steckt ein unverblümter Hardcore-Materialismus: Die Welt ist ein Materiehaufen, und unser Bewusstsein lässt sich ebenso mit mathematischen Formeln erklären wie die Umlaufbahn der Planeten.

Die Landkarte ist nicht das Gelände

Aber irgendetwas stimmt nicht mit den Allmachtsfantasien der Neurowissenschaftler. Die Schwierigkeiten, die wir bei der exakten Beschreibung des bewussten Erlebens haben, begegnen uns tagtäglich. Wir können jemanden erklären, wie ein Schiffsmotor funktioniert, doch wollen wir jemandem, der noch nie eine Papaya gekostet hat, beschreiben, wie ebendiese schmeckt, so stoßen wir schnell an unsere Grenzen: Man muss den Geschmack der Papaya selbst erleben.

Das Wörtchen "funktionieren" legt schon nahe, dass sich der Schiffsmotor mit funktionalen und mathematischen Begriffen, also dem klassischen Vokabular der Naturwissenschaften, erklären lässt. Aber die besonderen Eigenschaften unseres Bewusstseins scheinen sich einem solch funktionalen Zugang zu verschließen. Man kann die Wellenlängen des Lichts berechnen und weiß dennoch rein gar nichts über die Erlebnisse beim Anblick eines bunten Gemäldes von Picasso.

Der Materialismus sieht die Welt in Formeln und Funktion - und klammert dadurch die subjektiven und qualitativen Aspekte der Wirklichkeit aus. Alfred Korzybskis bekannter Ausspruch: "Die Landkarte ist nicht das Gelände" bringt die Probleme dieser Weltsicht auf den Punkt: Die vom Materialismus bereitgestellte, abstrakte Kartographie der Materie sagt nichts darüber aus, wie die konkrete Landschaft der Wirklichkeit beschaffen ist. Der bewusst erlebte Geschmack von Kaffee etwa kann (und darf) in einem Physik-Buch nicht vorkommen. Und auch an den bunten Hirn-Scans lassen sich lediglich Relationen ablesen, nicht aber das Wesen der Dinge.

Der Mediziner und Wissenschaftshistoriker Michael Hagner spricht treffend von einer neuen Cyber-Phrenologie, der allzu euphorische Hirnforscher verfallen sind: Sie leben im Irrglauben, dass die abstrakte Landkarte der Hirn-Scans eins zu eins das konkrete Gelände unserer Erlebniswelt abbildet. Tja, dann könnte man genauso gut auch die chemischen Inhaltsangaben auf einer Flasche Bier lesen, statt sie zu trinken und bewusst zu genießen.

Erleben und Materialismus

Ein weiteres Problem des Materialisten ist, dass er behauptet, alles, wirklich alles sei rein materieller Natur. Dabei kann er aber nicht mal im Ansatz erklären, was Materie überhaupt ist: Die Naturwissenschaften zeigen, wie sich Materie verhält, aber nicht, was sie ihrem Wesen nach wirklich ist. Wenn Ihnen der Chemiker sagt, Zucker sei C12H22O11, dann ist das korrekt, aber eben nur die halbe Miete: Denn der bewusst erlebte Geschmack der Süße gehört auch zu dieser Welt, da ihr erlebendes Bewusstsein zweifelsohne Teil der Welt ist.

Der australische Philosoph Frank Jackson hat diese Überlegungen auf die Spitze getrieben und in ein Gedankenexperiment münden lassen, um die Grenzen der Hirnforschung aufzuzeigen: Mary ist eine geniale Naturwissenschaftlerin, die seit ihrer Geburt in einem schwarz-weißen Raum lebt. Ihre Kleidung ist genauso schwarz-weiß wie ihre Bildschirme, ihre Bücher und alle anderen Gegenstände. (Mary selbst ist auch schwarz-weiß … die Gedankenexperimente der Philosophen sind manchmal etwas eigen.) Mary ist so genial, dass sie alles über Physik, Chemie und Biologie weiß. Kurzum: Sie weiß alles, was man über diese Dinge (jemals) wissen kann. Deshalb weiß Mary auch, was in einem Menschen vor sich geht, wenn er Farben sieht. Mary kennt allerdings nur schwarz-weiße Formeln und naturwissenschaftliche Gesetze; die bunte Welt der Farben ist ihr unbekannt.

Was passiert nun, wenn Mary aus ihrem Raum entlassen wird und zum ersten Mal in ihrem Leben eine grüne Wiese und den blauen Himmel sieht? Wird die geniale Mary etwas Neues lernen oder nicht? Da Mary aus der grauen Theorie nicht ableiten konnte, wie sich die bunte Welt der Farbwahrnehmung anfühlt, lernt sie etwas Neues. Sie hat ein neuerworbenes Wissen über ihre Gefühle und Erlebnisse. Wenn dem so ist, dann war ihr (bisheriges) allumfassendes Wissen über die Welt lückenhaft: Es gibt Dinge, die wir nicht aus naturwissenschaftlichen Gesetzen und Büchern lernen können: nämlich bewusste Erlebnisse.

