Nahost-Proteste an Unis: "Falsch ist es, direkt die Polizei zu verständigen"
Meron Mendel zu den Nahost-Protesten an Hochschulen. Welches Vorgehen er vorschlägt. Und warum er einen offenen Brief für einseitig hält. Ein Telepolis-Podcast.
Noch ist die Situation an deutschen Universitäten nicht mit dem zu vergleichen, was sich in den Vereinigten Staaten abspielt. Dort geraten regelmäßig propalästinensische und proisraelische Demonstranten aneinander. Die Polizei ist im Dauereinsatz, es gibt Festnahmen und Verletzte.
Doch auch in Deutschland spitzt sich die Lage zu. Die Leitung der Freien Universität Berlin ließ ein propalästinensisches Protestcamp von der Polizei auflösen.
Daraufhin stellten sich mehrere Hundert Lehrende an den Berliner Unis hinter die Proteste, forderten den Schutz der Versammlungs- und Meinungsfreiheit, was wiederum von Politikern wie Berlins Regierendem Bürgermeister Wegner und Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger enorm kritisiert wurde. Mittlerweile wurde auch an der Humboldt-Universität ein Institut besetzt – und auf politische Weisung hin geräumt.
Meron Mendel ist Professor für transnationale soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences und Co-Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, ebenfalls in Frankfurt am Main.
Er ist in Israel aufgewachsen, lebt seit rund 20 Jahren in Deutschland. Zusammen mit seiner Frau, die pakistanische Wurzeln hat, setzt er sich für Verständigung vor allem zwischen Juden und Muslimen ein. Und gerade in diesen Zeiten ist er im Dauereinsatz. Dietmar Ringel hat im Telepolis-Podcast mit Meron Mendel gesprochen.
▶ Mit Blick auf die Ereignisse an der FU Berlin haben Sie sich einerseits einen offenen Dialog mit den Protestierenden gewünscht. Sie sagen aber auch, Schluss sei dort, wo zu Gewalt aufgerufen und Terror verherrlicht wird. Was heißt das konkret für die Situation an der FU Berlin? Hätte man Ihrer Ansicht nach die Proteste dort dulden sollen?
Meron Mendel: Gut, ich war nicht vor Ort, und natürlich haben die Uni-Behörden einen besseren Einblick, was gerade dort passiert. Mit meiner Frau war ich erst vor rund zwei Monaten an der FU Berlin, wir haben dort gemeinsam einen Vortrag gehalten. Wir hatten damals auch Gespräche mit Protestierenden, die friedlich verlaufen sind.
Ich gehe davon aus, dass es auch unter den Protestierenden eine Bandbreite von Meinungen und Methoden gibt. In der Regel ist es so, dass eher eine Minderheit radikal ist, zur Vernichtung des Staates Israel und zum Terror aufruft. Genau solche Art von Parolen oder auch Handlungen darf man nicht dulden.
Meinungs- und Versammlungsfreiheit hat Grenzen
Zwar nicht am Campus der FU, aber in Berlin, wurde ja ein jüdischer Studierender krankenhausreif geschlagen, weil er auf der Seite Israels steht. Das darf auch nicht passieren. Insofern, wir haben tatsächlich ein Dilemma, weil die Meinungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit am Campus ganz wichtig sind und geschützt werden müssen.
Auf der anderen Seite muss aber klar sein, dass auch das Grenzen hat, gerade wenn Menschen bedroht werden und ganz spezifisch, wenn jüdische Studierenden das Gefühl haben, sie seien im Campus nicht willkommen und nicht sicher. Da gibt es natürlich die Erwartung, dass die Leitung der Uni etwas unternimmt.
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▶ Ja, aber gerade das ist das Schwierige. Sie waren beim Protestcamp an der FU nicht dabei, ich war auch nicht dabei. Es gibt allerdings eine Reihe von Presseberichten, in denen es heißt, dort seien Rufe erschallt, eine neue Intifada müsse her, also ein Aufstand gegen die israelische Besatzung. Und dann seien dort Zeichen der Hamas gezeigt worden. Und dann stellt sich eben die Frage, ruft man die Polizei oder versucht man, trotzdem zu deeskalieren. Sie sind häufig als Schlichter im Einsatz.
Also wie geht man mit solchen Situationen um?
