Nährwert statt Mehrwert

Die strukturelle Krise in der Agrarwirtschaft zwingt Regierungen in Lateinamerika zum Umdenken, zum Beispiel in Argentinien

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In Haiti ist Mitte April dieses Jahres die Regierung wegen Hungerrevolten (vgl. Hunger, soziale Aufstände und Business) gestürzt worden. Mexiko, das sich noch vor wenigen Jahrzehnten selbst versorgt hat, ist nach Einschätzung der Vereinten Nationen wieder von Hunger bedroht. In Lateinamerika und der Karibik gibt es kaum ein Land, dessen Stabilität von den steigenden Lebensmittelpreisen nicht betroffen ist. Nun werden in der Region erste Gegenstrategien entwickelt. Angesichts der drohenden Katastrophe setzen die Regierungen zunehmen auf staatliche Regulation. Dabei müssen sie sich zum Teil auf die erbitterte Gegenwehr von den Nutznießern eines gescheiterten Wirtschaftssystems einstellen.

In der zweiten Märzhälfte fanden in Argentinien die größten Demonstrationen gegen die Regierung seit der Finanzkrise (vgl. Argentinien im Umbruch) im Jahr 2001 statt. Auslöser des Konflikts war eine Steuererhöhung auf Sojaexporte, die von Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner am 11. März bekannt gegeben worden war.

Mit der Maßnahme sollten die Produzenten dazu gebracht werden, den nationalen Markt zu bedienen, statt ihre Produkte zu exportieren. Von den 30 Millionen Hektar Agrarfläche in Argentinien werden immerhin 45 Prozent für Sojaanbau verwendet, 95 Prozent der Produkte werden exportiert. Zugleich steigen im Land die Kosten für Nahrungsmittel.

Dieser Irrsinn entspricht der kapitalistischen Logik: Als der Vorgänger und Ehemann der amtierenden Präsidentin, Néstor Kirchner, im Mai 2003 das Amt übernahm, lag der Preis für eine Tonne argentinischen Sojas bei umgerechnet 225 US-Dollar. Heute sind es gut 500 US-Dollar. Während deswegen immer mehr Anbauflächen für die protein- und ölhaltige Pflanze genutzt werden, geht das Angebot an minder profitträchtigen Produkten zurück.

Abhängigkeit von Soja

Die Präsidentin verteidigte daher ihre Politik. Die hohe Rendite für Soja sei ein Problem, weil sie die anderen Produkte verdränge, sagt sie. Trotz eines landesweiten Streiks der vier größten Bauernorganisationen blieb sie zunächst hart. „Ich lasse mich nicht erpressen“, so Fernández de Kirchner im März. Den Streik der Landarbeiter bezeichnete sie als „Blockade des Wohlstandes“. Die Regierung wolle die Mehreinnahmen aus den Exportsteuern hingegen dazu nutzen, die Versorgungslage im Land zu sichern, hieß es aus dem Regierungssitz, der Casa Rosada. Dabei wurde nicht gekleckert: Die Abgaben für Sojaexporteure sollten von 35 Prozent auf über 70 Prozent ansteigen. Die letzte Anhebung des Abgabensatzes lag gerade einmal vier Monate zurück.

Während die Bauernorganisationen – Kleinbauern ebenso wie industrielle Agrarunternehmen – von „Raub“ sprachen, verteidigte sich Fernández de Kirchner. Auch nach der Einführung der erhöhten Steuersätze sei das Geschäft für die Produzenten durch die immensen Preissteigerungen sogar noch rentabler als vorher. „Bislang konnten sie 237 US-Dollar pro Tonne Soja verdienen, künftig werden es auch nach Steuer immer noch 279 US-Dollar sein“, sagte die Peronistin in Anspielung auf diesen Effekt.

Trotzdem musste die Regierung nach einem fast dreiwöchigen Streik einlenken. Die neuen Abzüge würden nur auf Unternehmen angewandt, die mehr als 500 Hektar bewirtschaften, so das Angebot. Von den 80.000 Agrarunternehmen seien demnach 62.500 von der erhöhten Steuer entbunden. Trotzdem ist der Konflikt nicht ausgeräumt. Bis zum 2. Mai läuft eine Friedenspflicht. Sollte bis dahin kein Kompromiss mit allen Unternehmen gefunden sein, könnten neue Streiks und Straßenblockaden folgen.

Die Tragweite der Auseinandersetzung wird deutlich, wenn man einen Blick auf die Statistik wirft. Rund die Hälfte des Exportwertes des südamerikanischen Landes entfällt nach Expertenangaben auf Agrargüter. Rund 50 Prozent der Agrarexporte wiederum bestehen aus Soja, Tendenz steigend. Bei Sojaschrot und -öl liegt Argentinien auf den Weltmarkt als Exporteur auf dem ersten Platz, bei Saatgut immerhin noch auf den dritten Platz. Während die Produzenten immer größere Profite einfahren, lebt nach offiziellen Angaben ein Fünftel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.

