Nach den Amerikanern kommen die Islamisten
Ist das von US-Truppen belagerte, aber von "Freiheitskämpfern" beherrschte Falludscha das Modell für die Zukunft des Irak und das Ergebnis des Kreuzzuges von Bush?
Ein Jahr nach dem von Bush ausgerufenen Ende der größeren Kampfhandlungen ist es zu den ersten Stadtkämpfen gekommen, die Manche schon für die Invasion befürchtet hatten (Zerstörung der Städte oder Aushungern). Das Hussein-Regime ist aber beim Einmarsch schnell in sich zusammen gefallen. Mit irrigen Vorstellungen und fehlenden Plänen für die Nachkriegszeit, dem kaum vorankommenden Wiederaufbau und wachsender Unsicherheit und Kriminalität, aber auch dank der vielen Fehler vor allem des US-Militärs im Umgang mit den Menschen, gipfelnd im gewaltsamen Vorgehen gegen Zivilisten, willkürlichen Festnahmen und den Misshandlungen von Gefangenen, ist der Widerstand erstarkt. Im sunnitischen Falludscha, wo die ersten Stadtkämpfe aufgeflammt sind und die US-Truppen sich schließlich wieder zurück gezogen haben, lassen sich womöglich Trends für die Zukunft ablesen.
Falludscha, nicht gerade eine riesige Stadt mit ihren 300.000 Einwohnern, war und ist eine der Hochburgen des Widerstands, auch wenn im April in vielen anderen Städten Kämpfe zwischen Aufständischen und Besatzungstruppen aufflammten und sich mit den Milizen von al-Sadr nicht nur Sunniten, sondern auch Schiiten beteiligten (Krieg in den Städten). Als im April vier amerikanische Söldner in der sunnitischen "Stadt der Moscheen" getötet und ihre verkohlten Leichen von einer triumphierenden Menge vor den Augen von Kameras durch die Stadt geschleppt wurden (Triumph der Grausamkeit), schworen Paul Bremer und die US-Regierung Rache. Danach belagerten US-Truppen die Stadt, versuchten den Widerstand zu brechen und verlangten die Übergabe der Täter, die Abgabe der Waffen sowie die Auslieferung der ausländischen Kämpfer.
Nach dem Beschuss einer Moschee durch die US-Truppen, der Flucht von vielen Bewohnern und zahlreichen weiteren Toten und Verletzten durch Kämpfe und Bombardierungen der Stadt, wuchs die internationale Kritik am militärischen Vorgehen der US-Truppen (Iraq now), die schließlich Ende April nicht, wie zunächst intendiert, die Stadt erstürmten, sondern sich zurückzogen, um irakischen Soldaten die Aufgabe zu übertragen. Zuvor hatten Verhandlungen zwischen Geistlichen, politischen Führern, Aufständischen und dem US-Militär stattgefunden. Es gab Fraktionen bei den Aufständischen und die Marines wollten angeblich, aber durchaus nachzuvollziehen, kein zweites Dresden. Aber das Ergebnis verbessert die Lage wohl auch nicht wirklich.
Zunächst marschierte im Auftrag des US-Militärs vor Ort Jassim Mohammed Saleh, ein Ex-General von Husseins Republikanischen Garden, mit der alten Uniform an der Spitze einer irakischen Brigade in die Stadt ein und wurde dort freudig begrüßt. Man feierte den Rückzug der US-Marines als Sieg (Die Erfolgsstory verwandelt sich in einen Albtraum). Nachdem sich jedoch Saleh als nicht sehr kooperationsbereit zeigte und meinte, es gebe in Falludscha keine feindlichen Kämpfer, wurde schließlich ein anderer Ex-General zum Kommandeur bestimmt. Mohammed Latif wurde angeblich von Hussein verstoßen und lebte im Exil. Doch auch Latif forderte den Abzug der Amerikaner, da es in der Stadt friedlich sei, es keine ausländischen Kämpfer gebe und er sonst kein Vertrauen in der Bevölkerung finde. Man ist eben diplomatisch nach allen Richtungen.
Gleichwohl gilt für die Besatzungsmacht das von irakischen Soldaten, meist aus der Zeit Husseins, kontrollierte Falludscha als mögliches Modell auch für andere Städte wie das weiterhin umkämpfte Nadschaf. Tatsächlich scheint es in der Stadt mittlerweile friedlich zuzugehen, allerdings wird sie noch von US-Truppen belagert - und es ist keineswegs sicher, dass der von den Amerikanern bestimmte Kommandierende tatsächlich die faktische Macht ausübt. In der von Latif befehligten Brigade gibt es nicht nur viele ehemalige Soldaten und Offiziere des ehemaligen Regimes, sondern auch Männer, die kurz zuvor noch als "Freiheitskämpfer" gegen die US-Soldaten angetreten sind. John Toolan, der Kommandeur der Marines, denkt laut darüber nach, ob die Falludscha-Brigade nicht in das irakische Militär integriert werden sollte. Das könnte eine Möglichkeit sein, die Milizen auch in anderen Städten zu integrieren oder aber ihnen noch mehr Macht zu verleihen, als sie bislang schon haben.
Glaubt man neueren Berichten, so haben auch die vom US-Militär geschickten irakischen Soldaten des alten Regimes in Falludscha wenig zu melden. Die zwar weiterhin umstellte, aber von den Befreiern wiederum "befreite" Stadt scheint derzeit eher in der Herrschaft der Aufständischen zu sein, die im Gegenzug zum Hussein-Regime und der Besatzungsmacht den Islamisten zuneigen. Falludscha wird als eine Art Stadtstaat beschrieben, in der die durch den Abzug der Marines siegreich auftretenden und teilweise bewunderten Mudschaheddin oder Freiheitskämpfer dominieren.
