"Neue Blasen stehen vor der Tür"

Seite 5: 5. Die Gründe: Unterschiedliche atlantische Finanzkulturen in Wechselwirkung mit unterschiedlichen Gesellschaftsstrukturen

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Inwiefern?

Benedikter:: Blicken wir zurück: In der neoliberalen Epoche zwischen 1989 und 2007 lag das Gravitationszentrum der weltweiten Kapitalströme in den USA und generell in der anglo-amerikanischen Welt (Wall Street und London). Deren Usancen haben praktisch alle anderen Weltregionen nachgeahmt. Warum aber konnte die Krise gerade in den USA ausbrechen? Und warum ist sie dort bis heute viel hartnäckiger vorhanden? Hat das möglicherweise nicht nur einen Wirtschafts-, sondern einen "größeren" Kulturgrund? Das sollten wir uns endlich ernsthafter als bisher fragen.

Einverstanden. Geben Sie uns Antworten.

Benedikter: Es ist dies: In den USA besteht - wenigstens typologisch und heuristisch besehen - traditionell eine ganz andere Finanzkultur, und damit ein ganz anderer sozio-ökonomischer Gesamtmechanismus als in Europa. Die amerikanischen Banken und Finanzinstitutionen geben im Vergleich mit ihren Pendants in Europa systemisch weit stärker Personalkredite als Realkredite.53 Vereinfachend gesagt gilt: In den USA erhält man zuerst einen Kredit - und zwar einen anteilsmässig meist erheblich höheren als in Europa - ohne Sicherheit, rein im Vertrauen auf eine zukünftig zu erbringende Arbeitsleistung. Dann kauft man mit dem Kredit zum Beispiel ein Auto, dann arbeitet man mit dem Auto, dann zahlt man mit dem Ertrag den Kredit oder zumindest dessen Zinsen zurück. Dabei werden noch während der Rückzahlung der alten Ausstände üblicherweise ständig neue Schulden gemacht. Es ist ein ständiger Kreislauf von Schulden zurückzahlen und gleichzeitig neue Schulden machen.

Hat dieser Kreislauf denn ein Ziel? Ist er auf etwas Bestimmtes hin ausgerichtet?

Benedikter: Nein. Der Kreislauf ist auf kein besonderes Ziel oder Endpunkt hin ausgerichtet. Er ist vielmehr eine Lebensform, eine Seinsform, ein natürlicher Zustand. Er zielt immer, und unablässig immer wieder von neuem, auf eine noch nicht vorhandene Zukunft hin. Diese Zukunft wird als realer als die Gegenwart erlebt, weil in ihr der Fokus des Strebens und der Aufmerksamkeit liegt. In Europa, einschliesslich Deutschland, dagegen ist die Tendenz kulturell eher umgekehrt: Zuerst beweist man die Kreditwürdigkeit oder verfügt über ein Grundkapital oder irgendetwas materiell Verfügbares, dann kauft man darauf aufbauend das Auto, usw. Es geht in Europa also tendenziell um eine Sicherheit, eine Absicherung, die aus der Vergangenheit herkommt. Das, was da ist, ist in Europa das unmittelbar Reale, nicht primär die Zukunft.

Das heisst?

Benedikter: Drei Aspekte: Ausbildung oder Bildung, ein kontinuierliches Einkommen mittels Arbeit und eine feste Anstellung zählen in den USA weit mehr als in Europa. Sie allein sind meist ausreichend als "Sicherheit", da sie Produktivität als in die Gegenwart rückwirkendes "Zukunftskapital" wahrscheinlich machen. Alle drei sind eher Potentialitäten als Realitäten (oder, aristotelisch gesprochen, "Aktualisationen"54). In Europa dagegen muss aus einer Potentialität tendenziell schon etwas "Zählbares", das heisst eine "Aktualisation" hervorgegangen sein, um ausreichende Kreditwürdigkeit zu generieren. Stark vereinfacht und typologisierend gesagt sind die USA systemisch (und wenn Sie so wollen "zivilisatorisch") im Kern eher eine Kultur der Personalkredite - und damit eine Kultur der "subjektiven" Potentialität in die Zukunft hinein. Europa dagegen ist, wiederum stark verkürzt gesagt, eher eine Kultur der Realkredite - und damit der Sicherheit des Vergangenen, der Absicherung durch das bereits Gewordene, durch das "objektiv" Vergangene. In den USA wird die Potentialität des Einzelnen gewissermaßen unmittelbar angesprochen und zur direkten Aktion in die Zukunft hinein freigesetzt, wenn sie vielleicht auch noch nicht wirklich bereit oder "gereift" dafür ist. In Europa dagegen wird sozusagen erst das Reife zukunftswürdig.