Starker Staat kehrt zurück

Der Streit zwischen Regierung und Bauernverbänden ist eine direkte Konsequenz der Handelspolitik der vergangenen Jahre. Im Rahmen der Liberalisierung der Märkte wurde die argentinische Agrarindustrie immer stärker in den internationalen Markt eingebunden. Und der fordert Soja vor allem für die Produktion des so genannten Biostreibstoffs Ethanol. Dass die nationalen Märkte und die Bedürfnisse der Menschen auf der Strecke bleiben, spielt in der Logik des Marktes keine Rolle. Auf entsprechenden Widerstand treffen die regulierenden Maßnahmen indes bei den Nutznießern der Misswirtschaft. Die Bauernverbände protestieren, weil sie um ihre Einnahmen fürchten. Die Empfängerstaaten widersprechen dem Kurs der argentinischen Regierung, weil ihre Lieferungen auszubleiben drohen.

Tatsache ist, dass die Zeiten der Liberalisierung der Lebensmittelmärkte in Lateinamerika ihrem Ende zugehen. Denn nicht nur in Argentinien besinnt sich die Staatsführung angesichts drohender Preisexplosionen und Versorgungsengpässe auf einen neuen Marktprotektionismus. Auch in Venezuela wird der Lebensmittelmarkt zunehmen staatlich reguliert. In beiden Staaten wird die Belieferung der nationalen Märkte von den Privatkonzernen deswegen zunehmend auch als politisches Druckmittel genutzt. Die Folgen sind paradox: Wer gegen den Ausverkauf der eigenen Nahrungsmittelressourcen vorgeht, dem drohen leere Supermarktregale.

Strukturelle Reformen gefordert

In Argentinien fordern Experten daher nun ein radikales Umdenken in der Agrarpolitik. Juan González, Sekretär des Gewerkschaftsdachverbandes CTA sagt: „Das Produktionsmodell in Argentinien muss grundsätzlich verändert werden“. Mit der Erhebung immer neuer Steuern habe die Regierung vor allem den Widerspruch in der Agrarbranche provoziert, von Kleinunternehmen wie von großen Agrarkonzernen. Doch selbst diese Großkonzerne gehörten nicht zu den Profiteuren der Monokultur, die sich besonders beim Sojaanbau in den vergangenen Jahren durchgesetzt hat. Die wahren Gewinner seien transnationale Konzerne. In Argentinien habe sich ein Produktionsmodell etabliert, „das die Spekulation mit der Ausbeutung und dem Raub der Reichtümer verbindet“, so González. Man müsse deswegen das gesamte Modell zur Diskussion stellen.

„Es ist für uns unerlässlich, wichtig und dringend, eine Agrarreform zu diskutieren und voranzutreiben, die auf Ernährungssouveränität abzielt und die das Konsumverhalten beachtet, denn das derzeitige Produktionsmodell dient einem Konsumgedanken, der uns von den Industriestaaten aufgezwungen wird, der auf Verschwendung basiert und der im Umkehrschluss eine Verelendung in den Erzeugerstaaten mit sich bringt.“

Juan González, Gewerkschaftsverband CTA, Argentinien

Problematisch wird das Sojageschäft auch von Nichtregierungsorganisationen in Europa gesehen. So kritisierte der deutsche Verein Rettet den Regenwald derzeit in Buenos Aires laufende Verhandlungen zur Entwicklung der Soja-Industrie. An dem Runden Tisch, an dem Industrievertreter und Repräsentanten von Nichtregierungsorganisationen teilnehmen, gehe es um die Zertifizierung eines nachhaltigen Soja-Anbaus. Nach Ansicht von Klaus Schenk vom Verein Rettet den Regenwald ist das jedoch eine Illusion. Das geplante Zertifikat für „guten Soja“ ändere nichts an der Tatsache, dass in der Praxis der agroindustrielle Anbau dieser Pflanze nachhaltig nicht möglich ist, „weder unter ökologischen noch unter sozialen Kriterien“. Von Deutschland und den übrigen EU-Staaten fordert Schenck deswegen eine drastische Reduzierung von Soja-Importen zur Tierfütterung und Herstellung von Agrokraftstoffen.

In Paraguay werden nach Angaben der Umweltschutzorganisation jedes Jahr etwa 9.000 Bauernhaushalte vom industriellen Sojaanbau verdrängt, in Argentinien hätten rund 200.000 Bauernfamilien aus den gleichen Gründen ihr Land verloren. Viele von ihnen seien gewaltsam vertrieben worden. „Die massive Erweiterung der Sojamonokulturen auf Kosten traditioneller landwirtschaftlicher Kulturen und natürlicher Ökosysteme sind ein wichtiger Faktor für die weltweit stark gestiegenen Kosten für Grundnahrungsmittel und den Verlust der Ernährungssicherheit“, so Schenck.