Gingen die Befürchtungen bislang eher dahin, dass der Irak durch Konflikte zwischen den von der Diktatur gewaltsam zusammen gehaltenen Bevölkerungsgruppen der Sunniten, Schiiten und Kurden auseinander fallen könnte, so wäre Falludscha als Modell die Aussicht auf eine weitaus kleinteiligere Fragmentarisierung, wie sie auch im weniger urbanisierten Afghanistan durch die Gebiete geschehen ist, die von den verschiedenen Warlords beherrscht werden. Es wäre geradezu ein Paradox, wenn die präventive US-Strategie gegen "böse" Regimes und "failed states" eben die Entstehung von Ländern zur Folge hätte, in denen die inthronisierte Zentralmacht keine Bedeutung spielt und regionale, kaum kontrollierbare Mächte das Sagen haben, die auch durch Verbindung mit organisierter Kriminalität oder Terrorgruppen ihre Herrschaft zu stabilisieren suchen.
Offenbar versuchen bewaffnete Milizen in Falludscha einen islamischen Gottesstaat einzuführen und gehen in der Stadt auf Patrouille. Auf einem Plakat im Zentrum steht beispielsweise: "Willkommen in der Islamischen Republik Falludscha". Die Mudschaheddin haben die Scharia eingeführt, was manche Geistlichen begrüßen, die sagen, dass nach all den Opfern, die die Einwohner von Falludscha in den Kämpfen erbracht hätten, nun die Menschen das Recht hätten, eine eigene Regierung mit islamischem Gesetz zu haben. Frauen dürfen nur verhüllt in die Öffentlichkeit, Männer dürfen sich nicht mehr westliche Haarschnitte machen, sondern müssen ihre Bärte wachsen lassen. Langhaarige Jugendliche werden hingegen geschoren. In Schulen und an öffentlichen Orten sollen die Geschlechter wieder getrennt werden. Alkohol ist in der Stadt verboten und wer diesen konsumiert oder gar verkauft, wird gejagt und bestraft. Maskierte Mudschaheddin sorgen anscheinend auch mit Unterstützung der Polizei für öffentliche Ordnung. So wurden Straßenhändler aus dem Zentrum verjagt.
Vermutlich aber wollen die meisten Menschen in Falludscha weder weitere Kämpfe noch eine Entscheidung zwischen den Besatzern und den Extremisten, die gegen diese kämpfen und durch die Kämpfe verstärkt werden. So haben die wichtigsten Stämme eine Delegation zu Lakdhar Brahimi, dem UN-Abgesandten für den Irak geschickt, der gerade erst wieder von den Amerikanern übergangen wurde. Sie forderten von Brahimi, was er nicht geben kann: ein UN-Protektorat für ihre Stadt und Entschädigung für die Opfer der Kämpfe mit den US-Truppen, wie dies der Brauch ist. Sie beklagten die Gesetzlosigkeit und die Macht der Militanten, forderten aber zugleich, dass auch das US-Militär sich nicht in die Angelegenheit der Stadt einmischen dürfe.
Noch immer würden viele Flüchtlinge Angst haben, in die Stadt zurückzukehren. In ihr hätte das US-Militär 500 Häuser zerstört und viele weitere beschädigt. Über 700 Menschen seien bei den Kämpfen getötet worden. Noch immer hätten die Amerikaner 165 Einwohner in Gefangenschaft, die sofort fei gelassen werden müssten. Wie die Delegation das Verhältnis zu den US-Truppen sieht, wird an der Forderung deutlich, dass man Brahimi aufforderte, vom US-Militär für die Getöteten einen Schadensersatz in der Art zu verlangen, wie Libyen die Verwandten der Opfer des Lockerbie-Anschlags bezahlt hat.
Sollte Falludscha zu einem Modell für den Irak werden, der angeblich am 30. Juni volle Souveränität erlangen soll, während die US-Regierung aber doch gerne ihre Leute für die Übergangsregierung durchsetzen will und so gerade die Entscheidung für den Übergangspräsidenten blockiert, dann sieht es nicht gut aus. Auch in Afghanistan ist die Macht der Übergangsregierung vornehmlich auf Kabul beschränkt. Ähnlich könnte es auch im Irak geschehen. Das von der Bush-Regierung mit dem Sturz von Hussein intendierte Vorbild für den Nahen Osten könnte dann in eine unerwünschte Richtung weisen. Demonstriert würde, dass die islamistischen Extremisten sich durchsetzen können, dass Zentralmächte von Washingtons Gnaden keine wirkliche Chance besitzen und dass die Zukunft den islamistischen und von Männern dominierten Gotteststaaten oder -stadtstaaten gehört, in denen die besseren westliche Werte keine oder nur wenig Geltung gegenüber dem religiösem Fundamentalismus haben. Das wäre ein grandioses Ergebnis des Kreuzzuges von Bush und Co., das aber immer realistischer aussieht, weil die US-Politik diesen religiös-fundamentalistischen Widerstand geradezu befördert. Vermutlich könnte auch die UN, sofern die Bush-Regierung oder vielleicht auch später die Kerry-Regierung dies wirklich zuließe, nicht viel daran ändern. Die UN wurde von der US-Regierung zum Popanz gemacht und würde, falls sie als Lückenbüßer die Verantwortung für die von der US-Regierung verkorkste Lage übernehmen sollte, wohl auch zu Recht als Lakai von Bush betrachtet.