Muktada as-Sadr in Iran?

Zwei böse Mächte, die endlich zueinander gefunden haben

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Der irakische Schiitenführer Muqtada as-Sadr soll nach Angaben von amerikanischen Regierungsvertretern aus dem Irak geflohen sein und seit Wochen in Iran leben. Die Nachricht war heute auch hierzulande Top-Story in einem großen Online-Magazin und liefert der Phantasie ein eindrucksvolles Bild, das zusammenfügt, was zusammengehört: der schiitische Outlaw sucht Exil im Schurkennest; zwei böse Mächte, die endlich zueinander gefunden haben.

Und nein, man muss sich keine antiamerikanische Brille aufsetzen, um aus der Nachricht, die auf Mutmaßungen beruht, diesen Subtext herauszulesen, der hier etwas überzeichnet in Westernmanier karikiert wurde. Er springt jedem Leser ins Auge, der die Berichterstattung über den Irak in den Wochen seit der Exekution von Saddam Hussein verfolgt hat. Wenn es um die Frage ging, wer das Chaos im Irak zu verantworten hat, pflegte die amerikanische Regierung gegenüber den Medien vor allem zwei große Trends: Iran und die „sectarian violence“, geschürt von Milizen, von denen vor allem die berüchtigte al-Mahdi-Miliz immer wieder an prominenter Stelle erwähnt wurde, wenn es galt bei verschiedenen Anklagen konkrete Namen zu nennen (vgl. Das Bagdad-Dossier). Es scheint ganz so, als ob derzeit Al-Qaida im Irak von den beiden größeren Schurken aus dem Scheinwerferlicht gedrängt wird, trotz der vielen abgeschossenen Hubschrauber, die von Al-Qaida als ihr Erfolg reklamiert wird.

Dunkler Herrscher über Hinterhöfe, enge Gassen und entsprechenden Meuten

Muktada as-Sadr bekleidet in der öffentlichen Wahrnehmung außerhalb Iraks vor allem zwei Rollen: die des finsteren, schwer zu durchschauenden, ausgefinkelten Populisten mit islamistischen Motiven, der vor Mord und brutaler Gewaltandrohung nicht zurückscheut, wenn es darum geht, seine Macht zu behaupten bzw. für Durchsetzung islamischer Gesetze zu sorgen. Schon die ersten Schlagzeilen, für die er 2003 mit seiner nie ganz geklärten Beteiligung an der Ermordung des Klerikers Al Khoei, der von Amerikanern und Briten unterstützt aus dem Londoner Exil in den Irak zurückkehrte, sorgte, präsentierten ihn als Backdoor-Man, als dunklen Herrscher über Hinterhöfe, enge Gassen und entsprechenden Meuten.

Die andere Seite des selbsternannten Schiitenführers, die Versorgung der Bevölkerung, namentlich in seinem Heimatrevier Sadr-City, mit einem sozialen Netz, wurde erst später zum Thema in den Medien, vor allem als während des Krieges zwischen Israel und der Hisbullah solche Aspekte von radikal-islamischen Gruppierungen hervorgehoben wurden. Zwar wurde in diesem Zusammenhang auch über Parallelen und Verwandtschaften zwischen den Sadristen und der Hisbullah diskutiert, eine engere Zusammenarbeit über Solidaritätsbekundungen hinaus, wurde bislang aber nicht nachgewiesen.

Die zweite große Rolle, für die Muktada as-Sadr schon seit 2003 berühmt und berüchtigt ist, ist die des Besatzungsgegners, der seine Abneigung gegen die USA laut hinaustönte und öffentlich machte, dass er eine Privatarmee gegen die Besatzer aufstellen wolle. Die späteren Folgen sind bekannt: zwei größere Kämpfe gegen die US-Armee in Naschaf (vgl. Showdown im "Tal des Friedens"). Muqtada wurde „im Feld“ besiegt, galt aber irgendwie doch als moralischer Sieger, nicht nur für seine Anhänger, und auch praktisch konnten die Amerikaner keinen Gewinn aus ihrem militärischen Erfolg schlagen. Die al-Mahdi-Armee gab die Waffen nicht ab. Und Muktada verschwand für eine Weile (vgl. Der verschwundene Imam). Doch, und das ist ein weiteres Charakteristikum des politischen Stehaufmännchens as-Sadr, er tauchte wieder auf; mit langsamen Annäherungen gelangte er schließlich sogar auf die politische Hauptbühne des Iraks, in die Regierung; natürlich vertreten durch seine Anhänger, um sich als absoluter Gegner jeder Zusammenarbeit mit den Amerikanern durch keinen Wortbruch zu brüskieren.