Meron Mendel: Also erst mal ist der Versuch zu deeskalieren, den Dialog mit den Protestierenden zu führen, absolut die richtige Maßnahme. Falsch ist es, direkt die Polizei zu verständigen, wenn man mit den Protestierenden spricht. Ich gehe davon aus, dass es auch dort eine Mehrheit von Menschen gibt, die solche Aufrufe, wie Sie sie gerade zitiert haben, nicht unterstützt.
Das ist meine Hoffnung. Und wenn es so ist, dann gibt es vielleicht auch die Möglichkeit, dass die Protestierenden das unter sich regeln, dass sie den Kommilitoninnen und Kommilitonen, die solche radikalen, extremistischen Parolen rufen, sagen: Leute, macht das hier nicht.
Durchaus auch Verständis für Uni-Leitung
Aber wenn es doch weitergeht, dann habe ich im Gegensatz zu dem Protestbrief, den Sie eingangs zitiert haben, durchaus auch Verständnis, dass die Uni-Leitung, wenn alle Optionen ausgeschöpft wurden und es keine andere Möglichkeit mehr gibt, dass als allerletztes Mittel dann auch die Polizei verständigt wird.
Und auch hier gilt, da müssen aus meiner Sicht nicht alle Protestierenden das Camp verlassen, sondern nur diejenigen, die tatsächlich zu Gewalt aufrufen, die die Hamas verherrlichen, die zur Vernichtung des Staates Israel aufrufen.
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▶ Noch mal zu diesem Protestbrief. Mittlerweile haben den mehr als 300 Lehrende an Berliner Unis unterschrieben, aber auch über tausend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von anderen Hochschulen, auch außerhalb Deutschlands.
Das ist ein starkes Zeichen. Da steht drin: Studierende nicht der Polizeigewalt ausliefern, vor allem aber das Recht auf friedlichen Protest akzeptieren, Meinungs- und Versammlungsfreiheit gewähren – was ja hohe demokratische Güter sind. Haben Sie Verständnis dafür, dass sich so viele Wissenschaftler mit einem solchen Brief an die Öffentlichkeit wenden?
Meron Mendel: Ich habe Verständnis dafür, dass gerade diese Aspekte, die Sie zitiert haben, erwähnt und betont werden von Lehrenden. Gerade Meinungs- und Versammlungsfreiheit ist ein wichtiger Aspekt dieser Debatte. Was ich aber vermisse, ist, dass gerade von Professoren, von Lehrenden der Uni auch das Spannungsfeld aufgezeigt und das Dilemma der Uni diskutiert wird.
Kritik on offenem Brief von Lehrenden
Und wenn nur eine Seite dargestellt wird, also die Gefahr der Einschränkung der Meinungsfreiheit, aber mit keinem einzigen Wort die Gefahr des Antisemitismus erwähnt wird, mit keinem einzigen Wort die Frage, wie können jüdische Studierende geschützt werden, diskutiert wird, man das schlichtweg einfach ignoriert, sich dazu in dem Dokument kein einziges Wort findet, dann finde ich das enttäuschend.
Das sage ich als Kollege, als jemand, der viele von den Erstunterzeichnern des Briefs nicht nur persönlich kennt, sondern mit ihnen auch befreundet ist. Das ist unterkomplex und steht im Widerspruch zu unserem Anspruch, in der Wissenschaft Komplexitäten zu erkennen und mit komplexen Sachverhalten auch in einer ehrlichen, intellektuellen Art und Weise umzugehen und nicht alles sozusagen ganz banal und einseitig zu behandeln. Und leider ist dieser Brief, wie gesagt, banal und einseitig.
▶ Jetzt ist die Frage, wie geht man damit um? Es gab politische Signale von der Bundesbildungsministerin, von Berlins Regierendem Bürgermeister. Da heißt es, in dem Brief würde Gewalt verharmlost, statt sich klar gegen Israel- und Judenhass zu stellen. Das sieht jetzt sehr nach verhärteten Fronten aus. Lässt man das so stehen, oder sehen sie die Möglichkeit, daraus jetzt noch etwas Produktives zu machen?
Meron Mendel: Wenn man die Reaktionen der Politiker sieht, dann sind sie genau das Spiegelbild des Briefs. Es werden nur der Aspekt des Antisemitismus und die radikalen Auswüchse der Protestbewegung betont. Auch auf der Seite der Politiker findet keine Differenzierung statt.
