Minenfeld Internet Governance

Die Streit-Agenda 2011

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Als der 2. UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS) 2005 in Tunis zu Ende ging, war der heiße Internetkonflikt diplomatisch beigelegt. Weder China noch die USA - die einen wollten eine Internet-UN, die anderen ICANN - setzten sich durch (Erbsenzählen nach der Cyberschlacht). Neugeschaffen wurde eine neutrale Diskussionsplattform, das Internet Governance Forum (IGF), bei dem Regierungen, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft gleichberechtigt über die neuen Herausforderungen des Internet diskutieren sollten. Eingeleitet wurde zugleich ein Prozess "der erweiterten Zusammenarbeit" (enhanced cooperation) bei dem es um ein neues Modell zur Verwaltung der kritischen Internetressourcen - Domainnamen, IP-Adressen und Root-Server - gehen sollte.

Diese so genannte Tunis-Agenda befriedete den Internetkonflikt für den Moment, räumte aber das Minenfeld nicht und verdeckte lediglich, dass Chinesen und Amerikaner aber auch Europäer, Russen, Brasilianer, Inder und Araber sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber hatten und haben, wie denn die Zukunft des grenzenlos-globalen Internet gestaltet werden soll. De facto hatte sich in Tunis die Diplomatie fünf Jahre Zeit gekauft. Die Zeit ist nun um, die Minen aber noch da. Jetzt kommt der Internetkonflikt mit aller Wucht wieder zurück auf die politische Agenda.

2011 sieht die Internetwelt zwar anders aus als 2005. Facebook, Googles Streetview, Netzwerkneutralität, Cloud Computing, Internet der Dinge oder WikiLeaks waren vor fünf Jahren keine Themen. Es sind aber gerade diese neuen Probleme, die "Internet Governance" jetzt zu einem erweiterten Minenfeld machen und ins politische Rampenlicht ziehen.

Auslöser für die neue Runde politischer Streitigkeiten war das nahende Ende des IGFs am 31. Dezember 2010. Die zuständige 65. UN-Vollversammlung musste über eine Verlängerung des Mandats entscheiden. Und bei dieser Gelegenheit begann sich der Frust derjenigen zu entladen, deren Erwartung, die Tunis-Agenda werde früher oder später zu einem neuen zwischenstaatlichen Kontrollgremium für die "kritischen Internetressourcen" führen, bislang nicht erfüllt wurde.

Diese Auseinandersetzung wird 2011 nun gleich auf drei Streitfeldern ausgetragen: In Genf geht es um die Zukunft des IGF, in New York um die Umsetzung einer "erweiterten Zusammenarbeit" und demnächst in San Francisco über die Fortentwicklung von ICANN. Dazu gibt es noch einige Nebenkampfschauplätze wie ITU, UNESCO, G8, WIPO, WTO, ACTA, OECD und Europarat. Die Agenda für die Internetdiplomatie im Jahr 2011 jedenfalls wird länger und länger und keiner kann heute mit Sicherheit voraussagen, wie die politischen Rahmenbedingungen für das Internet in zwölf Monaten aussehen werden.

Streitfeld 1: IGF

Das Mandat für das IGF war auf fünf Jahre begrenzt. Die IGF-Grundidee war, die Kommunikation zwischen den verschiedenen Stakeholdern - Regierungen, Parlamentarier, Privatwirtschaft, Zivilgesellschaft sowie die technische und akademischen Community - zu verbessern. Zu Beginn gab es viel Skepsis. Zur Überraschung vieler aber wurde das IGF keine Quatschbörse, sondern entwickelte sich zu einer Kreativitätsstube, bei der sehr ernsthaft zwischen Top-Entscheidern strategische Querschnittsfragen der Internetentwicklung auf höchstem Niveau diskutiert wurden. Und das mit durchaus sichtbaren Resultaten.

Das durch den WSIS-Prozess sanktionierte Prinzip des "Multistakeholderismus" funktionierte. Erst noch etwas zögerlich in Athen 2006, dann aber immer besser in Rio de Janeiro (2007), Hyderabad (2008), Sharm el Sheikh (2009) und jüngst in Vilnjus (2010). Minister scheuten sich nicht, mit CEOs aus der Wirtschaft, technischen Experten und Spitzenleuten der Zivilgesellschaft auf gleicher Augenhöhe zu diskutieren.

