Mut zum Antisemitismus

Seite 2: Von Antikapitalismus und Antisemitismus

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Wie grenzt man hier legitime Herrschaftskritik, die ja auch immer eine Kritik einer Mehrheit gegen eine Minderheit ist, ab? Zwar verspricht das Ideal der Demokratie die "Volksherrschaft", aber das Reale der Demokratie ist nicht erst seit Colin Crouchs "Postdemokratie" die Machtausübung weniger über viele und zwar illegitim. Ob nun Lobbyisten oder Netzwerke aus Wirtschaft, Medien oder Militär, alle versuchen mehr oder weniger offen Einfluss auf die Politik zu nehmen.

Auch gibt es seit Jahren eine breite Diskussion über den Qualitätsverlust etablierter Medien. Vor allem wenn das Diktum Niklas Luhmanns mitgedacht wird: "Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien." Ist eine Kritik an den Medien, und sei sie noch so unreflektiert und emotional vorgebracht wie der Vorwurf der "Lügenmedien", per se antisemitisch konnotiert?

Jonas Fedders: Natürlich beinhaltet eine antikapitalistische Herrschaftskritik die Kritik an einer gesellschaftlichen Minderheit, nämlich an denjenigen, die die Produktionsmittel besitzen und auf diese Weise in der Lage sind, sich den gesellschaftlichen Reichtum anzueignen. Diese Personen werden aber aufgrund ihrer gesellschaftlichen Funktion ins Visier genommen, sie sind als "Charaktermasken", wie Marx es formuliert hat, nur die personifizierten Repräsentanten eines gesellschaftlichen Verhältnisses, das im Grunde apersonal funktioniert.

Vereinfacht gesagt: Es ist egal, wer die Funktion des Kapitalisten inne hat - das Problem ist die Funktionsweise der Tauschgesellschaft, die ohne die Aufspaltung in Kapitalisten und Lohnarbeiter nicht funktionieren würde. Dass unsere Gesellschaft auch heute noch durch den Klassenwiderspruch zwischen Arbeit und Kapital gekennzeichnet ist, wird von vielen, die wüst gegen "die da oben" schimpfen, schlicht ignoriert oder sogar geleugnet. Und dann ist es doch keine Herrschaftskritik, wenn man sich hinstellt wie Elsässer und sagt: Hier stehen die 99 Prozent der Ehrlichen und Arbeitenden und auf der anderen Seite das eine Prozent der "internationalen Finanzoligarchie".

Die Logik dabei ist: Wenn man diese wenigen Leute bekämpft, dieses eine Prozent, dann ist alles gut. Dann gibt es keine Ausbeutung und keine Herrschaft mehr. Die Funktionsweisen der kapitalistischen Vergesellschaftung bleiben dabei unbegriffen. Und wenn dann diese "kleine Elite" auch noch explizit mit Namen von bestimmten Familien beschrieben wird, die in der antisemitischen Propaganda als Signifikanten für reiche, einflussreiche und jüdische Familien fungieren, dann greift das auf das antisemitische Klischee vom "Finanzjudentum" zurück. Das Gerede von den "99 Prozent" gegen die "kleine Elite" ist aber auch deshalb keine Herrschaftskritik, weil dadurch andere Herrschaftsverhältnisse innerhalb dieser 99 Prozent, zum Beispiel entlang von rassistischen oder sexistischen Kriterien, unsichtbar gemacht werden.

Kevin Culina: Genau hier findet sich dann auch der Anknüpfungspunkt für das Antisemitische: Anstatt die gesellschaftliche Konstitution in Klassen zu analysieren und zu kritisieren, wird auf eine vermeintlich "natürliche Ordnung" verwiesen. Das "Volk" solle sich von den "Ausbeutenden", die sich durch künstlich geschaffene Arbeit an der Gesellschaft bereichern, befreien.

All diese Anklagen, Menschen würden sich von außen und trickreich an der "ehrlichen Arbeit" des "Volkes" bedienen, wurden historisch immer Jüdinnen und Juden gemacht. Das "Böse" aus der Gesellschaft heraus zu externalisieren und als "künstlich" und "parasitär" abzuwerten, ist fester Bestandteil der völkischen Ideologie. Und damit dient sie in erster Linie dem Antisemitismus. Der Ruf nach mehr Nation und "freien Völkern" ist somit vor allem "konformistische Rebellion" und radikalisiert die kapitalistischen Verhältnisse lediglich. Eine befreite Gesellschaft ist so nicht zu haben, das Gegenteil ist der Fall.

