NSU: V-Mann im Verfassungsschutz-Nebel

Seite 3: Abschaltung und Enttarnung des V-Mannes "Piatto"

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Die Unklarheiten erstrecken sich auch auf die Abschaltung und Enttarnung des V-Mannes "Piatto". Entpflichtet wurde er offiziell am 30. Juni 2000. Bereits Anfang Juni 2000 hatte das BfV gegenüber dem LfV angedeutet, dass die Quelle abgeschaltet werde. War also das Bundesamt die Haupttriebkraft? Doch was war der Grund?

Hing es mit Waffengeschäften zusammen, an denen Szczepanski beteiligt war? Im Frühjahr und Sommer 2000 waren unter Rechtsextremen vermehrt Bestrebungen zu beobachten, sich Waffen zu beschaffen. Warum? Hatte Szczepanski das Misstrauen seines Dienstherren erregt, weil er konspirative Gespräche in der rechten Szene geführt haben soll?

Drohte er gar aufzufliegen? Das LfV hatte durch eine V-Frau in der linken Antifa erfahren, dass Szczepanski dort in den Verdacht geraten war, ein Spitzel zu sein. Dieser Sachverhalt blieb ungeklärt, auch weil der Ausschuss die Akten jener V-Frau nicht beigezogen hat.

Anfang Juli 2000, wenige Tage nach der Abschaltung von "Piatto", wurde Carsten Szczepanski durch einen Artikel des Magazins Der Spiegel öffentlich enttarnt. Der Spiegel legte den Artikel vor Veröffentlichung dem Verfassungsschutz vor. Der war damit eingeweiht und trug die Enttarnung augenscheinlich mit.

Unklar ist, woher der Spiegel wiederum die Information über den "V-Mann Piato" hatte. Möglicherweise vom VS selber, denn Abschaltung und zusätzliche Enttarnung sind Verfahren, die Nachrichtendienste sicherheitshalber praktizieren, um eine Quelle vollständig vom Feld zu nehmen und zu verhindern, dass sie sich weiter in der Szene bewegt und zum unkontrollierten Störfaktor wird. Auch bei dem thüringer Neonazi und V-Mann Tino Brandt wurde dieses Mittel angewandt.

Szczepanski lebt inzwischen seit 19 Jahren unter neuer Identität im Zeugenschutzprogramm des Landes Brandenburg.

Die Rolle der Verfassungsschützer

Nach seiner Abschaltung wurde der Spitzel im Ruhestand nach eigener Aussage noch von Mitarbeitern des BfV vernommen. Und auch nach dem Auffliegen des NSU am 4. November 2011 interessierte sich das Bundesamt für ihn erneut. Noch bevor die obersten Ermittlungsbehörden Bundesanwaltschaft und BKA Carsten Szczepanski befragen konnten, hatte das das BfV bereits getan. Das war Anfang Juni 2012.

Irreführend und falsch ist jedenfalls eine Auskunft des Bundesinnenministerium vom Februar 2018. Auf die Frage der Abgeordneten Martina Renner (Linke), in welchem Jahr und Monat das BfV "erstmalig" Kontakt mit Carsten Szczepanski alias "Piatto" hatte, lautete die Antwort: "Im August 2012."2

Insgesamt muss es mindestens drei Vernehmungen Szczepanskis durch das BfV gegeben haben. Folglich muss im Amt auch eine Akte mit den Vernehmungsprotokollen der früheren Quelle vorliegen.

Ist, wo derart viele Dinge unklar sind, überhaupt ein allgemeingültiges Urteil über die Rolle des Verfassungsschutzes und seines Spitzels "Piatto" möglich?

Der Fall "Piatto", aber auch die Fälle der V-Männer "Barte" und "Backobst" liefern zahlreiche Belege, wie der Verfassungsschutz mit Erpressungen und Nötigungen operierte, rechtsstaatliche Verfahren manipulierte, Ermittlungsverfahren torpedierte - kurz: Recht und Gesetze brach ( NSU: Schutz für V-Mann "Piatto" von ganz oben, NSU und Verfassungsschutz und kein Ende).

Allerdings sind diese Praktiken durch eine Regelung der besonderen Art formal abgesichert: Nach der wenig bekannten "Zusammenarbeitsrichtlinie" von Polizei, Staatsanwaltschaften und Nachrichtendiensten ist vorgesehen, dass sich die Ermittlungs- und Strafverfolgungsorgane der Bundesrepublik den Interessen der Geheimdienste Verfassungsschutz, BND und MAD unterordnen, wenn die es wünschen. Sprich: Verfahren zugunsten ihres Personals und Klientels stoppen oder beenden.

Eine diskussionswürdige Regelung, weil sie den Maßstab der "Gesetzestreue" aushebelt. Die Zusammenarbeitsrichtlinie ist kein Gesetz, sondern eine Art Vertrag der Organe des Sicherheitsapparates - ein selbstgeschaffener extra-legaler Raum.

Die Grünen-Abgeordnete Ursula Nonnenmacher sagte bei der Vorstellung des Abschlussberichtes vor der Presse, der NSU-Untersuchungsausschuss sei hinter seinen Möglichkeiten geblieben, er sei behindert worden, Akten seien zu spät, mit zu hohen Geheimhaltungsgraden versehen oder derart geschwärzt geliefert worden, dass sie nicht ausgewertet werden konnten.

Ihr Vorschlag ist, den vielen offenen und unbearbeiteten Fragen solle ein Wissenschaftler-Team nachgehen, das vom Landtag beauftragt werden soll. Die AfD unterbreitete den nicht mal dummen Vorschlag, ein neuer Untersuchungsausschuss des Bundestages solle sich allen ungeklärten Fragen, auch aus den Landtagsausschüssen, annehmen.