"Misstrauen in Russland, Hybris im Westen"
Seite 3: Bei neuem Kalten Krieg: Wer würde zum Westen halten?
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Im hiesigen politisch-medialen Diskurs kommt ein mögliches Bündnis zwischen Moskau und Beijing kaum vor. Der Rest von Asien, Afrika und Lateinamerika gar nicht. Sind all diese Regionen und Staaten irrelevant?
Antje Vollmer: Die Frage nach diesen Staaten hängt letztlich mit der Frage zusammen, ob der Westen eine eigene Vision zur Überwindung dieser neuen Blockbildung hat. Denn wenn es zu dieser Blockbildung käme und wir die Weltkarte ansehen, dann hätte die Nato durch die neu hinzugekommenen Staaten Ost- und Mitteleuropas zwar große Geländegewinne auf dem euroasiatischen Kontinent gemacht.
Aber wenn die übrige Welt entscheiden soll, in welcher Formation sie sich besser aufgehoben fühlt, dann habe ich große Zweifel, dass Afrika, dass die leidtragenden Staaten der katastrophalen westlichen Nahostpolitik, dass Asien oder Lateinamerika wirklich mit vollen Segeln auf die Seite des Westens wechseln würden.
Wenn ich mir also diese Perspektive überlege, dann finde ich alles, über das wir uns derzeit aufregen von tagespolitischer Kurzsichtigkeit geprägt. Irgendwann muss es aber eine Vision von einer anderen Formation und Friedensordnung für die Welt geben.
Man kann dabei den großen Antagonismus zwischen den USA und China nicht ausblenden. Aber man bräuchte schon so etwas wie eine Wiederbelebung der Möglichkeit von Blockfreiheit oder auch einen vermittelnden Akteur, also dialogfähige Mittlerstaaten zwischen den antagonistischen Polen.
Wäre das nicht eine gute Rolle für Europa? Die ergibt sich aus der Geschichte unserer Kriege, aus unserer geografischen Lage. Wir sind mit all unserer Verwundbarkeit auf Frieden angewiesen. Deswegen ist meine Frage: Wer arbeitet eigentlich noch an einer Friedensvision? Und zwar anstelle von Abschreckungs- und Sanktionsmodellen, die doch meist präpotent sind.
Vieles von dem, was gerade in den Medien geschieht, ist stark von Emotion und Erregung geprägt und spiegelt den Geist unendlicher westlicher Überlegenheitsphantasien. Wer aber baut nach all der Selbstberauschung wieder die Brücken, über die beide Seiten danach zusammenkommen können, um endlich über die realpolitischen Möglichkeiten zu reden?
Eine solche Friedensvision ist schon einmal, vor gut drei Jahrzehnten, von Michael Gorbatschow formuliert worden, der von dem "gemeinsamen Haus Europa" gesprochen hat. Wenn wir uns dieses europäische Haus heute ansehen, Frau Vollmer: Kann es noch renoviert werden oder muss es abgerissen und neuerrichtet werden?
Antje Vollmer: Ich bin im Augenblick für knallharte Nüchternheit. Und zu dieser Nüchternheit gehört auch, dass wir uns bewusst machen, in welchem Maße wir heute mit den alten, schönen Visionen derzeit in Russland auf Misstrauen und im Westen auf Hybris stoßen.
Leider können wir da nicht einfach den KSZE-Prozess neu beleben. Ich plädiere dafür, dass der Westen seine Erfolge, aber auch seine dramatischen Misserfolge analysiert und dabei ein kleines bisschen von seinem hohen Ross herabsteigt.
Am Ende könnte dann stehen: Wir haben alle Enttäuschungen überwunden, wir haben aber auch alle Omnipotenzphantasien hinter uns gelassen und versuchen nun in einer durch diese Erfahrung klüger gewordenen Welt vernünftige Friedenskompromisse zu schließen.
In diesem Zusammenhang stehen die Verhandlungen über Abrüstung und eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur ganz oben auf der Agenda. Dafür muss man dann allerdings auch die US-Regierung gewinnen. Und das wäre ein echtes diplomatisches Meisterstück.