Jonas Fedders: Selbstverständlich ist es vehement zu kritisieren, dass Akteure aus der Wirtschaft oder dem Militär mithilfe des Lobbyismus auf politische Entscheidungsprozesse Einfluss zu nehmen versuchen. Aber ich halte es auch für eine Illusion, dass es möglich sei, die Herausbildung von Lobbygruppen innerhalb des Kapitalismus zu verhindern.

Ich traue Crouchs These von der "Postdemokratie" ehrlich gesagt auch nicht so richtig über den Weg. Natürlich sind diese Phänomene, die er beschreibt, zu beobachten. Aber Crouch behauptet, während des fordistischen Klassenkompromisses habe die Demokratie gedeihen können und, parabelförmig gesprochen, ihren Höhepunkt gehabt. Über genau diese angebliche "Blütezeit" der Demokratie hat Herbert Marcuse in den 1960er seine Studien zur eindimensionalen Gesellschaft vorgelegt.

Marcuse konzipiert den eindimensionalen Menschen als einen im Wesentlichen positivistischen und apolitischen Charakter - überspitzt gesagt: als einen, der damit zufrieden ist, sich nach seiner 40-Stunden-Woche ein hübsch ausgestattetes Reihenhaus leisten zu können und einmal im Jahr in den Urlaub zu fahren. Ernsthafte politische Partizipation, wie Crouch sie sich in seinem idealtypischen Modell der Demokratie vorstellt, ist vom eindimensionalen Charakter nicht zu erwarten. Insofern finde ich es nicht nachvollziehbar, weshalb die "Postdemokratie" sich erst in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben soll. Die Frage wäre doch eher, ob es überhaupt innerhalb des Kapitalismus schon einmal eine idealtypische Demokratie gegeben hat und ob diese überhaupt denkbar ist - Zweifel sind hier meiner Meinung nach mehr als angebracht.

Kevin Culina: Die sozialdemokratische Mär von Demokratie als "Ausgleich von Interessen" zeigt doch hier ihre Probleme. Selbstverständlich gibt es unterschiedliche Ressourcen, auf die beispielsweise große Konzerne oder das Militär zur politischen Beeinflussung zurückgreifen können. Das gilt es zu kritisieren und für eine radikale Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche einzutreten.

Am Beispiel Compact wird aber klar, wofür diese "Kritik" an Entdemokratisierung dienen soll: Angeprangert werden (pro-)israelische Interessenverbände in den USA, jüdische Bankiersfamilien und vermeintlich pro-zionistische Medienhäuser in Deutschland. Dabei wirbt man für mehr wirtschaftlichen und politischen Austausch mit Russland. Es geht also nicht um den Lobbyismus per se, sondern um "falsche" und "richtige" Einflussnahme.

Jonas Fedders: Und nein, die Kritik an Medien ist natürlich nicht per se antisemitisch. Es gibt ja auch viele gute Gründe, sich über die Art und Weise, wie Medien funktionieren und wie sie berichten, zu beschweren. Dass etwa Medien darauf angewiesen sind, hohe Auflagen oder Klickzahlen zu generieren, determiniert auch die Themenauswahl. Wichtige Dinge, die wenig Absatz versprechen, fallen so vielleicht hinten runter. Aber das ist doch eine andere Art der Kritik als das "Lügenpresse"-Geschrei, das ja genau genommen keine Kritik ist, sondern nur die Empörung darüber, dass nicht alle Medien die eigenen egoistischen Partikularinteressen und Weltanschauungen teilen. Und erst recht ist es keine Kritik, wenn man unterstellt, diejenigen, die die Medien besitzen, lenkten damit gezielt die öffentliche Meinung, um damit ihre Interessen durchzusetzen.

Im Fall der Kölner Silvesternacht behauptete Compact beispielsweise, die Medien hätten bewusst die sexualisierten Übergriffe durch Migranten verschwiegen, damit keine Kritik an dem "Bevölkerungsaustausch" aufkäme. Das heißt, dass "die Medien" lediglich Erfüllungsgehilfe für die großen Pläne der "Eliten" seien. Und hierbei handelt es sich sicher nicht um Medienkritik, sondern um ein antisemitisches Klischee.