"Misstrauen in Russland, Hybris im Westen"

Seite 2: Wie Deutschland an Einfluss eingebüßt hat

Aber spielt Deutschland überhaupt noch eine Rolle? Zuletzt haben Moskau und Washington über die Köpfe der Europäer hinweg gesprochen.

Antje Vollmer: Man kann sich das mit Recht fragen. Vor allem, wenn ich zurückdenke, welche unglaubliche Einflussmöglichkeit auf die ehemalige Sowjetunion und sogar auf das China der Jahrtausendwende Deutschland noch unter der rot-grünen Regierung einst hatte. Ohne diesen Einfluss hätte es damals das Nein zum Irak-Krieg so nicht gegeben.

Damals wurden jede Menge bilateraler Gremien geschaffen, etwa der Petersburger Dialog, das Deutsch-russische Rohstoff-Forum, der Nato-Russland-Rat, Städtepartnerschaften etc. Es gab sogar einen Einfluss auf Regierungshandeln, weil wir überall gerne gesehen waren als Berater für verschiedene Gesetzgebungsprozesse der noch unsicheren neuen Rechtsstaaten mit Reformabsicht. Es gab nicht nur sehr intensive Wirtschaftsbeziehungen, es gab einen Einfluss auf die Systementwicklung.

Von dieser Ausgangsposition des Jahres 2005 und ihren besonderen Möglichkeiten haben wir uns in der ganzen Ära Merkel sehr weit entfernt. Wir haben uns einem transatlantischen Über-Ich angenähert und haben die Chancen, die eine vermittelnde Position zum Osten innehatte, vertan.

Ich glaube nicht, dass das nach so vielen Jahren der Irritation und der Kränkung so leicht wieder rückgängig zu machen ist. Letztlich wartet Putin immer noch auf eine deutsche Antwort auf seine Rede im Jahr 2001 im Bundestag oder auf seine Rede bei der Münchener Sicherheitskonferenz im Jahr 2007.

Er wartet ja nicht nur auf diese Antworten, sondern auch auf Reaktionen auf seine jüngsten Vorschläge bezüglich Sicherheitsgarantien an die Nato und die USA. Nun sprechen sich viele deutsche und europäische Akteure für mehr Dialog aus, gehen auf Ideen aus Moskau aber kaum ein. Wie passt das zusammen?

Antje Vollmer: Wenn man einen Neuanfang will, und das werden wir nach diesem Besuch von Olaf Scholz in Moskau vielleicht etwas deutlicher sehen, dann müssen wir, glaube ich, zunächst einmal selbstkritisch anerkennen, dass dieser Dialog bisher nicht stattgefunden hat.

Alle diese Gremien zum Dialog – auch das Normandie-Format, das Weimarer Dreieck, der Nato-Russland-Rat –, die haben alle die letzten drei bis elf Jahre nicht getagt. Das bedeutet, dass die Russen sehr dialogentwöhnt sind. Und wir sind es umgekehrt auch. Wir sind gerne auf Sendung – und selten auf Empfang.

Also ist die Frage: Wie kann man überhaupt einen Neuanfang hinbekommen? Persönlich hätte ich mir gewünscht, dass Scholz und Macron gemeinsam nach Moskau fahren. Das hätte die europäische Verantwortung für eine politische Lösung betont.

Sie haben im Januar eine Erklärung zur Lage um die Ukraine mitunterzeichnet, die eindringlich für eine nachhaltige politische Lösung geworben hat. Seither ist die Situation weiter eskaliert. Sind sich deutsche Politiker der geopolitischen Tragweite dieses Konfliktes bewusst?

Antje Vollmer: Eigentlich habe ich schon im Jahr 2014 – damals gemeinsam mit dem früheren Kanzlerberater Horst Teltschik und dem ehemaligen Verteidigungsstaatssekretär Walther Stützle, also überparteilich – einen Aufruf lanciert, der damals sehr prominent unterschrieben wurde, unter anderem von Roman Herzog, H J Vogel, Erhard Eppler, Burkhard Hirsch, Norbert Blüm sowie vielen Künstlern, Intellektuellen und Kirchenvertretern. Das Problem des Friedens im Osten Europas ist ja schon lange akut, auch um Zusammenhang mit den Ereignissen und Versäumnissen, die um die Maidan- Ereignisse herum stattgefunden haben.

Das Kernproblem unserer Zukunft ist: Wollen wir wirklich zulassen – und das deutet sich ja gerade an –, dass es geopolitisch zu einem neuen, verschärften Kalten Krieg mit fester Blockformation kommt? Dieses Mal nicht mehr zwischen dem Westen und der Sowjetunion, sondern zwischen dem Westen, der Nato auf der einen Seite und möglicherweise einer Blockformation aus Russland und China auf der anderen Seite? Russland geriete in eine solche Konstellation aber nur deswegen, weil der Westen ihm keinen angemessenen Platz in Europa angeboten hat.