Medien und Bahnstreik: Signale stehn auf "Droht"
Mediensplitter (55): Am Warnstreik der Gewerkschaft der Lokführer zeigt sich, was typisch ist für die mediale Stimmungslage. Erreicht wird eine Fehl-Orientierung des Publikums?
Der jüngste Warnstreik der Gewerkschaft der Lokführer (GDL) offenbarte erneute etliche Weichenstellungen in Richtung Einseitigkeit, Personalisierung und Emotionalisierung, oft gegen die Gewerkschaft, ihre Leitung und die dort Organisierten gerichtet.
Einige Beispiele dafür seien hier diskutiert, im Zuge der journalistischen Berichterstattung.
Die Berliner Zeitung machte am 16.11.2023 in ihrer Printausgabe auf Seite 1 mit der Überschrift auf: "Lokführer blockieren Berlin" (hier als Foto angefügt, weil online nicht verfügbar).
In Anlehnung an die berühmte satirische, real-sozialistische "Anfrage an den Sender Jerewan" ließe sich sagen: Im Prinzip ja, aber ….
1. Es haben nicht nur "Lokführer" gestreikt, sondern viele in der GDL organisierte Bahn-Beschäftigte (aufgerufen waren neben Lokführern ausdrücklich Zugbegleiter, Werkstattmitarbeiter, Disponenten und Fahrdienstleiter) vor allem mit Blick auf die Deutsche Bahn (DB).
2. Etwas zu "blockieren", das bedeutet ein schweres Geschütz: Berlin-Blockade 1948, Gaza-Blockade 2023 etc. Ein deutlich negativ wertendes, alarmierendes und emotional besetztes Verb. Der (Pseudo-)Nachrichtenfaktor "Negativismus", der vor allem im globalen Nord-Westen ein ganz wichtiger ist, wäre damit in hohem Maße erfüllt. Nur – das Ganze war ja kaum eine echte "Blockade".
3. Die GDL hatte bundesweit zum Warnstreik aufgerufen. Dass die Berliner Zeitung daraus "Berlin" als Ziel des Arbeitskampfes macht, ist einerseits so verständlich wie andererseits falsch.
Verständlich, weil diese Ortsangabe eine große Nähe und Betroffenheit vermitteln soll (ausgerechnet unser Berlin!) und damit den Nachrichtenfaktor "Relevanz" hochgradig zu bedienen scheint.
Falsch aber, weil diese Über-Vereinfachung unter dem Strich eine Fehl-Orientierung des Publikums bedeutet (sofern es nicht aus anderen Medien weiß, dass gerade nicht nur "Berlin" betroffen ist, sondern zum Beispiel auch das benachbarte Brandenburg wie überhaupt das gesamte Bundesgebiet).
Der nachrichtlich sein sollende Aufmacher-Beitrag der sonst eher links-liberalen Berliner Zeitung erscheint typisch für eine gewisse mediale Stimmungslage, oder eben: Stimmung machende Lage.
Denn es geht weiter im Text: Die Gewerkschaft habe "kurzfristig zu einem langen Warnstreik aufgerufen".
"Kurzfristig" und "lang" sind deutlich wertende Wörter – an der Stelle setzen jene Termini die Gewerkschaft ein weiteres Mal tendenziell aufs Abstellgleis. Beide Wörter erscheinen für einen Nachrichtenbeitrag komplett verzichtbar – es sei denn, man würde sachlich Vergleichsmöglichkeiten beschreiben.
Also wie "kurzfristig" derartige Ankündigungen sonst seien oder wie lange solch ein Warnstreik bitteschön normalerweise zu dauern habe.
Ein Schelm natürlich, wer denkt, dass Wissing ...
Ganz allgemein sei "die Befürchtung", dass es womöglich auch in der Adventszeit Streiks geben werde. Als ob das sämtliche Menschen in der Gesellschaft genau so und damit gleich sehen würden.
Anstatt auch an solche Leute zu denken, die vielleicht aus guten Gründen anders ticken, wird gleich zweimal Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP), der nicht gerade als großer Förderer des öffentlichen Verkehrs gilt, mit denselben Worten zitiert, einmal im Text und einmal als hervorgehobenes Zitat im Sinne einer Zwischenüberschrift:
Weihnachten gilt als die Zeit des Friedens – darüber sollten sich alle Tarifparteien Gedanken machen.
Volker Wissing
Ein Schelm natürlich, wer denkt, dass Wissing damit als Mitglied der Regierung jenes Bundes, der zu 100 Prozent Eigentümer der Deutschen Bahn ist, vor allem eine ganz bestimmte Tarifpartei in die Schranken gewiesen sehen möchte.
"Es ist in diesem Jahr ja nicht der erste Bahnstreik"
Aber weiter im Zeitungs-Text: "Es ist in diesem Jahr ja nicht der erste Bahnstreik". Das Lamento der Journalisten darüber wird deutlich am kleinen umgangssprachlichen Bestätigungs-Wörtchen (Partikel) "ja".
Hier im Sinne von "Ja, ja, diese Gewerkschaften denken halt nur an sich und nehmen ständig die Gesellschaft in Geiselhaft". Ohne dieses "ja" wäre der Satz deutlich sachlicher. Manchmal wirken Kleinigkeiten wegweisend.