Die zunächst beklagte Tatsache, das IGF habe keine Mandat zur Fassung bindender Beschlüsse, erwies sich als Segen: Die Abwesenheit des Druckes, am Ende einer Tagung eine gemeinsame Erklärung zu unterschreiben, förderte die Bereitschaft zu einer offenen, kontroversen und unkonventionellen Diskussion bei der es keine Verlierer gab und jeder bereichert wieder nach Hause fuhr, um dann in seinem eigenen Verantwortungsbereich mit dafür zu sorgen, anstehende Entscheidungen im Lichte der Multistakeholder-IGF-Diskussion zu treffen.

Ein gutes Beispiel ist die Einführung internationalisierter Domainnamen (iDNs) durch ICANN. Ohne den IGF-Druck, den die Internet-Communities dieser Länder dort aufbauten, hätte ICANN das Thema auf die lange Bank geschoben. Nun aber können, Russen, Chinesen, Araber und Israelis Domainnamen in ihrer Landessprache registrieren. Allein in Russland gibt es bereits ein paar Monate nach Einführung der kyrillischen .rf (für Rossiskaja Federatija) fast eine Million Registrierungen.

Der beim IGF praktizierte Multistakeholderismus, eine Art globale Politikentwicklung von unten bei der es nicht um formale Mehrheiten sondern überzeugende Argumente geht, findet aber nicht überall enthusiastische Unterstützung. Nicht wenige Regierungen sehen darin eine schleichende Erosion ihrer souveränen Entscheidungsmacht wenn sie gleichberechtigt mit Nicht-Regierungsvertretern an einem Tisch sitzen. Bereits bei den IGF Konsultationen im Februar 2009 forderte daher die chinesische Regierung, das IGF durch einen zwischenstaatlichen Verhandlungsprozess zu ersetzen. Seither gibt es ein Tauziehen um die Zukunft des IGF.

Zuständig ist die UN-Kommission für wissenschaftlich-technische Entwicklung (UNCSTD) die wiederum dem Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) der UNO untersteht. Der ECOSOC berichtet dann an die UN Vollversammlung die auf Empfehlung des UN Generalsekretärs die finalen Entscheidungen trifft. In der UNCSTD war man sich im Mai 2010 schnell einig, das Mandat des IGF für weitere fünf Jahre zu verlängern.

Die Geister schieden sich aber bei der Frage, wie das IGF "verbessert" werden könnte. Während eine Gruppe die Verbesserung darin sah, das innovative und noch junge Multistakeholder-Modell weiter kreativ auszugestalten, waren andere UNCSTD-Mitglieder wie Saudi-Arabien, Iran und China der Auffassung, dass das IGF besser wird, wenn es in einen Regierungsrat umgewandelt wird.

Gibt es in der UNO keinen Konsens, ist das stets die Stunde der "Arbeitsgruppen". Also wurde eine neue "UN Working Group" gegründet die nun bis zum Mai 2011 Vorschläge zur Zukunft des IGF erarbeiten soll. Als der UNCSTD-Vorsitzende am 6. Dezember 2010 in Genf daran ging, die Zusammensetzung der Gruppe zu entscheiden, kam es aber zum Eklat. Der Konferenztag war lang und der Konferenzsaal schon halb leer, als am späten Abend die IGF-Frage auf der Tagesordnung stand. Und plötzlich hatten diejenigen eine Mehrheit, die dafür waren, nur Staaten als Mitglieder der neuen Arbeitsgruppe zuzulassen. Privatwirtschaft, Zivilgesellschaft und die technische Community wurden praktisch rausgeschmissen. De facto beanspruchten die Regierungen die alleinige Autorität darüber zu befinden, was eine "Verbesserung" für das Internet ist.

Diese Entmündigung, nicht entscheidend mitwirken zu dürfen an der Erarbeitung von Empfehlungen für eine IGF-Verbesserung, führte zu einer für UN-Verhältnisse ungewöhnlichen Protestwelle. Bei der parallel stattfindenden 39. ICANN Tagung in Cartagena formierte sich sofort eine große Koalition aus Privatwirtschaft, Zivilgesellschaft und einigen Regierungen, die sich zum Multistakeholder-Prinzip bekennen, und forderten die UNCSTD auf, den Beschluss zu kippen. Am 21. Dezember 2010 kam es dann zu einer zweiten turbulenten UNCSTD-Runde bei der in salomonischer Weise der Beschluss vom 6. Dezember nicht gekippt, aber erweitert wurde. Zu den ursprünglich geplanten 23 Regierungsvertretern sollen nun noch jeweils fünf Vertreter der Privatwirtschaft, der Zivilgesellschaft, der technischen und akademischen Community sowie zwischenstaatlicher Organisationen kommen.

