Massives E-Learning und die Sinnkrise der Universität

Seite 2: Vorlesungen ohne Hörsaal

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Über Weihnachten habe ich also viele Videos aus allen möglichen Disziplinen über mich ergehen lassen. Ich wollte vor allem wissen, was gute Dozenten tun, um mir vielleicht ihre Technik oder Kniffe zunutze zu machen. Dabei konnte ich feststellen, dass beliebte Lehrende eine fast angeborene Ausstrahlung besitzen. Nach fünf Minuten weiß man schon, ob die Vorlesung interessant oder grausam wird.

Es ist wie bei der legendären Astronomie-Vorlesung aus Berkeley, die seit 2000 jedes Jahr als Webcast ins Netz gestellt wird. Die Videos hatten damals nicht so gute Auflösung, aber der Dozent hat so viel Enthusiasmus und Energie, dass es auch ohne Bilder sehr interessant wird. Je mehr die Rhetorik des Dozenten im Mittelpunkt steht, desto besser kommt die Vorlesung an. Deswegen ist es auch so schwer, Mathematik-Vorlesungen ins Netz zu stellen, die auf die Echtzeit-Entwicklung an der Tafel angewiesen sind. Wie bei der sokratischen Dialektik muss man in der Mathematik Formeln und Theoreme im Gespräch aus den Studenten heraus kitzeln. PowerPoint und Ähnliches sind dafür nicht geeignet.

Die beste Vorlesung, die ich bei meiner Exkursion in Coursera und edX gefunden habe, war eigentlich eine, die bewusst und fast militant "ohne Klassenraum" durchgeführt wird. Es geht um Neurobiologie. Die Vorlesung wurde in Themen aufgeteilt und die einzelnen Videos basieren auf aufgenommenen Experimenten, Animationen, Besuchen im Museum, usw. Die Autoren sagen, sie wollten das echte Leben und die echte Forschung draußen beschreiben. Der Kurs ist in Wirklichkeit deswegen eine Art Dokumentarfilm von höchster Qualität, mit speziell dazu vorbereiteten Texten und Bildern, mit virtuellen und echten begleitenden Experimenten. Eine Firma liefert per Post Geräte und Tiere (Invertebraten) für die Experimente an die Kursteilnehmer.

So eine Veranstaltung kostet in dieser Qualität sicherlich Millionen von Dollar. Das Format passt weder in die gegenwärtige Coursera- noch in die edX-Schiene und wird deswegen auf einer externen Webplattform angeboten. So sollte man es eigentlich machen, gewissermaßen à la BBC, dazu sollten anspruchsvolle Fragen und Testate entworfen werden und die experimentelle Verbindung sollte auch nicht fehlen. Dann ist aber das Endprodukt kein MOOC: Das Ergebnis ist eine Art digitales Buch. So eine teure Produktion zeigt deshalb, wie das interaktive Buch der Zukunft einmal aussehen wird.

An Bildung sparen

Im Jahr 2001 -- so früh waren wir schon dran an diesen Themen -- haben wir unsere Aufnahmeplattform für Vorlesungen bei der CEBIT vorgestellt. Der Wirtschaftssenator von Berlin hat uns beim Berlin-Stand die Ehre gemacht und war sofort begeistert. Er rief seinen Mitarbeitern zu: "So brauchen wir weniger Professoren!"

Dass er nicht der einzige war und ist, der so denkt, zeigt das Beispiel aus den USA. Dort haben einige finanzschwache Universitäten angefangen die Vorlesungen von Coursera und edX unter Lizenz zu nehmen. Die Vorlesung über Gerechtigkeit aus Harvard wurde zum Beispiel Mitte 2013 in der San Jose State University zum Politikum. Die Professoren dort haben zu Recht vermutet, dass damit Dozenten eingespart werden sollten. Nicht einmal die Juristen oder Philosophen sollten die Betreuung der MOOC-Studenten als Aufgabe übernehmen, sondern Mitarbeiter aus der billigeren Abteilung für Englisch. Die Professoren der Universität haben angemahnt, dass nicht nur Studenten von Harvard das Recht haben sollten, einen lebendigen Professor im Hörsaal zu erleben. In einem offenen Brief an Sandel beklagten sie, Professoren sollten nicht "durch billige Online-Ausbildung" überflüssig gemacht werden.