"Die Bahn" habe bei der ersten Verhandlungsrunde "ein Angebot" vorgelegt. Wer aber ist "die Bahn"?
Sind es denn nicht zuletzt die dort Beschäftigten? Und deren Interessenvertretungen? Hier wird "die Bahn" gesagt, wenn "der Bahn-Vorstand" gemeint ist.
Ein falsches "pars pro toto", weil es beim Streik doch gerade um Interessenkonflikte zwischen verschiedenen Parteien, hier Tarifparteien im Zusammenhang der Bahn geht.
Verschieden dazu wird die GDL selbstverständlich nicht als "die Bahn" dargestellt. Schlimmer noch: Im Unterschied zum Bahn-Vorstand, der immerhin "ein Angebot" vorgelegt habe, stelle die Gewerkschaft gleich "diverse Forderungen". Eine Menge also. Das erscheint kaum als angemessen.
Anfang und Ende: Schlagseiten
Für einen journalistischen Beitrag sind Anfang und Ende die beiden markantesten Punkte: Die Überschrift (siehe oben) entscheidet darüber, wer seine Aufmerksamkeit diesem Beitrag widmet, und setzt zugleich den Ton.
Der Abschluss eines solchen Beitrages bedeutet jenen Aspekt, der am ehesten gemerkt werden kann: Hier kommt nun, Zufall oder nicht, Andreas Schulz zu Wort, Vertreter der "Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg". Seine Schlussworte, denn der gesamte Bericht endet genau mit diesem Zitat:
Die GDL ist aufgerufen, in Zukunft deutlich mehr gesamtwirtschaftliche Verantwortung an den Tag zu legen.
Andreas Schulz
Da kann der Leitartikel der Berliner Zeitung tief drinnen im Blatt auf Seite 18 dann noch so sehr behaupten, der Streik sei gerechtfertigt: Dieser Zug ist leider schon abgefahren.
Um aber hier noch kurz auf zwei weitere Züge mit Schlagseite aufzuspringen:
1. Ähnlich wie oben beim angeblich alle betreffenden "Befürchten" stehen auch an anderer Stelle alle Signale auf "Rot", pardon: auf "Droht": Gebetsmühlenartig heißt es in weiten Teilen der Medienlandschaft, "ein Streik droht" (oder hier).
"Drohen" kann nur etwas sehr negatives, schlimmes, oft katastrophales. Dabei bedarf es lediglich ein wenig Nachdenkens, um zu erkennen: Ein wie auch immer "drohender" Streik kann nicht nur für die jeweiligen Beschäftigten, sondern auch gesamtgesellschaftlich durchaus Sinnvolles bewirken.
Stichworte seien hier allgemeines Einkommensniveau, Rentensteigerungen, Arbeitszeitverkürzung. Das alles aber soll immer und komplett nur "drohen"?
Und selbst wenn Gewerkschafts-Leute selber sagten: "Wir drohen mit Streik!", dann sollte das als Zitat der jeweiligen Person wiedergegeben werden, die damit womöglich gewisse taktische und strategische Absichten verbindet. Doch nachrichtliche Sachlichkeit verbietet es, Streiks fast immer mit dem Verb "drohen" zu verbinden.
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2. An der allerletzten Bahnsteig-Kante hier - oder eben echt ganz hinten auf dem Abstellgleis - steht natürlich Claus Weselsky, der GDL-Vorsitzende. Man muss das CDU-Mitglied aus Sachsen nicht mögen.
Aber was viele Medien seit Jahren im Hinblick auf ihn so auffahren und abfahren lassen – der Mann trägt in der leitmedialen Öffentlichkeit ganz klar "die rote Laterne", ist das absolute Schlusslicht in vieler Hinsicht.
Und medial scheint immer noch eine Schippe draufgelegt zu werden: "Der Lahmleger" titelt aktuell der Stern. Weselsky treibe, na klar, "seit Jahren" die gesamte Deutsche Bahn vor sich her.
Der Mann ist anscheinend Super-Batman, denn er allein schafft es laut der Illustrierten sogar, ganz Deutschland regelmäßig lahmzulegen.
Medien der Funke-Gruppe texten, Weselsky stehe "derzeit so sehr in der Kritik wie nie zuvor". Und fast hätte man gedacht, etwas weniger als beim vorigen Mal. Aber Scherz beiseite, in der Logik medialer Aufmerksamkeits-Optimierung muss natürlich der Nachrichtenfaktor "Negativismus" stets von Neuem auf die (Zug-)Spitze getrieben werden.
Folgerichtig daher die Behauptung, diesmal scheine "in der Bevölkerung jeder Funke Verständnis für den Streik zu fehlen". Echt? Jeder Funke? Funke-Medien?
Hier wäre es in der Tat schon ein Erfolg, wenigstens "Bahnhof" zu verstehen. Der Zug "Verständnis" scheint allerdings bei vielen Medienschaffenden, die sich ja leider oft auch prekär verdingen müssen, schon deshalb abgefahren, weil Weselsky und die Gewerkschaft GDL sich immer wieder trauen, deutliche Forderungen zu erheben – und man sich selber als Journalist dann doch eher mit einem gewissen Neid auf der anderen Seite dieser Schranke sieht.
Anstatt zumindest mal (laut) zu denken: "Es wäre doch höchste Eisenbahn auch für uns - für uns alle!"