Die erste Sitzung dieser neuen nun aus 43 Mitgliedern bestehenden "UN Working Group on IGF Improvement" wird am 25. März 2011 in Montreux stattfinden.

Streitfeld 2: Enhanced Cooperation

Die Formel "enhanced cooperation" war der Kompromiss, mit dem 2005 Meinungsverschiedenheiten über den Status von ICANN zugedeckt wurden. China und die Gruppe der 77 verband mit dem "Prozess der erweiterten Zusammenarbeit" die Erwartung, dass der irgendwann zur Bildung eines zwischenstaatlichen Aufsichtsgremiums für ICANN führt. Die USA und letztlich auch die Europäer sahen in der Formel mehr eine Aufforderung die bilaterale Zusammenarbeit zwischen den existierenden staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen - ICANN, IETF, RIRs, ITU, UNESCO, WIPO - zu verbessern.

Als die US-Regierung im Oktober 2009 ICANN in die Unabhängigkeit entließ, stellte sich zwangsläufig die Aufsichtsfrage neu. In ICANNs "Unabhängigkeitsabkommen", dem Affirmation of Commitments (AoC), wird aber kein zentralisiertes staatliche Kontrollgremium geschaffen, sondern ICANN wird einer dezentralisierten Aufsicht sogenannter "Review Teams" unterstellt. Die Mitglieder der "Review Teams" kommen aus allen relevanten Stakeholdergruppen und arbeiten gleichberechtigt zusammen.

Dem "Aufsichtsteam", das das ICANN-Direktorium überwacht, gehören z.B. der stellvertretende US Handelsminister Lawrence Strickling, der ehemalige EU Generaldirektor Fabio Colosanti und Zhan Xingshen vom chinesischen Ministerium für Industrie und Informationstechnologie (MIIT) an. Aber auch Willie Curie von der zivilgesellschaftlichen "Association for Progressive Communication" (ACP) oder Erick Iriarte Ahon von ISOC Peru sind gleichberechtigte Mitglieder. Und den Vorsitz hat der Wirtschaftsexperte Brian Cute von Afilias, der zweitgrößten gTLD Registry.

Doch auch diese innovative Form von Multistakeholder-Aufsicht passt nicht allen. Bei den UN-Konsultationen zum Thema "enhanced cooperation" am 14. Dezember 2010 in New York unter Leitung des stellvertretenden UN-Generalsekretärs Sha Zukang kam es zwangsläufig erneut zu Turbulenzen. Einige Regierungen wie Iran oder Saudi Arabien forderten eine direkte staatliche Aufsicht über ICANN während Brasilien, Indien und Südafrika vorschlugen, eine neue zwischenstaatliche Plattform zu schaffen, die den Multistakeholder-Prozess ergänzen (aber nicht ersetzen) soll.

Auch diese Debatte wurde ins Jahr 2011 verschoben. Die 66. UN-Vollversammlung wird sich nun im Herbst 2011 mit den Vorschlägen befassen.

Streitfeld 3: ICANN

Innerhalb ICANN spitzen sich die Konflikte gleichfalls zu. Auslöser ist hier die seit Jahren andauernde Debatte über die Einführung neuer Top Level Domains. Das noch offene Problem, wer wie und unter welchen Umständen eine neue Top Level Domain (TLD) betreiben kann, spülte die Frage nach oben, wer denn eigentliche die letztendliche Entscheidungsautorität hat. Das ICANN Direktorium reklamiert dieses Recht für sich und verweist auf die entsprechenden Passagen ihrer Verfassung (den "Bylaws") die den Regierungen eine lediglich "beratende Funktion" zuweist. Die im Governmental Advisory Committee (GAC) sitzenden Regierungen haben demgegenüber die Auffassung, dass bei einer Vielzahl von Bezeichnungen für neue TLDs, die politische, geografische, religiöse, kulturelle oder Trademark-geschützte Namen enthalten, das letztendliche Entscheidungsrecht auf ihrer Seite liegt.

In den Bylaws von ICANN gibt es für einen solchen Konfliktfall ein bislang noch nicht ausprobiertes Verfahren. Lehnt das ICANN-Direktorium einen "GAC Advice" ab, kann das GAC eine Konsultation einfordern, eine Art Vermittlungsausschuss. Scheitert die Vermittlung, kann ICANN alleine entscheiden, muss aber der Öffentlichkeit erklären, warum es den Regierungsratschlag nicht befolgt, während die Regierungen sich das Recht vorbehalten, nicht weiter spezifizierte "Maßnahmen" zu ergreifen.