Dass auch die Dozenten von Coursera sich ihre Gedanken über solche Entwicklungen machen, wurde vor kurzem klar, als sich Mitchell Duneier, Soziologie-Professor aus Princeton und einer der Stars der MOOC-Bewegung, entschied, auszusteigen. Er wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass an anderen Institutionen, wie angekündigt, Dozenten eingespart würden. Er weigerte sich, seinen Kurs an andere Universitäten auf Lizenzbasis zu übertragen.

Als ich gerade dies schreibe, verfolge ich weiterhin die Vorlesungen, bei denen ich bei Coursera und edX "immatrikuliert" bin. Es ist manchmal interessant, häufig langweilig. Zuschauen schadet nie, es ist eine Art Weiterbildung. Vor allem kann ich aber beobachten, wie andere Personen heute lehren. Mittlerweile bin ich der Meinung, dass weniger als 10% der Vorlesungen an einer Universität es wirklich verdienen, aufgenommen zu werden. Bei den restlichen 90% sind die Qualitätsunterschiede zu variabel und das Videoformat erschlägt den Lernenden. Ich weiß nicht so richtig warum, aber als Videokonsument ist man viel passiver und unkonzentrierter als bei einer echten Vorlesung.

Ein gutes Buch ist immer noch, in den meisten Fällen jedenfalls, besser als ein MOOC. Man muss die Disziplin aufbringen, das Buch von Anfang bis Ende zu lesen. Das gelingt jedoch nicht immer. Einstein zum Beispiel hat seine Vorlesungen geschwänzt und lieber direkt aus den Büchern von Maxwell und anderen berühmten Physikern gelernt. Für andere wie mich, für Normalsterbliche also, ist es viel besser, in einer eingeschworenen Gruppe zu lernen. Die Vorlesungen sind soziale Happenings, wo man Gleichgesinnte kennenlernt, um dann in der Gruppe den Stoff aufzuarbeiten.

Lernen in einer Gruppe, wenn möglich durch exzellente Präsenzlehre motiviert, das ist, was Universitäten ermöglichen sollten. Studenten lernen vor allem von Studenten. Das ist die inhärente Sozialität, die eine Universität prägt. Und auch wenn Videos als zusätzliche Weiterbildungsmaßnahme viel Gutes bewirken können, für eine solche soziale Verbindung der Lernenden gibt es keinen Ersatz.

Forschung, Lehre und Bologna

Ich kenne kein anderes Land, das sein sehr gutes Ausbildungssystem so grundlegend demontiert hätte wie Deutschland. Durch die Einführung der Bologna-Reformen, durch die Ausdünnung und die Beschleunigung des Studiums wurde das erreicht, was auch gewollt war: Längere Studienzeiten sind heute die Ausnahme. Die Studenten werden wie in der Pipeline durchgeschleust und es gibt mehr und mehr Bachelorabsolventen in immer kürzeren Zeiten. In vielen Fächern macht nicht mal die Hälfte davon weiter mit dem Master, so dass wir diese Absolventen aus der Universität mit vielleicht nicht mal 50% dessen, was früher für das Diplom gelernt wurde, entlassen. Vor allem haben sie kaum noch Kontakt mit der aktuellen Forschung.