Das bedeutet?

Benedikter: In Europa erfolgt ein behutsamer Aufbau, aufbauend auf die Vergangenheit. In den USA dagegen antizipiere ich ständig Zukunft mittels Schulden, und daher ist die Gegenwart immer schon zu einem sehr hohen Maß durchdrungen und erfüllt, ja geradezu besetzt von der Zukunft. In Europa baue ich mir zuerst eine Vergangenheit auf mittels Ersparnissen, um mich zu befähigen, darauf aufbauend erst eine Gegenwart zu gewinnen.

Sie scheinen hier die Begriffe Vergangenheit und Zukunft in Zusammenhang mit Geld allerdings anders zu verwenden, als wir das im Alltag gewohnt sind.

Benedikter: Richtig. Entgegen unserem Alltagsbewußtsein gilt sozio-ökonomisch (und in Wechselwirkung dazu präzise bedacht auch kulturell) besehen: Schulden sind Zukunft, Ersparnisse sind Vergangenheit. Eben in diesem Sinn sind die USA eher eine Schuldenkultur und damit eine Zukunftskultur; Europa ist eher eine Sparenskultur und damit eine Vergangenheitskultur. Das gilt auch noch für die Nach-Finanzkrise-USA und -Europa des Jahres 2011. Beide haben ihre Vor- und Nachteile, Stärken und Schwächen.

Welche?

Benedikter: Der Vorteil der US-Schuldenkultur ist eine im Prinzip systemisch und strukturell stärkere und flexiblere Finanz- und Wirtschaftsdynamik, da der Großteil des Kapitals im Prinzip nicht gehortet wird, sondern ausgegeben wird und also meist "draussen" ist und zirkuliert; der Nachteil die Tendenz zu einem sorglosen Überkonsum auf Kredit. Der Vorteil in Europa ist eine im Prinzip rationalere Balance zwischen Haben und Sein und eine größere Kontinuität und Solidität des Finanz- und Wirtschaftssektors; der Nachteil ist eine geringere wirtschaftliche, soziale, und davon ausgehend auch kulturelle Dynamik. Wirtschaft, Finanz und Gesellschaft sind in Europa weniger stark miteinander verbunden, und die Kultur in Europa ist nicht derart unmittelbar kapitalismusabhängig wie in den USA. Das ist sowohl positiv wie negativ.

Ein Beispiel?

Benedikter: Führende US-Finanzexperten wie Benjamin Jerry Cohen55 oder Michael Milken56, aber auch US-europäische Soziologen wie Jan Nederveen Pieterse57 interpretieren die Folgen der Finanzkrise im Hinblick auf die vor uns liegenden Perspektiven als eine "neue Ausbalancierung zwischen dem globalen Norden einerseits und dem Osten und Süden andererseits"58. Darunter fällt auch das eingangs erwähnte Erstarken Chinas. Zugleich sprechen sie praktisch alle weitgehend übereinstimmend von einem "Anti-Wachstumsvorurteil" ("Anti-Growth Bias") der EU-Zentralbank und der EU-Geldinstitutionen insgesamt. Sie sehen die Tatsache, dass die europäischen Institutionen stärker als ihre US-Pendants auf Sparen statt auf Gelddrucken ohne Grenzen und um jeden Preis zur Anregung der Wirtschaftsdynamik setzen, als wirtschaftsbehindernd. Sie können dies nur aufgrund der ganz anderen dahinterliegenden US-Geld- und Finanzkultur tun, die Geld viel stärker ante factum und als reines Mittel zum "Hereinlocken von Zukunft" benutzt, und für die Geld im Grunde gar nichts bedeutet ausser eine künstliche - und für die meisten Amerikaner durchaus bewußt illusorische - Möglichkeit, einen fliessenden Kreislauf ("flow") herzustellen. Dagegen sehen die meisten Europäer Geld eher als Gut und benutzen es post factum. Für Europa stellt Geld eher eine rationale Repräsentation von Realität dar - einschliesslich geistiger Realität im Sinn eines "Blutes des sozialen Organismus", wie der Sozialkünstler Joseph Beuys es einmal ausgedrückt hat59. Für Europäer sind Kapital und Geld eher die "Aufhebung" eines vergangenen arbeitenden Lebens, das in ihm weiterlebt und weiter produktiv ist.

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