Beim ICANN-Teffen Anfang Dezember 2010 in Cartagena näherte man sich nun erstmals diesem kritischen Punkt. Die gemeinsame Sitzung zwischen dem GAC und dem ICANN-Board wurde zu einem end- und ergebnislosen Armtwisten über das Recht des letzten Wortes. Da keiner der beiden Seiten nachgab, wird nun Ende Februar 2011 in Brüssel erstmalig ein solcher Vermittlungsausschuss zusammentreten. Mitte März 2011 findet dann die nächste ICANN-Tagung in San Francisco statt und dort wird wohl - mit oder ohne Regierungssegen - die Einführung neuer TLDs beschlossen.

Da die amerikanische Regierung (nicht zuletzt unter dem Druck der mächtigen Trademark-Lobby in Washington) mit zu jenen GAC-Mitgliedern gehört, die die Einführung neuer TLDs als zu verfrüht ansieht, könnte es Ende des Jahres zu einer delikaten Konstellation kommen.

Der noch gültige IANA-Vertrag gibt der US Regierung das Recht, die Publikation der sogenannte Zonefiles neuer TLDs im Internet Root zu autorisieren. Mit anderen Worten, ohne das Okay des amerikanischen Handelsministerium stellt VeriSign Inc. die Zonefiles nicht in den Hidden-Server des Root Server System (RSS). Bei .shop, .web, .music, oder .berlin sollte das kein Problem sein. Aber schon bei .sport will das IOC mitreden, bei .catholic der Papst und bei .tibet die chinesische Regierung. Und was ist mit .jihad, .mohamed, .nazi, oder .paedophile? ICANNs Regelwelt für Antragsteller ist auf über 500 Seiten angewachsen und sieht für viele Einzelfälle Einspruchsverfahren vor. Die letzte Entscheidung aber liegt beim ICANN Direktorium.

Würde also ICANN nun gegen einen von der US-Regierung mitgetragenen GAC-Einspruch neue TLDs zulassen, käme es zu einer spannenden "Stunde der Wahrheit". Dann nämlich würde sich erweisen, ob die US-Regierung - wie immer behauptet - tatsächlich der neutrale Sachwalter der Interessen der Internet-Community ist, indem sie auch gegen ihre eigenen nationalen Bedenken die Publikation des Root-Zonefiles autorisieren würde. Würde sie aber von ihrem formalen, aus dem IANA-Vertrag erwachsenen Recht Gebrauch machen, die Einspeisung einer neuen TLD zu blockieren, würde sie sich als "Oberaufseher" von ICANN outen und damit Wasser auf die Mühlen der Chinesen leiten, die in ICANN noch immer eine Marionette der US Regierung sehen. Der IANA-Vertrag läuft im Oktober 2011 aus, ein weiteres vermintes Feld.

Nebenschauplatze: ITU, UNESCO, G7, WTO, WIPO, ACTA, OECD, Europarat

Mittlerweile gibt es fast keine größere Organisation mehr die nicht ein Internet Governance Thema auf ihrer Agenda hat. Die ITU hatte jahrelang versucht, ICANNs Aufgaben selbst zu übernehmen. Bei der jüngsten Vollversammlung im November 2010 in Guadalajara aber räumte die ITU ein, dass es keine Alternative zu einer auf Gegenseitigkeit beruhenden konstruktiven Kooperation gibt.

Erstmals tauchte der Name "ICANN" in einer ITU-Resolution auf, wenngleich auch nur als Fußnote. Ob aus den jahrelang vergifteten Beziehungen aber eine Freundschaft wird, bleibt abzuwarten. Immerhin soll aber ein "ITU-ICANN Memorandum of Understanding" zur Entkrampfung der Beziehungen diskutiert werden. Nichtsdestotrotz positioniert sich die ITU schon jetzt als Gastgeber für einen möglichen 3. UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS III) im Jahr 2015. Dann kann man ja die ungelöste Frage wieder aufwerfen.

Die UNESCO hat ihrerseits ein Abkommen mit ICANN geschlossen und sich auf eine neue, am Multistakeholder-Prinzip orientierende Beziehung eingelassen. Eine Überraschung ist das nicht, war doch der neue stellvertretende UNESCO-Generaldirektor Janis Karklins bis Anfang 2010 noch Vorsitzender von ICANNs GAC.