Solche Gedankenexperimente sind zwar ein wichtiges philosophisches Handwerkszeug, scheinen aber häufig unreal und aus der Luft gegriffen zu sein. Im Fall von Mary jedoch gibt es ein vergleichbares Pendant in der realen Welt. Der norwegische Farbenforscher Knut Nordby befasste sich intensiv mit den Aspekten der visuellen Wahrnehmung, litt aber an einer sogenannten Achromatopsie. Dabei handelt es sich um eine erblich bedingte, vollständige Farbenblindheit. Nordby nahm seine Umwelt in bloßen Schwarz-Weiß-Tönen wahr und konnte seinen langjährigen Forschungsgegenstand, also die Farben, nie sehen. In seiner persönliche Bestandsaufnahme wird deutlich, dass die Intuition des Mary-Gedankenexperiments durchaus ihre Berechtigung hat:

Obwohl ich ein gründliches theoretisches Wissen über die Physik der Farben und die Physiologie der Farbrezeptoren erworben habe, kann mir doch nichts von diesem Wissen dabei helfen, das wahre Wesen der Farben zu verstehen. Aus der Kunstgeschichte habe ich ebenfalls etwas über die Bedeutungen gelernt, die man den Farben oft zuspricht, und ich habe gelernt, wie man Farben zu verschiedenen Zeiten der Geschichte benutzt hat - doch auch dieses Wissen ermöglicht es mir nicht, die wesenshafte Beschaffenheit und Qualität der Farben zu verstehen.

Was Nordby berichtet, wird auch durch andere Untersuchungen untermauert: Beispielweise ist der menschliche Organismus nicht in der Lage, ihm unbekannte Erlebnisse zu generieren. So können von Geburt an blinde Personen nicht in Farbe träumen oder sich Farben vorstellen. Wenn ihr's nicht (selbst) fühlt, ihr werdet's nicht (naturwissenschaftlich) erjagen.

Wie kleine Kinder, die sich ihre Augen zuhalten und glauben, dass sie niemand mehr sieht

All diese Beispiele zeigen also deutlich: Die These der Materialisten, wonach alle wissbaren Dinge über die Welt lediglich materielle und mathematische Tatsachen sind, ist blanker Unsinn. Es gibt Dinge in unserer Welt, die das naturwissenschaftliche Wissen übersteigen - wir erleben diese Dinge tagtäglich, weil wir ein Bewusstsein haben, das sich dem neurowissenschaftlichen Zugriff verwehrt. Materialisten, die die besonderen Eigenschaften unseres Bewusstseins leugnen, sind genauso naiv wie kleine Kinder, die sich ihre Augen zuhalten und glauben, dass sie niemand mehr sieht.

Es ist durchaus möglich, dass wir eines Tages ein Buch vorliegen haben, das alle Fakten enthalt, die die Naturwissenschaften zusammentragen konnten. Mathematisch beschreibbare Entdeckungen wie das Verhalten Schwarzer Löcher könnten prinzipiell für jedermann verständlich sein; ebenso wie eine mögliche Theorie, die die Relativitätstheorie mit der Quantenmechanik in Einklang bringt oder die das Wetter für die nächsten 50 Jahre präzise vorhersagt. Doch selbst ein allwissender Gott könnte kein Buch in der Sprache der Naturwissenschaften verfassen, das lückenlos erklärt, wie aus dem Hirn unser Bewusstsein hervorgeht. Ein Buch mit der Parole "Bewusstsein = Gehirn" erklärt uns genauso viel über die Welt wie ein Donald-Duck-Heft über die politische Ordnung der Volksrepublik China.

Wenn Ihnen also ein Materialist triumphierend verkündet: "Ihr Bewusstsein hat etwas mit elektro-chemischen Aktivitäten in Ihren Neuronen zu tun", dann ist diese Aussage in etwa so vielsagend wie "2 + 2 = 4". Natürlich brauchen wir ein Hirn, um etwas zu erleben. Daraus folgt aber noch lange nicht eine Entzauberung der Welt. Wenn Ihnen der Materialist allerdings verkündet: "Wir sind nichts weiter als ein großer Haufen von Atomen und Neuronen", dann ist diese Aussage so haarsträubend falsch wie "2 + 2 = 5". Sie können einfach erwidern: "Bitte sehr, hier ist mein Gehirn mit seinen Abermillionen von Neuronen. Aber wo sind meine Gefühle, Wünsche und Gedanken?"

Der Hirnforscher kann stets nur die mathematisch-mechanische Landkarte der Welt erstellen, nicht aber die Eigenschaften des Geländes selbst erfassen. Ganz einfach deshalb, weil die Landkarte nicht das Gelände ist. Der US-amerikanische Philosoph Colin McGinn hat völlig recht, wenn er die Frage aufwirft:

Welche Chance hat Ihre Intelligenz, die für das Herstellen von Faustkeilen geeignet ist, die Geheimnisse des Universums zu lüften? Kann Allwissenheit aus einem Hirn kommen, das für die Handhabung zweier entgegengesetzter Daumen gemacht ist? Niemals. Warum also versuchen wir noch, Mysterien zu lösen - mit diesem nach Daumen-Lage gebildeten Gehirn wie dem unseren?

Warum versuchen wir es? Weil wir die Welt und uns selbst verstehen wollen. Doch vermutlich gibt es Grenzen der Erkenntnis, zumindest, was die Entschlüsselung des menschlichen Bewusstseins anbelangt. Und am Ende werden wir vermutlich nur wissen, dass wir eben nichts wissen.

Patrick Spät lebt in Berlin als freier Journalist und Autor. Zum Thema schrieb er das Buch: Der Mensch lebt nicht vom Hirn allein, Berlin: Parodos Verlag 2012.