Einseitiger Blick auf komplexes Geschehen
Und ja, beides sehe ich als Teil des Problems und nicht Teil der Lösung. Wir haben auf einer Seite diejenigen, die diesen Brief unterzeichnet haben, die bewusst oder unbewusst einen sehr einseitigen Blick auf diesen komplexen Sachverhalt haben.
Und wir sehen von der Seite der Politiker, der Bildungsministerin, des Regierenden Bürgermeisters, genau das Gleiche auf der anderen Seite. Man schaut nur auf das, was zu seinem eigenen Kram passt. Und was dazu nicht passt, wird einfach ignoriert, aussortiert. Und gerade diese beiden Einseitigkeiten führen dazu, dass wir dann verhärtete Fronten haben, dass die Lagerbildung noch krasser ist und vor allem, dass jeder sich moralisch im Recht sieht und damit meint, noch mehr Recht zu haben.
▶ Man könnte sagen, setzen Sie sich noch mal in den Zug, fahren nach Berlin und schlichten das an der FU. Aber das ist vielleicht ein wenig zu viel verlangt. Deshalb meine Frage: Haben Sie Mitstreiter? Wer unterstützt Sie bei dem Ansatz, solche verhärteten Fronten aufzubrechen, zum Dialog zurückzufinden?
Meron Mendel: Ich muss nicht nach Berlin kommen, um mit Demonstranten zu diskutieren. Wir haben solche Situationen auch hier in Frankfurt. Ich spreche immer aus einer bestimmten Position heraus. Ich bin Israeli, bin in Israel aufgewachsen, war auch in der israelischen Armee.
Appell für Selbstreflexion und Differenzierung
Das war zwar schon vor mehr als 20 Jahren, aber es ist Teil meiner Biografie. Ich bin nicht vom Mond gefallen, und ich bin nicht objektiv. Ich kann mit Ihnen, und das tue ich auch, aus meiner Position heraus sprechen und versuchen, auch bei Ihnen eine gewisse Selbstreflexion und Differenzierung auszulösen. Manchmal gelingt das besser, manchmal gelingt das nicht.
Meine Frau und ich haben das, wie gesagt, schon in der FU gemacht. In dem Vortrag hat das auch funktioniert. Und dennoch wurde ein paar Tage später der jüdische Student Lahav Shapira zusammengeschlagen. Das heißt, es gibt keine Hokus-Pokus-Lösungen.
Vermittlung im Nahost-Konflikt: mühsame Arbeit
Das ist eher eine mühsame Arbeit. Und am Ende reicht eine wirklich kleine Zahl von radikalen Menschen, um das alles in ein schlechtes Licht zu rücken. Wir brauchen tatsächlich mehr Versuche, aufeinander zuzugehen. Dabei kann man sowohl auf propalästinensischer Seite als auch im anderen Lager durchaus auf seiner Position bestehen, allerdings ohne Teil dieses Radikalisierungsprozesses zu werden.
Es ist absolut legitim, viele sagen sogar, es ist notwendig, in dieser Zeit gegen den Krieg zu protestieren. Das sollte auch die Uni-Leitung meines Erachtens klar zum Ausdruck bringen. Es geht nicht um die Ablehnung genereller palästinensischer Solidarität. Es muss klar sein, es geht nur um Gewaltaufrufe, es geht nur darum, dass Menschen, weil sie jüdisch sind oder weil sie Israel nahestehen oder weil sie dort Freunde haben, sich auf dem Campus nicht verunsichert und bedroht fühlen dürfen.
▶ Erwarten Sie auch mehr Engagement von der Politik? Sie haben vorhin gesagt, Sie sehen diese verhärteten Fronten als Folge von Positionen auf der einen wie auf der anderen Seite. Man geht nicht aufeinander zu. Die Politik hat nun mal eine besondere Verantwortung, hier vielleicht auch Wege einzuschlagen, um zu vermitteln, um Gewaltdeeskalation herbeizuführen. Wie bewerten Sie das?
Meron Mendel: Die Politik, das ist immer so ein großes Wort. Aber was die Äußerungen des Regierenden Bürgermeisters und der Bildungsministerin angeht, da vermisse ich doch das grundsätzliche Festhalten an der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, auch in Bezug auf Palästina-Solidarität.