Das Internet rückt auch wieder auf die Tagesordnung der G7. Frankreichs Präsident Sarkozy, der am 1. Januar 2011 den Vorsitz der G7 übernommen hat, will diesem Thema sogar Priorität einräumen. WIPO und WTO schlagen sich mit neuen Internetthemen herum, wenngleich nicht als Konkurrent zu ICANN. All diese Verhandlungen berühren wie auch der neue ACTA Vertrag Zugangs-, Informations- und Meinungsäußerungsfreiheit von mittlerweile mehr als zwei Milliarden Internetnutzern sowie den Schutz von geistigem Eigentum und persönlichen Daten. Und all das hat mit Internet Governance zu tun, denn am Schluss landet man immer wieder beim Management von Domainnamen, IP-Adressen, Root- und Nameservern.

Etwas weniger kontrovers geht es in der OECD zu. Dort wurden nach der Ministerkonferenz in Seoul im Juli 2009 zwei neue Beratungsausschüsse für die Internetnutzer und die technische Community geschaffen, die eng mit den OECD Mitgliedsstaaten zusammenarbeiten. Multistakeholderismus ist bei der Pariser OECD ebensowenig ein Fremdwort wie im Strasbourger Europarat, wo nach der Reykjaviker Ministerkonferenz im Mai 2009 gleichfalls eine Cross Border Internet-Arbeitsgruppe an einem Deklarationsentwurf arbeitet, der sich auf der Idee des kollaborativen gleichberechtigten Zusammenwirkens aller Stakeholder gründet. Der aus 47 Mitgliedsstaaten bestehende Europarat, Heimstatt der europäischen Menschenrechtskonvention von 1948 und der Cybercrime Konvention von 2001 wird im April 2011 in Strasbourg auf einer hochrangingen "Multistakeholderkonferenz" über eine "Universelle Prinzipiendeklaration für Internet Governance" beraten die nach ihrer geplanten Annahmen im Jahr 2012 sowohl von Regierungen als auch Nichtregierungsvertretern unterschrieben werden soll.

Diese wahrhaft mannigfaltigen politischen Kontroversen werden noch überlagert durch die konträren wirtschaftlichen Interessen der verschiedenen Player bei Themen wie Netzwerkneutralität, Cloud Computing oder Internet der Dinge. Dort trifft die "old new economy" der Telekommunikations- und Rundfunkunternehmen, der Musik-, Zeitungs-, Zeitschriften- und Buchverlage auf die "new new economy" der Suchmaschinen, sozialen Netzwerke, ISPs, Wikis und VOIP-Provider. Auch das ist ein Minenfeld.

Wo geht die Machtverschiebnung hin?

All diese Entwicklungen sind Anzeichen dafür, dass die seit den 90er Jahren stattfindende schleichende Internetrevolution mittlerweile zu sichtbaren Rissen in Gebälk der traditionellen wirtschaftlichen und politischen Machtstrukturen geführt hat. Die langsame Machtverschiebung führt zu einem immer nervöser werdenden Machtkampf zwischen etablierten und neuen "Stakeholdern", bei dem keineswegs klar ist, wie er am Ende ausgeht. Neuverteilung von Entscheidungsmacht ist immer ein komplizierter und konfliktträchtiger Prozess.

Dabei geht es den Anhängern des neuen Multistakeholderismus ja nicht um "Revolution", nicht um das Ersetzen bestehende System, wohl aber um deren Ergänzung und zwar dort, wo das alte System an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gerät. Bevormundung von oben hat im Internet noch nie funktioniert. Eine sinnvolle breite Partizipation, die auch innovative und dezentralisierte Entscheidungsmechanismen einschließt bei denen garantiert ist, die die Rechte, Freiheiten und Interessen der Milliarden Internetnutzer nicht unter die Räder kommen oder dem Kampf um politische Kontrolle oder wirtschaftliche Gewinne zum Opfer fallen, ist die Herausforderung der Stunden.

Wie eine solche "erweiterte Transformation" gestaltet werden soll ist eine harte Nuss an der sich 2011 sicher noch mancher Zahn ausgebissen werden wird. Dabei es ist eher nicht zu erwarten, dass die Internet-Governance-Nuss schon 2011 geknackt wird.

Wolfgang Kleinwächter ist Professor für Internetpolitik und Regulierung an der Universität Aarhus.