Mit Doppelstandards in den nächsten Weltkrieg
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Debatte um den Ukraine-Krieg unterliegt erheblichen Zwängen und wird moralisch beschränkt. Die wirklichen Themen kommen nicht zur Sprache. Ein Kommentar
Wer ist schuld am Krieg in der Ukraine?
Die Antwort ist nicht so einfach, wie uns oft glauben gemacht wird. Die Frage, wer einen Streit verursacht hat, begleitet uns vom Sandkasten bis ins Altersheim. Erfahrene Streitschlichter wissen, dass nicht unbedingt derjenige der eigentliche Aggressor ist, der zuerst zur Gewalt gegriffen hat. (Mit-)schuld kann auch der sein, der durch sein Verhalten den anderen zur Gewalttat provoziert hat. Leider hilft diese Erkenntnis nicht, um im aktuellen Streitfall die Schuldfrage eindeutig zu klären.
Hilfreich ist ein Regelwerk, das beide Konfliktparteien als Richtschnur anerkennen, etwa deshalb, weil sie sich vor Beginn des Streits darauf verständigt haben. Ein solches verbindliches Regelwerk gibt es zwischen den Staaten. Die Gemeinschaft der Völker hat es 1945 angesichts der zivilisatorischen Katastrophen zweier Weltkriege erarbeitet und verabschiedet:
Charta der Vereinten Nationen (UN-Charta)
Dieses Vertragswerk formuliert fundamentale Regeln, die zwischen den Völkern der Welt gelten. Solange es nichts Besseres gibt, tun wir gut daran, uns daran zu halten.
Das Grundprinzip des Völkerrechts steht in Art. 2 Ziffer 4 der Charta:
- "Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete [..] Androhung oder Anwendung von Gewalt." Dieses Gewaltverbot ist die von allen Mitgliedsstaaten der UNO vereinbarte Fundamentalnorm des Rechts zwischen den Staaten ("Völkerrecht").
Ein weiteres Grundprinzip ist in Art. 2 Ziffer 7 der Charta verankert:
- Danach gibt es kein Recht "zum Eingreifen in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören". Das bedeutet, dass kein Staat berechtigt ist, in innere Konflikte eines anderen Staates mit Mitteln der Gewalt einzugreifen.
Von dem Gewaltverbot gibt es zwei Ausnahmen:
- Nach Art. 42 der Charta kann der Weltsicherheitsrat bei Bedrohung oder Bruch des Friedens oder bei einer Angriffshandlung zu "robusten Maßnahmen" ermächtigen.
- Nach Art. 51 der Charta hat ein angegriffener Staat "das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat".
Was bedeutet das für den Ukraine-Krieg?
Maßnahmen nach Art. 42 kommen schon deshalb nicht in Betracht, weil der Sicherheitsrat Russland nicht zu Gewaltmaßnahmen ermächtigt hat.
Ein Selbstverteidigungsrecht Russlands nach Art. 51 entfällt, weil die Ukraine Russland nicht angegriffen hat und auch nicht erkennbar ist, dass die Ukraine einen bewaffneten Überfall auf das russische Staatsgebiet geplant hat.
Ukrainische Militärangriffe auf die Territorien Donezk und Luhansk (Donbass) können ein Selbstverteidigungsrecht Russlands auch nicht auslösen, weil diese Gebiete nicht Teil des russischen Staatsgebiets sind.
Zwischenergebnis: Da die russische Invasion durch keinen der beiden Ausnahmefälle gerechtfertigt ist, ist der Krieg völkerrechtswidrig. Wer Glaubwürdigkeit beansprucht, sollte diese Erkenntnis nicht in Frage stellen. Einwände hiergegen nützen weder Russland noch dem Völkerrecht. Es spielt rechtlich keine Rolle, dass die russische Regierung das Wort "Krieg" vermeidet, sondern von einer "militärischen Sonderaktion" spricht. Das Völkerrecht orientiert sich nicht an Worten, sondern an Sachverhalten.
Verletzung russischer Interessen
Der russische Völkerrechtsbruch schließt jedoch nicht aus, dass die Ukraine im Vorfeld des Krieges berechtigte Interessen Russlands verletzt hat. Russland erhebt insbesondere folgende Vorwürfe:
- Verstärkte Bemühungen der ukrainischen Staatsführung um Aufnahme in die Nato ohne Rücksicht auf russische Sicherheitsinteressen
- Inszenierung des Maidan-Putsches von 2014 mit politischer und militärischer Unterstützung des Westens
- Duldung eines extremen Nationalismus in der Ukraine
- Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung im Donbass
- Einsatz von "Nazi-Bataillonen"
- Bürgerkrieg im Donbass mit bisher 14.000 Toten; verweigerte Umsetzung des Minsk II- Abkommens; geplante Offensive gegen die Volksrepubliken Donezk und Lugansk.
Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, wollte man untersuchen, ob und inwieweit die Vorwürfe gegen die Ukraine, die USA und die EU begründet sind. Eine Klärung ist auch nicht erforderlich. Denn selbst wenn die Vorwürfe zuträfen, könnte hieraus kein Recht Russlands abgeleitet werden, die Ukraine militärisch anzugreifen.
Politische Provokationen rechtfertigen keinen Angriffskrieg. Dieses Ergebnis mag aus russischer Sicht unbefriedigend sein, das ändert aber nichts an der völkerrechtlichen Bewertung.
Wir leben in keiner idealen – gerechten – Welt. Die letzten Jahrzehnte haben wiederholt gezeigt, dass selbst massive Völkerrechtsbrüche (zum Beispiel Jugoslawien, Irak, Syrien, Libyen, Palästina) ungeahndet geblieben sind. Der Grund hierfür liegt auf der Hand: Recht ist das eine, Macht ist das andere.
Nicht immer siegt die Stärke des Rechts, manchmal triumphiert leider die Macht des Stärkeren. Gleichwohl darf die Welt nicht müde werden, immer wieder Gerechtigkeit einzufordern. Alle Staaten der Welt sind aufgerufen, auf staatliches Fehlverhalten mit politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Maßnahmen zu reagieren und die Täter einer (völker)strafrechtlichen Verurteilung zuzuführen.
Leitmedien und Volksverdummung
Deutsche Leitmedien beschränken sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auf eine einseitige, von US-, Nato- und EU-Interessen bestimmte Sicht auf die Welt, so auch hier. Die russische Perspektive wird entweder völlig ausgeblendet oder von vorneherein als unglaubwürdig abgetan.
Diese Art von Journalismus versteht sich als Lautverstärker der Regierungspolitik, Servilität ist ihr Markenzeichen. Karl Kraus nannte diese Spielart der Pressearbeit "Journaille". Im Fall des Ukraine-Krieges stützt sie sich mit Vorliebe auf ukrainische Regierungsverlautbarungen, westliche Geheimdienstinformationen, handverlesene Auslandskorrespondenten und obskure Rechercheportale.
Auch wenn offensichtlich ist, dass Meldungen durch die Interessen einer Kriegspartei und deren Unterstützer geleitet sind, vernachlässigen viele Leitmedien die vornehmste Journalistenpflicht, nämlich die Überprüfung ihrer Informationen auf den Wahrheitsgehalt.
Sie berichten ohne ausreichende Recherche, ohne seriöse juristische Einordnung, dafür aber mit dem Ausdruck tiefer Empörung über "Russlands Verbrechen". In den allabendlichen Talkshows geht die Indoktrination verstärkt weiter. Die Gastgeberinnen und Gastgeber lassen schon in der Anmoderation keinen Zweifel daran, auf welcher Seite sie stehen.
In der nächsten Stunde führen der durch seine verbalen Ausfälle bekannte ukrainische Botschafter Andrij Melnyk sowie Bellizisten der Machart Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Anton Hofreiter, Roderich Kiesewetter und Robin Alexander das große Wort.
Sie überbieten sich gegenseitig mit der Dämonisierung Putins und der Forderung nach mehr und schwereren Waffen für die Ukraine. Gelegentlich wird zur Gesprächsrunde ein waffenkritischer Diskutant als publizistisches Feigenblatt zugeladen.
Wenn dieser Einzelkämpfer zu Bedacht mahnt und auf die drohende Ausweitung des Krieges hinweist, wird er von einer Handvoll "Rechtgläubiger" – mit Duldung des Moderators – in seinem Diskussionsbeitrag ständig unterbrochen und notfalls mit vereinten Kräften der Ukraine-Allianz niedergebrüllt. Solche Sendungen wollen keine Diskussion, auch keine Information, sie wollen Krawall und – schlimmer noch – sie nehmen eine schleichende Volksverdummung in Kauf.
So gering der Erkenntnisgewinn der Ukraine-Diskussionsrunden auch sein mag, sie sind durch die ständige Wiederholung von Stereotypen meinungsprägend. Russische Kommentatoren werden dem deutschen Fernsehzuschauer ohnehin vorenthalten, sie könnten ja Wasser in den Wein der atlantischen Selbstgerechtigkeit schütten.
Ähnliches gilt für chinesische, indische, arabische, lateinamerikanische und afrikanische Stimmen. Menschen dieser Länder dürfen zwar für die Ukraine hungern, dürsten und sterben, aber sie dürfen nicht ihre Sicht darlegen. Ergebnis: Mit publizistischen Scheuklappen wird der irrige Eindruck erweckt, die ganze Welt würde die westliche Sichtweise teilen. Doch das ist ein Zerrbild.
Die Methode der absichtsvollen Glättung des Weltbildes hat Tradition in den deutschen Medien. Die Diskussionen um Skripal, und Nawalny sind in unguter Erinnerung. Manche Edelfeder des deutschen Journalismus müsste eigentlich vor Scham erröten. Stattdessen ziehen es diese Leute vor, sich unter der Tarnkappe eines Kämpfers für Freiheit und Demokratie zu verbergen.