Fehlende Beweise

Interessant ist bei diesem Werdegang, dass es den Amerikanern niemals gelungen ist, as-Sadr als politisch und sozial wichtigen Faktor auszuschalten, er wuchs geradezu mit dieser Gegnerschaft, die ihn als Medienfigur auch interessant machten und ihn - vielleicht ähnlich wie das andere Phantom Sarqawi – zu einer Figur mit einer Macht hoch stilisierten, die er in Wirklichkeit gar nicht mehr besitzt. Seit Wochen häufen sich zumindest Meldungen, die anzeigen, dass sich die Mahdi-Armee in selbstständig agierende Einheiten zersplittern, deren Kommandeure sich von der Befehlsgewalt Muktada as-Sadrs gelöst haben. Auch die Sadristen-Bewegung selbst hat mehrere Fraktionen; vom großen Namen (die Mitglieder der Sadr-Familie waren im Irak hohe und angesehene Geistliche) zehrt nicht nur Muktada.

Zum anderen ist bemerkenswert, dass schon im April 2004, bei der ersten größeren Auseinandersetzung zwischen amerikanischen Truppen und as-Sadrs, die Rede vom iranischen Exil für Muktada war. Iranische Regierungsvertreter lehnten diese Pläne ab. Seit damals wurde immer wieder versucht, engere ideologische und kooperative Verbindungen zwischen Muktada as-Sadr und Iran herzustellen, der Beweis ist allerdings nicht gelungen. Schon der frühere US-Verteidigungsminister Rumsfeld musste dies 2004 einräumen.

Schenkt man den Aufzeichnungen des Schiiten-Fachmanns und Bloggers Juan Cole Glauben, so gebe es zwar ideologische Parallelen zwischen den Vorstellungen as-Sadrs und der islamischen Republik Iran:

In the long term, he would like to see a system in Iraq similar to the regime in Iran. He wants Islamic law to be the law of the land, and he wants clerics to rule. His father studied with Ayatollah Khomeini and accepted the notion of clerical rule. So does Muqtada. That is, there may be a place for elections (as in Iran), but true power would rest in the hands of the clerics. He has admitted all this in Arabic press interviews.

Aber, so Cole, Muktada sei vor allem auch ein irakischer Patriot, der sich gegen den Einfluss aus dem Nachbarland ausspreche:

He wants Iraqi Shiism to emerge from Iran's shadow and to establish its independence from Iran. His movement is rooted in the Shiite ghettos of Iraq and is very indigenous. He is not Iran's catspaw in Iraq, quite the opposite. He is strong Iraqi nationalist.

Haben irakische Schiiten ein Eigenleben?

Nun könnte man daraus trotzdem eine ideologische Nähe Muktadas zum „Mullah-Regime“ lesen, nah genug immerhin, um gemeinsame Sache mit den „destabilisierenden Kräften“ im Nachbarland zu machen, wenn es gegen amerikanische Interessen im Irak geht. Doch würde das gleiche vor allem für die SCIRI-Partei gelten, die im Iran erst ihre Größe entwickelt hat und über beste Beziehungen verfügt. Die Frage ist also, wie scharf man die Brille auf Unterschiede einstellt. Inwieweit man den irakischen Schiiten Eigenheiten unterstellt. Ein schwieriges Terrain für die Amerikaner, die für patriotische Interessen der Iraker bislang keine ausgeprägte Wahrnehmung hatten und gleichzeitig die Unabhängigkeit und Souveränität des Irak immer wieder betonen.

Und wo steckt Muktada nun? Will man den Getreuen von as-Sadr, die betonen, dass er noch im Land sei, keinen Glauben schenken, kann man bei Juan Cole heute Muktadas Weg in die Verborgenheit über jeweilige Tagesmeldungen in der arabischen Presse verfolgen. Demnach hat er das Land nicht verlassen. Muktada as-Sadr selbst hat sein Verschwinden in einem kürzlichen Interview, in dem er sich als verfolgter Mann, der sich verstecken muss, präsentierte, schon angekündigt: Die Sadr-Sicht der Dinge. Er kommt wieder, keine Frage. Heller wird’s dadurch nicht im Irak.