Also eine Palästina-Solidarität darf nicht generell als illegitim und gefährlich dargestellt werden. Das ist erst mal eine legitime politische Position, solange sie nicht in die Verherrlichung von Gewalt, Radikalisierung und Islamismus abdriftet. Und das erwarte ich schon von den Politikern, die sich zu diesem Sachverhalt äußern.
▶ Professor Mendel, wie reagieren denn Freunde, Verwandte, Bekannte von Ihnen auf die Rolle, die Sie spielen? Sie haben ja gerade geschildert, dass Sie viel im Einsatz sind, um zu vermitteln. Da macht man sich ja auch Feinde bei denen, die vielleicht eine klarere Positionierung verlangen.
Meron Mendel: Ich empfinde meine Positionierung als klar. Aber klare Positionierung bedeutet ja nicht, dass man festhält an einem Lager. Wir sind alle Freidenkende. Und gerade in solchen Situationen ist es geboten, dass jeder seine eigene Vernunft zum Einsatz bringt.
Verstand nicht an Mob auslagern
Es hilft nicht, wenn wir unseren eigenen Verstand auslagern – bei bestimmten Gruppen oder bei einem Mob, der zu etwas aufruft oder was auch immer. Ich höre von Freunden oder auch von Leuten, die weniger freundlich zu mir sind, dass sie mich für das eine oder andere verantwortlich machen, dass ich mit meinen Äußerungen angeblich komplett falschliege.
Ich diskutiere gerne mit denjenigen, die das kritisieren. Ich habe auch kein Monopol für die Wahrheit - leider. Insofern geht es weniger um Rechthaberei, sondern es geht um die Bereitschaft, darüber zu diskutieren. Und zwar in einer vernünftigen Form, wo vor allem Argumente und Gegenargumente zählen und nicht diejenigen, die lauter schreien oder es schaffen, dass der andere ausgeladen oder boykottiert wird, oder was auch immer.
▶ Aber das ist ja gerade die Realität an vielen Stellen, dass die Blasen unter sich ganz gut funktionieren, aber ansonsten sich sehr viel Feindschaft aufbaut. Was hören Sie denn aus der jüdischen Community? Gibt es da Leute, die sagen, Sie sind viel zu nachsichtig mit der palästinensischen Seite?
Meron Mendel: Auf jeden Fall. Zum Beispiel, wenn ich sage, dass ich Palästina-Solidarität als legitim und an einigen Stellen sogar als notwendig erachte. Da gibt es natürlich Leute, auch, aber nicht nur in den jüdischen Communitys, die das für falsch halten, die generell in jeder Form von Solidarität mit den Palästinensern eine Art von Verrat am jüdischen Staat sehen.
Das ist eine Position, und die respektiere ich auch. Ich diskutiere darüber mit Menschen innerhalb der jüdischen Gemeinde. Und ich habe auf der anderen Seite vorhin den Brief von Professoren zitiert, mit denen ich zum Teil seit vielen Jahren eine enge Freundschaft habe.
Debatte um unterschiedliche Sichtweisen
Beispielsweise mit Naika Foroutan, vielleicht der Galionsfigur der Unterzeichnenden. Ich bin auch bereit, mit meiner Freundin Naika Foroutan eine harte Diskussion darüber zu führen, warum ich den Brief so einseitig finde. Ich meine, letztlich ist es immer die Frage, ob man diese unterschiedlichen Sichtweisen als Anlass für eine Diskussion, einen Meinungsaustausch nimmt.
Oder ob man sofort, wenn jemand nicht, wie ich denke, sagt: Das ist mein Feind. Das ist das Problem. Wir haben vergessen oder verlernt, wie man über solche Sachen, die sehr emotional sind und vielleicht auch viel Bedeutung für uns haben, streitet, ohne dass der andere gleich zum Feind wird.
Feinde gibt es genug auf dem Schlachtfeld in Gaza. Wir müssen hier in Deutschland eine Form von Diskussionskultur finden, wo wir über solche Sachen als zivilisierte Menschen, die auch selbst denken können, miteinander ins Gespräch kommen.
Dietmar Ringel sprach im Telepolis-Podcast mit Meron Mendel, Professor für transnationale soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences und Co-Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main.