Die Humboldtsche Universität wurde ausgerechnet in Deutschland erfunden, d.h. eine enge Verbindung von Lehre und Forschung. Man kann beides nur durch Projektarbeit verbinden und das nimmt manchmal viel Zeit in Anspruch, Zeit, die die heutige gehetzte Generation von Studierenden nicht mehr hat. Bildungspolitiker werden es nicht gerne hören, aber eigentlich trauere ich dem Langzeitstudenten von damals nach, dem Studenten, der etwas Tiefgründiges lernen wollte, der im Labor ein Wochenende verbracht hat, nicht wegen der Note, sondern allein um eine Herausforderung selbst zu bewältigen.

In unsere Projekte haben wir damals Studenten aufgenommen, die sich im dritten, fünften oder zehnten Semester befanden. Keiner wurde zurückgewiesen: Studenten wurden von Studenten ausgebildet und jede neue Generation wurde mitgezogen. Und warum wollte man das Problem lösen? Because it's there. Heute ist dass zum größten Teil Vergangenheit und nur mit Mühe und Not gelingt es uns noch, Lehre und Forschung zu verbinden.

MOOCs sind in ihrer jetzigen Form eine weitere Drehung an der Schraube der ökonomischen Rationalität bzw. der akademischen Irrationalität. Wenn im Hörsaal 500 Studenten sitzen, ist die wirkliche Lösung, mehrere Parallelkurse anzubieten und nicht, die Hälfte der Studenten in Videozuschauer zu verwandeln. Die Illusion, dass MOOCs aus Deutschland die Ratings aus den USA erreichen könnten, ist nur eine Illusion. Die Sprachbarriere ist einfach zu groß für den Rest der Welt.

Man könnte denken, dass die echte Aufgabe von MOOCs ist, Bildung in arme Regionen der Welt zu bringen. Das kann ich einsehen und als positiv bewerten. Für Deutschland zieht das Argument aber nicht. Dafür sind die deutschen Universitäten (trotz Bologna und trotz allen gegenteiligen Anstrengungen der Bildungsministerinnen seit Frau Buhlman) noch immer gut. Man kann bestenfalls berühmte Professoren im Vorlesungsraum in Aktion sehen, aber selbst da wird man häufig enttäuscht. Vor Jahren wurde im Fernsehen einer der letzten noch lebenden Studenten von Einstein interviewt. Die Vorlesungen in Berlin waren sicherlich sehr aufregend, wollte der Journalist wissen. Der Student hat dann berichtet, dass Einstein nur eine Einführungsstunde hielt und sich dann bis zur Klausur am Ende des Semesters verabschiedete. So kann es beim berühmten Forscher gehen.

Was also tun? Ich denke, keiner weiß es so richtig. Die Erfindung des Buchdrucks hat die Universitäten nicht entschwinden lassen, obwohl theoretisch jeder für seine Ausbildung nur in die Bibliothek zu gehen braucht. Die Informatisierung der Gesellschaft hat aber zu tiefgreifenderen Umbrüchen geführt, die heute an den Universitäten nur noch nach und nach reflektiert werden.

So haben wir das Paradoxon, dass wir vor 15 Jahren noch sicher wussten, wie eine Vorlesung abzuhalten sei. Heute wissen wir es nicht mehr und deswegen tappen wir im Dunkeln. Der Vorlesungsraum ist heute mehr denn je ein Ort der Unsicherheit, ein Ort, wo wir jeden Tag von Neuem das Lehren und Lernen erfinden müssen. Die Initiatoren der MOOC-Bewegung verdienen Respekt und Anerkennung, vor allem weil sie das Thema aufgegriffen haben und ihre Produktionen manche "life long learners" helfen. Es ist aber noch nicht das letzte Wort gesprochen worden.

Meine Vermutung ist, dass wir nicht so sehr den Hörsaal, sondern die Bücher ändern müssen. Die Universität sollte weiter der Ort sein, wo Sozialität ausgelebt wird, wo die Präsenzlehre wesentliche Impulse liefert, wo Lehre und Forschung sich persönlich treffen. Das Buch dagegen sollte auf die Höhe der Zeit gebracht werden.